Joachim Fest hat seinen biographischen Versuch über Friedrich Sieburg, einen der brillantesten Journalisten seiner Zeit, ein „Porträt ohne Anlass“ genannt. Wer war Friedrich Sieburg? Man glaubt es kaum, aber der lebenslange Frankreichfreund war ein gebürtiger Sauerländer und kam 1893 in Altena in eher bescheidenen Verhältnissen zur Welt. Eventuell ist der Umstand der Geburt auch nicht so erstaunlich, denn es fällt auf, dass der Westfale Sieburg sich nie zur Emigration entschließen konnte und sein eigentlich häusliches Temperament sich zu längeren Auslandsaufenthalten immer wieder erst aufraffen musste. Der konservative Publizist Hans-Georg von Studnitz bezeichnete ihn als „Sinfoniker der Sprache“. In seinem Erinnerungsband „Menschen aus meiner Welt“ weckt Studnitz gleich im ersten Satz Interesse daran, sich mit Sieburg zu befassen: „Friedrich Sieburg zerbrach an zweierlei: an Frankreich, das er wie eine Frau liebte, und an einer Frau, die ihn wie Frankreich verstieß.“
Dieser Satz muss näher erläutert werden. Und vielleicht ist es kein schlechter Ansatz, sich anhand verschiedener Deutungen dieser schillernden Persönlichkeit zu nähern. Einigkeit besteht darüber, dass Sieburg nach dem Ersten Weltkrieg Frankreich für die Deutschen wiederentdeckte. Zeugnis davon lieferte sein berühmtes Buch „Gott in Frankreich“. Immer wieder kam der Autor auf das Nachbarland zu sprechen. Er lebte als Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Paris, war zeitweilig im Diplomatischen Dienst beschäftigt, rezensierte als Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) mit Vorliebe französische Autoren und schrieb Biographien über Robespierre, Chauteaubriand oder Napoleon. Fast alle seine Bücher sind heute vergriffen. Interessenten haben aber im Internet eine gute Chance, an das dementsprechende Material zu kommen.
Bei der Lektüre des knapp zehnseitigen Porträts, welches Studnitz von Sieburg entwarf, fällt auf, dass sich Cecilia von Buddenbrock in ihrem 2007 herausgebrachten Buch (Cecilia von Buddenbrock: Friedrich Sieburg (1893-1964). Ein deutscher Journalist vor der Herausforderung eines Jahrhunderts. Societäts-Verlag: Frankfurt 2007. 312 Seiten, 19,90 Euro) sehr stark an dessen Urteile anlehnt. Zu nennen ist hier die Schilderung seiner zweiten Ehe mit Dorothee von Pückler. Fast hätte die schöne und gesellschaftlich ambitionierte Dame den Frauenfreund Sieburg ruiniert: „Sie blies ihm fast das Lebenslicht aus“. In der Liebe sei sie flatterhaft gewesen, auch nach der Eheschließung mit dem auch nicht gerade uneitlen und sozial hochmütigen Sieburg.
Augenscheinlich war er den Launen dieser Frau hilflos ausgeliefert: „Es kam zu Auftritten, die, von Versöhnungen unterbrochen, die Ehe zerrütteten. Eines Tages setzte Dorothee ihn mit seinen kostbaren Möbeln, seinen napoleonischen Souvenirs, mit Bildern und Büchern in Rübgarten in den Regen“. Es kommt hinzu, dass dem Pariser Gesellschaftslöwen auch noch eine gewisse Nähe zum nationalsozialistischen Regime unterstellt wurde: „Mit dem Zusammenbruch seiner zweiten Ehe, der zeitlich mit der deutschen Katastrophe zusammenfiel, wurde Friedrich Sieburg zum gezeichneten Dulder“.
