Leo Strauss: Der Schattenphilosoph der Moderne

Athen, Griechenland, Akropolis von athen, Quelle: julianventer, Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig.

Ein Mann tritt aus dem Zwielicht der Gelehrtenstuben, das Gesicht ernst, der Blick nach innen gewandt: Leo Strauss, geboren 1899 in Kirchhain, gestorben 1973 in Annapolis, war mehr als ein Philosoph – er war ein politischer Denker alten Schlages, ein Wanderer zwischen den Welten Jerusalems und Athens, ein metaphysischer Dissident in einer Zeit des nivellierten Denkens.

Strauss war kein Zeitgenosse seiner Zeit, sondern ein intellektueller Exilant, ein geistiger Archäologe, der unter den Trümmern des 20. Jahrhunderts nach den verlorenen Schätzen antiker Weisheit grub. Seine Biografie – vom jüdisch-konservativen Elternhaus über das Studium bei Cassirer, Heidegger und Husserl bis hin zum akademischen Exil in den USA – liest sich wie das Protokoll einer Flucht vor der ideologischen Katastrophe des Jahrhunderts. Doch Strauss floh nicht nur vor Hitler – er floh vor einer Philosophie, die, wie er meinte, ihren Ernst verloren hatte.

Er war, so ließe sich sagen, der letzte Schüler Platons – in einer Welt, die lieber Netflix als Nikomachische Ethik konsumiert. Und wie Platon schrieb auch Strauss für zwei Leser: den einen, der an der Oberfläche fischt – und den anderen, der die verborgene Tiefe sucht.

Ein Denken gegen den Strom

Strauss’ Denken ist ein Aufstand – nicht gegen das System, sondern gegen die Selbstverständlichkeit der Moderne. Für ihn war die Aufklärung keine Lichtflut, sondern ein raffinierter Abstieg in die zweite Höhle: ein Unterkellerungsvorgang des Geistes. Die Philosophie, so Strauss, hat sich selbst verraten, als sie sich mit dem Historismus und dem Positivismus gemein machte, als sie die ewigen Fragen dem Zeitgeist opferte.

Er wetterte nicht wie ein Pamphletist, sondern sezierte wie ein chirurgischer Hermeneut. Die Namen seiner Kontrahenten – Max Weber, Carl Schmitt, Martin Heidegger – liest man bei ihm nicht im Ton des Skandals, sondern der ernsten Auseinandersetzung. Und doch zieht sich eine Linie durch sein Werk: Der Liberalismus, so Strauss, verengt die Politik auf Verwaltung und Recht – er entkernt sie vom Guten, vom Wahren, vom Maßgeblichen.

Die edle Lüge – das aristokratische Prinzip

Strauss war kein Demokrat im hergebrachten Sinne. Seine Philosophie lebt vom Elitären, von der Unterscheidung. Die Wahrheit, so sein Credo, ist nicht für alle – sie ist das stille Privileg der Wenigen. Die Vielen brauchen Mythen. Sie brauchen Religion, Ordnung, eine erdichtete Gewissheit. Hier offenbart sich sein aristokratischer Zug – nicht im politischen, sondern im erkenntnistheoretischen Sinne.

Die berühmte “edle Lüge“, die Platon in der Politeia beschreibt, war für Strauss keine rhetorische Figur, sondern eine politische Notwendigkeit. Der Philosoph hat – wie Sokrates – das Recht, zu schweigen, zu codieren, zu verbergen. Wahrheit, so könnte man sagen, ist bei Strauss kein demokratisches Gut, sondern eine esoterische Pflicht.

Zwischen Jerusalem und Athen

In Strauss’ Welt prallen zwei Grundformen des Lebens aufeinander: das Leben im Licht der Offenbarung und das Leben im Schatten des Denkens. Jerusalem steht für das Gebot, Athen für das Fragen. Beide Formen sind, in ihrer je eigenen Radikalität, unversöhnlich – und doch aufeinander verwiesen. Der Versuch, sie zu synthetisieren, ist für Strauss der gefährlichste aller Irrtümer. Stattdessen: Anerkennung der Spannung. Leben mit dem Paradox.

Der Philosoph, so Strauss, steht unter dem dauernden Verdacht, sich selbst zu überfordern. Denn was, wenn die Offenbarung recht hat? Was, wenn das göttliche Gesetz das menschliche Denken übersteigt? Die Moderne hat, so Strauss, diese Frage nicht beantwortet, sondern verdrängt. Ihre Antwort war ein Achselzucken, ihre Philosophie eine Betriebsanleitung zur Weltbewältigung.

Die politische Philosophie als Letztwissenschaft

Für Strauss ist Philosophie kein akademisches Seminarfach, sondern die Königin aller Fragen – politisch, weil sie das Ganze im Blick hat; aristokratisch, weil sie nicht jedem offensteht. Sein Plädoyer für das antike Naturrecht ist keine Nostalgie, sondern eine Rebellion: gegen den moralischen Relativismus, gegen das dogmatisch gewordene „Anything Goes“ des modernen Liberalismus.

Die Idee, dass es eine objektive Ordnung gebe – nicht im Sinne eines physikalischen Gesetzes, sondern als ethisch-politisches Maß –, zieht sich wie ein roter Faden durch Strauss’ Werk. Politik, so sein Diktum, ist nicht Verwaltung, sondern Urteil. Und Urteil braucht Maßstäbe, keine Meinungen.

Man kann Leo Strauss verehren oder verdammen – aber ignorieren kann man ihn nicht. Seine Schüler – ob in den Bibliotheken Chicagos oder in den Think Tanks Washingtons – tragen seine Ideen weiter, mitunter bis zur Karikatur. Der Vorwurf, Strauss habe die intellektuellen Grundlagen des Neokonservatismus gelegt, trifft ebenso wie die Einsicht, dass Strauss selbst kein Parteigänger war. Er war, wie man sagt, ein Denker – kein Ideologe.

Der Philosoph bleibt. Und mit ihm die Frage, ob nicht doch in jenem alten Gespräch zwischen Platon und seinen Schülern mehr politische Weisheit steckt als in manchem Regierungspapier des 21. Jahrhunderts.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".