Charles Taylor und das moderne Verständnis von Religion

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Für Rudolf Groß zum 95. Geburtstag

Der folgende Essay entfaltet dieses Verständnis von Religion, zeichnet den Weg nach, den Taylor in seinen Werken „A Secular Age“ und „Sources of the Self“ eingeschlagen hat, und vergleicht ihn mit anderen maßgeblichen Deutungen der Moderne, insbesondere mit jenen von Max Weber, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Am Ende steht die Einsicht, dass Taylors Denken ein post-säkulares Bewusstsein vorbereitet, das sowohl die Errungenschaften der Moderne als auch die bleibende Kraft religiöser Erfahrung in Beziehung setzt. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Es gehört zu den eigentümlichen Paradoxien der Gegenwart, dass die religiöse Frage gerade dort wiederkehrt, wo sie vermeintlich überwunden wurde. Zwischen digitaler Beschleunigung, pluralen Lebensentwürfen und einem säkular geprägten Selbstverständnis meldet sich das Bedürfnis nach Orientierung zurück, und zwar nicht in lauter, programmatischer Form, sondern in jener gedämpften Intensität, die für eine Kultur typisch ist, die den Transzendenzbezug nie vollständig verloren hat. In diesem geistigen Klima wirkt Charles Taylor, geboren am 5. November 1931 in Montreal in Kanada, wie ein feiner Seismograph. Er registriert jene kaum wahrnehmbaren Bewegungen, mit denen die Moderne ihre eigenen Voraussetzungen befragt, und macht sichtbar, dass die Frage nach Sinn und Einbettung nicht verschwunden ist, sondern neue Wege sucht.

Gerade diese Sensibilität für geistige Verschiebungen macht Taylors Werk zu einem der bedeutendsten philosophischen Beiträge der letzten Jahrzehnte. Sein monumentales Buch „A Secular Age“ bildet den Höhepunkt einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Frage, unter welchen Bedingungen der religiöse Glaube in der Moderne überhaupt möglich bleibt. Taylor untersucht nicht lediglich den institutionellen oder soziologischen Wandel religiöser Praxis, sondern beschreibt einen tiefgreifenden Strukturwandel des Glaubens selbst. Die Moderne stellt den Menschen vor die Herausforderung, seinen Platz in einer Welt zu bestimmen, in der der Transzendenzbezug nicht mehr selbstverständlich gegeben ist, sondern erst errungen werden muss.

Taylors Denken bewegt sich dabei im Rahmen einer hermeneutischen Philosophie, die den Menschen als ein Wesen begreift, das sich durch Bedeutungszuweisungen konstituiert. Religion erscheint in dieser Perspektive nicht als ein überholtes, dogmatisches System, sondern als eine umfassende Weise des Weltverhältnisses, in der sich das Selbst mit einem größeren Sinnhorizont verbindet.

Religion als sinnstiftender Horizont des Selbst

Für Charles Taylor beginnt jede ernsthafte Betrachtung von Religion mit der Einsicht, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich selbst nur im Horizont von Bedeutungen versteht. Taylor beschreibt den Menschen als ein „self-interpreting animal“, das seine Identität nicht aus sich selbst heraus erschafft, sondern in der Auseinandersetzung mit Werten, Gütern und moralischen Unterscheidungen gewinnt. Religion ist für ihn daher kein isolierter Sektor des gesellschaftlichen Lebens, sondern ein umfassender Deutungsrahmen, in dem Ursprung, Sinn und Ziel des Daseins in Beziehung treten.

Bereits in seinem Werk „Sources of the Self“ zeigt Taylor, dass moderne Subjektivität trotz ihrer Tendenz zur Selbstbehauptung auf übergeordnete Wertbezüge angewiesen bleibt. Menschen leben nicht nur aus spontanen Neigungen oder rationalen Erwägungen, sondern orientieren sich an „starken Bewertungen“, die eine objektive Qualität beanspruchen. Diese moralischen Unterscheidungen wurzeln in Gutheitsvorstellungen, die den eigenen Horizont übersteigen. Religion vermittelt solche Deutungen in einer Weise, die nicht auf diskursive Begründungen reduzierbar ist.