Mit wesentlich weniger Sympathie geht Joachim Fest in seinem „Porträt ohne Anlass“ mit seinem vormaligen FAZ-Kollegen um. Fest attestiert dem Protagonisten seines Essays, dass er das Frankreich-Bild einer ganzen Generation geprägt habe. Zudem habe er ein feines Gespür für Bewegungen und Tendenzströme der Zeit bewiesen, als er Anfang 1933 eine umfangreiche Betrachtung mit dem Titel „Es werde Deutschland“ veröffentlicht habe. Fest zufolge sei dies mit Sicherheit „kein Produkt jenes scharenweisen intellektuellen Überläufertums“ gewesen, sondern durch seinen „vagen, pathetisch vergrübelten Ton“ gehöre es eher in die Nähe der sogenannten „Konservativen Revolution“.
Sieburg, dem später nicht nur in dem von ihm so geliebten Frankreich nachgesagt wurde, er sei vielleicht kein Nazi, aber ein „hochfeiner Collaborateur“ gewesen, hatte große Angst vor politischer Verstrickung. Dass er während der Hitlerjahre von der „bürgerlich-bescheidenen“ „Frankfurter Zeitung“ ins Auswärtige Amt gewechselt ist, erklärt Fest mit dessen „Bedürfnis nach einem großen Lebensrahmen, nach Auftritten, Kulissen und schönen Umständen“: „Er war und blieb ein Beobachter, und von allen Versprechungen der Macht reizte am Ende ihn weniger, was man damit anzufangen, als was sie dem Repräsentationsbedürfnis zu bieten vermochte: Privilegien, Würden und einen gute sichtbaren Platz auf der Tribüne.“
Gerade in der Person Sieburgs wird das Dilemma der ästhetischen Existenz in einer „Epoche der moralischen Entscheidungszwänge“ deutlich. Als Schriftsteller hätte er sich noch am ehesten aus allem heraushalten können, als Journalist und Diplomat mit dem Hang zu Höherem musste dies scheitern. Es verwundert daher nicht, dass das Bild Sieburgs auch viele Jahre nach seinem Tod unscharf bleibt. Einfühlsam bringt dies Fest auf die Formel: „Die Vermutung ist nicht abwegig, dass hinter seinem zeremoniellen Gebaren, dem unnachsichtigen Beharren auf Konvention und hoher Etikette, nicht zuletzt der Disziplinierungswille eines äußerst labilen Menschen stand, der sich weder seiner schwer zu zügelnden eruptiven Gefühle noch seiner sentimentalen Stimmungsschübe je ganz sicher war.“
Marcel Reich-Ranicki hat in seinen Lebenserinnerungen ebenfalls über Sieburg geschrieben. Als er in die Bundesrepublik kam und als Literaturkritiker Fuß fassen wollte, war er ein Außenseiter als Pole und als Jude. Sieburg hatte 1956 das Zepter des Literaturchefs bei der „FAZ“ übernommen. Zur damaligen Zeit war er Deutschlands originellster und mächtigster Literaturkritiker. Als betont konservativer Schriftsteller und Journalist „war er ein entschiedener Gegner, wenn nicht ein Verächter der neuen deutschen Literatur“, insbesondere der „Gruppe 47“. Reich-Ranicki schildert seinen Vorgänger bei der „FAZ“ als abwehrenden, eitlen, unhöflichen und arroganten „Herrenmenschen“, der nur einen beschränkten Blick für das damalige literarische Geschehen gehabt habe und ihn mehr „geduldet als gefördert“ habe. Letztlich habe Sieburg sich der hervorragenden Qualität seiner Arbeiten aber nicht widersetzen können, so der spätere „Literaturpapst“ nicht uneitel. Es mag sein, dass einige Intellektuelle an Sieburg genau die Charakterzüge kritisieren, von denen sie selber nicht ganz frei sind. Zumindest äußert sich Reich-Ranicki positiv über die einschmeichelnde Diktion Sieburgs und seinen saloppen Stil.
