In einer Zeit, in der das Wort „Liebe“ mit inflationärer Beliebigkeit über Dating-Apps, Werbeplakate und Popsongs hinweggeschleudert wird, erscheint der Begriff selbst als entkerntes Ornament – ohne Substanz, ohne Tragweite. Es ist diese Entleerung des Liebesbegriffs, der sich Erich Fromm, der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, mit beinahe prophetischer Entschlossenheit entgegensetzt. In seinem Werk „Die Kunst des Liebens“ erhebt er die Liebe zur ethischen Aufgabe, zum Ausdruck eines reifen Charakters – ja, zu einer Kunst, die gelernt, geübt, gepflegt werden muss. Nicht Konsum, nicht Rausch, sondern Arbeit, Mut und Selbsterkenntnis sind ihre Fundamente. Fromms Ansatz ist radikal – nicht weil er provozieren will, sondern weil er zurückführt: zu den Ursprüngen des Menschseins. In der Liebe, so Fromm, verwirklicht sich der Mensch, indem er die Spaltung zwischen Ich und Du überwindet. Liebe ist kein Gefühl, das einem „passiert“ – sie ist eine Haltung, eine aktive Entscheidung, eine Lebenspraxis.
Liebe als schöpferische Kraft
So unterscheidet Fromm verschiedene Formen der Liebe: die erotische Liebe, die geschwisterliche Liebe, die Nächstenliebe, die Selbstliebe und die Liebe zu Gott. Jede dieser Formen verweist auf ein gemeinsames Grundprinzip: die Fähigkeit, das Andere als eigenständiges Wesen zu bejahen und dennoch in Verbindung zu treten – ohne Besitz, ohne Kontrolle, ohne das egoistische Bedürfnis, im Anderen nur sich selbst zu spiegeln. Diese Liebe bleibt ein Akt des Gebens – und dieses Hin-Geben meint nicht Verzicht oder Opfer im asketischen Sinn – vielmehr ist es ein Ausdruck von Fülle. Nur wer bei sich ist, wer sich selbst als wertvoll erkennt, kann wirklich etwas geben. Mit diesem Verständnis von Liebe greift Fromm in die Speichen der christlichen Ethik und Caritas, aber nicht als Theologe, sondern als Humanist. Denn der christliche Liebesbegriff – die agápē, die selbstlose, göttliche Liebe – ist in seiner tiefsten Struktur verwandt mit Fromms Ideal. Auch im „Neuen Testament“ ist Liebe keine Gefühlsschwärmerei, sondern Ethos. „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.“ Und: „Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – diese Doppelgebote der Liebe (Markus 12,30-31) könnten fast von Fromm stammen.
Beide – Jesus von Nazareth und Erich Fromm – stellen das Ich infrage. Sie rufen den Menschen heraus aus der Selbstverliebtheit und führen ihn zur Bejahung des Anderen. Bei Jesus ist die Liebe zugleich Gottes Zuwendung wie auch Forderung an den Menschen. Bei Fromm ist sie anthropologische Notwendigkeit – der einzige Weg, die existenzielle Isolation zu überwinden, in die der moderne Mensch, entfremdet durch Kapitalismus und Narzissmus, geraten ist. Fromm entmythologisiert die Liebe, um sie zu retten. Seine „Kunst des Liebens“ ist eine Absage an Romantik als Ideologie und zugleich ein Appell an den Ernst der Liebe. Denn wo Liebe nicht geübt wird – dort siegt die Angst. Wo sie nicht zur Kulturtechnik wird – dort triumphieren Herrschaft, Abhängigkeit und Konsum.
Liebe als Widerstand gegen Entfremdung
Fromms schärfste Waffe ist seine Analyse des Menschen im 20. Jahrhundert – des „automatischen Konformisten“, der glaubt, er sei frei, während er sich selbst verkauft: auf dem Arbeitsmarkt, in Beziehungen, im sozialen Spektakel. Liebe, so Fromm, wird verwechselt mit Verliebtsein, das nicht auf Dauer angelegt ist. Sie wird zur Ware, zum Tauschgeschäft: „Ich gebe dir Zuneigung, wenn du mir Sicherheit gibst.“ Dagegen setzt Fromm ein Ideal: die reife Liebe, die das Wachstum des Anderen will, ohne ihn zu besitzen.
Diese Reife ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Akt innerer Arbeit – eine spirituelle Disziplin im besten Sinne. Wer liebt, muss zuhören können. Geduld haben. Sich selbst aushalten, ohne in den Anderen zu flüchten. Wer liebt, muss sterben lernen – nicht physisch, aber seelisch: im Loslassen des eigenen Egos.
So zeigt uns Erich Fromm, dass Liebe ist kein Luxusgefühl, sondern eine existentielle Notwendigkeit ist, die sich nicht in Schwärmerei verliert, sondern Verantwortung mit sich zieht und in sich trägt, was sie nicht zu einer bloßenEmotion, sondern zu einer Entscheidung werden lässt, die täglich neu getroffen und errungen werden muss. Gerade hierin liegt seine tiefe Verwandtschaft zum christlichen Liebesbegriff, denn sowohl der im Jahr 1900 in Frankfurt/Main geborenen und 1980 im schweizerischen Muralto verstorbene Psychoanalytiker, Philosoph, Sozialpsychologe, Humanist und Sozialkritiker sowie das Christentum verstehen die Liebe gleichermaßen als Weg, also nicht als etwas, das man hat – sondern als etwas, das man wird. Der Mensch steht für Fromm immer zwischen zwei Möglichkeiten: Produktivität oder Destruktion, Liebe oder Angst. In einer Welt, die allzu oft auf Besitz und Konsum fixiert ist, bleibt die Liebe ein Akt des Widerstands. Und vielleicht – das sei mit Nachdruck betont – ist sie der letzte Weg zur Rettung des Menschen vor sich selbst.
