Simone de Beauvoir – Die Dringlichkeit der Freiheit

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Wenn man in unserer Zeit von Simone de Beauvoir spricht, dann fällt ihr Name oft wie ein Schatten hinter dem gewaltigen Umriss Jean-Paul Sartres. Doch dieser Schatten trügt – oder besser: Er verschleiert, was eigentlich in hellem Licht stehen müsste. Denn de Beauvoir war weit mehr als die Gefährtin des Philosophenkönigs der Existentialisten. Sie war, und das bleibt heute mehr denn je von Gewicht, eine Denkerin der radikalen Freiheit – in einer Welt, die sich zunehmend in Bequemlichkeit und Entmündigung einrichtet.

Denken der Essenz existentiell

Simone de Beauvoirs Denken ist in seiner Essenz existenziell – doch nicht im Sinne einer modischen Attitüde, wie sie heute in Feuilletons oder auf sozialen Plattformen zelebriert wird, sondern im Sinne einer durchdachten, ethisch aufgeladenen Verantwortung des Individuums. Ihre Philosophie, tief verwoben mit jener Sartres, fußt auf der Prämisse, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt ist – und dass er, sofern er diese Freiheit verleugnet, in Unaufrichtigkeit lebt, in „mauvaise foi“, in bösem Glauben.

Doch de Beauvoir geht weiter. In ihrem Hauptwerk „Le Deuxième Sexe“ – „Das andere Geschlecht“ – seziert sie mit chirurgischer Präzision die Konstruktion von Weiblichkeit. „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“ – dieser Satz ist nicht bloß ein Zitat für feministische Flugblätter. Er ist eine philosophische Zündung. De Beauvoir hebt den Vorhang über ein fundamentales Missverständnis: dass das Geschlecht, und mehr noch die gesellschaftliche Rolle der Frau, eine biologische Notwendigkeit sei. Stattdessen zeigt sie, wie tief der Mensch – Mann wie Frau – in kulturellen Narrativen verstrickt ist, wie sehr er sich in der Rolle verliert, die ihm von außen auferlegt wurde.

Beauvoirs Philosophie ist wie ein Manifest gegen jede Form von Fremdbestimmung.

Hier nun zeigt sich ihre eigentliche Aktualität. In einer Gegenwart, in der das Individuum erneut unter Druck gerät – nicht mehr nur von politischen Systemen, sondern von der scheinbaren Alternativlosigkeit digitaler Identitäten, wirtschaftlicher Zwänge, biopolitischer Kontrollen –, liest sich de Beauvoirs Philosophie wie ein Manifest gegen jede Form von Fremdbestimmung. Es ist nicht die bloße Empörung, die ihre Texte antreibt, sondern ein glühender moralischer Ernst: Der Mensch muss sich selbst entwerfen. Er darf nicht zur Sache, zum Objekt degradiert werden – weder durch das System noch durch seine eigenen Ausreden.

Appell an die Handlungsmacht

Und genau darin liegt ihr bleibender Wert: de Beauvoir appelliert nicht an die Opferrolle, sondern an die Handlungsmacht. Sie fordert Verantwortung, nicht Schuldzuweisung. In einer Epoche, die sich allzu gern in den Komfort der Identitätspolitik zurückzieht, erinnert sie daran, dass wahre Emanzipation nicht durch Zuschreibung, sondern durch Transzendenz gelingt. Der Mensch muss sich erheben über das, was ihm an Geschichte, Herkunft, Geschlecht zugeschrieben wird – nicht im Sinne einer Flucht, sondern im Sinne eines aktiven Gestaltens.

Dass de Beauvoir in dieser Hinsicht eine ethische Philosophin war, wird oft übersehen. Ihr Denken wurzelt tief in einer existenziellen Ethik, die den Anderen nie aus dem Blick verliert. „Freiheit ist das Ziel, aber der Andere ist das Maß“ – so könnte man ihre moralische Position zusammenfassen. Sie erkennt: Die eigene Freiheit endet dort, wo sie die des anderen negiert. Damit widerspricht sie dem liberalen Dogma eines rein individualistischen Freiheitsbegriffs – und schafft doch Raum für ein solidarisches Existieren, das nicht auf Zwang, sondern auf gegenseitiger Anerkennung beruht.

Ihre Philosophie ist ein Aufruf, sich nicht zu entziehen

Simone de Beauvoir ist heute lesenswert, weil sie das schwierige Gleichgewicht zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen Individuum und Gesellschaft nicht scheut. Sie bietet keine simplen Antworten, keine ideologischen Rezepte – und genau das macht ihre Texte so herausfordernd. Ihre Philosophie ist ein Aufruf, sich nicht zu entziehen. Wer de Beauvoir liest, kann sich nicht mehr bequem zurücklehnen. Man wird herausgefordert – zum Denken, zum Zweifeln, zum Handeln.

In einer Zeit, die von Plattitüden und Polarisierung überfüllt ist, bleibt sie eine intellektuelle Provokation – und das ist vielleicht das Beste, was man von einem Philosophen sagen kann.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".