Etwas distanzierter hat sich der Historiker Hans-Christof Kraus mit dem konservativen Intellektuellen in der frühen Bundesrepublik befasst. „Es gereicht heutiger deutscher Geisteskultur nicht eben zur Ehre, dass eine solch sprachmächtige und stilbildende Persönlichkeit aus dem intellektuellen Haushalt der Gegenwart verdrängt worden ist“, so Kraus in dem Sammelband „Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945“. Selbst seine linken Bewunderer Fritz J. Raddatz und Klaus Harpprecht hätten nach seinem Tod vergeblich versucht, wieder mehr Aufmerksamkeit für den blendenden Stilisten zu schaffen. Kraus plädiert für eine Wiederentdeckung des Autors, da ohne sein Werk ein Bild des deutschen Geisteslebens vor und nach 1945 nicht möglich sei. Die Protagonisten der Gruppe 47, die Sieburg nicht nur literarisch, sondern auch ästhetisch zuwider waren, haben es erfolgreich verstanden, die Kulturgeschichte der frühen Bundesrepublik auch im Nachhinein ganz für sich zu vereinnahmen.
Kraus räumt auch ein wenig damit auf, Sieburg sei völlig unpolitisch gewesen. Sicher, seine Bemühungen, als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich zu gelten, mussten spätestens seit seiner Verstrickung in die politischen Undurchschaubarkeiten der deutschen Besatzung in Paris als gescheitert betrachtet werden. Es gehöre aber zu Sieburgs größten politischen Verdiensten, so Kraus, daß er auch in den fünfziger und sechziger Jahren unbeirrbar auf der Aktualität der deutschen Frage beharrt habe: „(…)Sieburg nahm sich das Recht heraus, sich zum Sprecher derjenigen Millionen von Deutschen zu machen, die von Berlin und vom Erbe Preußens nicht lassen wollten.“
Sieburg war beileibe kein Nationalneutralist und hat auch keine vollständige Rückkehr seiner Landsleute zu jüngst vergangenen Verhaltensweisen gewünscht; trotzdem war er ein Kritiker der jungen Bundesrepublik, die er in einem Kult des Materiellen ertrinken sah. Beim Adenauer-Staat handele es sich ausschließlich um ein Wirtschaftssystem, über das ein wohl funktionierender Staatsapparat gestülpt sei, mokierte er sich beispielsweise. Es blieb nicht aus, dass ihm die „Amerikanisierung“ der deutschen Kultur ebenfalls ein Dorn im Auge war.
Sicherlich ist noch nicht das letzte Wort über Sieburg gesprochen. Der Literaturkritiker Tilman Krause, der über Sieburg promoviert worden ist, schrieb zum vierzigsten Todestag des Publizisten, seine Zeit werde noch kommen: „Eleganz und Charme setzen sich durch“.
Cecilia von Buddenbrock schreibt über Sieburgs Zeit im „Dritten Reich“: „Das war Sieburgs Drama: Die äußeren Umstände hatten sich seinen persönlichen Wünschen entgegengestellt“. Hier finden wir den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit, die vor allem in seiner Egomanie und Eitelkeit zu suchen ist. Der Stil macht den Herrn. Sieburg bekannte seinen Lesern, ihm sei „der Stil, also auch meine eigene Schreibweise, seit je für mich wichtiger gewesen(…)als alle Programme“. Dieser Geisteshaltung verdanken wir einige der schönsten Sätze, die im 20. Jahrhundert in deutscher Sprache geschrieben wurden.
Zeitkritische Essays, die vor über 50 Jahren erschienen sind, müssen nichts von ihrem Reiz und ihrer Aktualität eingebüßt haben. Ein Beweis für diese These ist Friedrich Sieburgs Buch „Die Lust am Untergang“, die vor Jahren in der „Anderen Bibliothek“ bei Eichborn erschienen ist.
Sieburg berührt auf rund 400 Seiten die verschiedensten Themen, denen man sich kapitelweise nähern kann. Der vielschreibende Dandy, Verfasser des sprichwörtlich gewordenen Buches „Gott in Frankreich“, präsentiert sich uns als ein Leidender. Der Großkritiker begegnet den Zuständen in der Bundesrepublik der 50er Jahre mit einem gewissen ästhetischen Ekel. Die Zeit macht ihn geradezu krank, was auch einige Sätze ins Larmoyante abgleiten lässt. Überall sieht er den Kulturhass am Werke, der nichts Weiteres sei „als das Ressentiment gegen jeden Versuch des Einzelnen, Kontur zu gewinnen, ein eigenes Leben zu führen und sich einen Kern zu schaffen, in dem er unangreifbar ist“. Sieburg konnte sozialem Pathos nichts abgewinnen. Sein aufwendiger Lebensstil, seine offene Verachtung für alles Hässliche in Gesellschaft, Musik, Kultur und allgemeiner Lebensart, provozierte seine Gegner, die sich über eine weltmännisch-großbürgerliche Attitüde ärgerten und lustig machten.
Auch der sich Bahn brechende „American way of life“ war ihm ein Dorn im Auge. Aber stärker noch als diese unmittelbaren Einwirkungen der amerikanischen Lebensart (Film, „Bestseller“, Mode etc.) war ihm „die allmähliche Durchdringung unseres Alltags mit einem Amerikanismus, der nur die Oberfläche zu berühren scheint und doch in den Kern geht“.
Die Bundesrepublik galt diesem Konservativen nur als ein Provisorium, ein Zweckverband. Sie habe die Flucht nach Europa angetreten und sei sich der historischen Verluste, die sie erlitten habe, nicht bewusst. Die Annexionen und Verstümmelungen, die den Deutschen im Laufe der letzten Jahrzehnte widerfahren seien, hätten nie die Fantasie oder gar das Gewissen der übrigen Welt in Bewegung gesetzt, „weil wir nicht über ein so eindrucksvolles und – von einem zentralen Punkt aus – gefühlsbetontes Verhältnis zum Territorium verfügen wie manch andere Völker“.
Mit der Gleichgültigkeit, mit der „die“ Bundesdeutschen dem Begräbnis Preußens zugesehen hätten, als ob die Problematik, die dem deutschen Charakter aus dem Wesen Preußens zuwuchs, mit dieser eiligen Einscharrung aus der Welt geschafft worden wäre, konnte er sich schon gar nicht anfreunden.
Am Ende sei Sieburg ausführlich zitiert, denn zum einen gibt dieses Zitat sehr schön die „Stoßrichtung“ des ganzen Buches wieder, zum anderen beleuchtet es ein wenig seine Sprachmächtigkeit:
„Im Deutschen, so glaubte die Welt gestern noch, ist mehr Explosivstoff angehäuft als in jedem anderen Erdenbewohner. Hat sich diese Ansicht geändert, sind beim Anblick des fleißigen und lammfrommen Bundesdeutschen, der sogar den Karneval straff organisiert und wirtschaftsbewusst den Konsum dienstbar macht, der das Wort Europa dauernd im Munde führt, der sich von allen radikalen Lehren abgewandt hat und als weltanschauliche Höchstleistungen im besten Falle die Unterwerfung unter die Autorität der Kirchen gelten lässt, den kein Aufmarsch mit Fahnen mehr aus seinem Wochenendhaus, seinem Faltboot oder Volkswagen herauslocken kann, der nur noch zu den Vertretern versunkener Fürstenhäuser und zu Filmstars aufschaut, der einen harmonischen Bund zwischen Preußentugend und Nackenfett eingegangen ist, der die strategischen Fantasiekarten mit den Atompilzen über Braunschweig und Essen vor dem Schlafengehen studiert, der sich und seinesgleichen für den Untergang bestimmt glaubt und glühend hofft, nichts zur Hintanhaltung der Katastrophe tun zu müssen, der vom Golf von Neapel bis zum Nordkap die schnellsten Wagen fährt, sich in Capri bräunen lässt und an die Menschheit die selige Frage richtet, warum es am Rhein so schön ist, der sich aus Ordnungssinn mit der abstrakten Kunst und dem Nihilismus beschäftigt – sind, so frage ich, beim Anblick dieses Musterknaben, der sich in der Schule der Demokratie zum Primus aufarbeitet, alle Ängste und misstrauischen Befürchtungen verschwunden? Ich antworte, nein.“