Religion ist daher keine Ansammlung metaphysischer Behauptungen, sondern Ausdruck eines existenziellen Weltverhältnisses, das die Selbstdeutung des Menschen in ein umfassendes Ganzes einbindet. Sie ermöglicht eine Deutung des Lebens, die über pragmatische oder rein funktionale Sichtweisen hinausgeht. In einer Zeit, in der traditionelle religiöse Ordnungen schwinden, gewinnt diese Funktion besondere Bedeutung, weil der Mensch seinen Platz im moralischen Raum neu bestimmen muss.

Die Moderne als veränderte Konstellation des Glaubens

In „A Secular Age“ legt Taylor dar, warum die Moderne nicht einfach als Epoche des Glaubensverlustes verstanden werden kann. Vielmehr beschreibt er einen tiefgreifenden Wandel der Bedingungen, unter denen religiöser Glaube möglich ist. Um diesen Wandel präzise zu fassen, unterscheidet Taylor drei Bedeutungen des Begriffs „säkular“. Die erste bezeichnet die institutionelle Trennung von Kirche und Staat. Die zweite meint den Rückgang religiöser Praxis. Die dritte, zentrale Bedeutung beschreibt eine kulturelle Situation, in der der Glaube nicht mehr selbstverständlich vorhanden ist, sondern nur eine Option unter vielen.

Der moderne Mensch bewegt sich in einem „immanenten Rahmen“, einer kulturellen Grundvorstellung, die die Welt als vollständig innerhalb immanenter Ursachen und Wirkkräfte erklärbar erscheinen lässt. Dieser Rahmen schließt Transzendenz nicht aus, macht sie jedoch fragil. Der Glaube verliert seine Selbstverständlichkeit und muss sich in einem pluralen Feld von Deutungen behaupten.

Diese Lage ist nicht gleichbedeutend mit religiöser Schwäche. Vielmehr gewinnt der Glaube eine neue Qualität, weil er nicht mehr bloßer Traditionsbestand ist, sondern eine bewusste Entscheidung des Individuums. Taylor erkennt in dieser Entscheidung eine vertiefte Form religiöser Existenz, die gerade durch ihre Kontingenz an Gewicht gewinnt. Die Moderne erzeugt daher nicht nur Zweifel, sondern auch neue Möglichkeiten spiritueller Intensität.

Der Mensch im moralischen Raum: starke Bewertungen und Transzendenz

Taylor geht davon aus, dass Menschen ihre Identität nicht in einem neutralen Raum bilden, sondern in einem Feld moralischer Unterscheidungen, die nicht aus dem subjektiven Willen hervorgehen. Diese grundlegenden Werturteile nennt er „strong evaluations“. Menschen beurteilen Handlungen, Lebensformen und Haltungen nicht nur danach, was sie persönlich bevorzugen, sondern danach, ob sie ihnen als wahrhaft gut oder verwerflich erscheinen.

Religion spielt in diesem moralischen Raum eine besondere Rolle, weil sie jene Werte artikuliert, die das Selbst auf eine Transzendenz hin öffnen. Sie ermöglicht eine existenzielle Ausrichtung, die über die Grenzen rein immanenter Maßstäbe hinausweist. Für Taylor bleibt das moderne Selbst unvollständig, wenn es diesen Bezug verliert. Die moderne Tendenz, die Welt vollständig immanent zu deuten, führt nicht zu größerer Freiheit, sondern zu einem Verlust der Tiefendimension menschlicher Erfahrung.

In dieser Perspektive ist Religion eine Resonanzfigur, die menschliche Erfahrungen wie Dankbarkeit, Schuld, Hoffnung und Ergriffenheit in eine Form bringt, die die alltägliche Wirklichkeit übersteigt. Sie verleiht diesen Erfahrungen eine ontologische Grundlage, ohne sie auf rationalistische Begründungen zu reduzieren.

Identität als Orientierung in einem Raum des Sinns

Ein zentrales Kapitel in Taylors Denken betrifft sein Verständnis von Identität. Identität entsteht in seiner Auffassung nicht durch innere psychologische Kontinuität, sondern durch die narrative Einbindung des eigenen Lebens in einen Horizont von Bedeutungen. Ein Mensch weiß, wer er ist, indem er sich darüber klar wird, wofür er lebt und auf welche Güter er sich ausrichtet.

Diese Form der Identitätsbildung setzt einen kulturellen und moralischen Rahmen voraus, der es dem Individuum ermöglicht, sein Leben als sinnvoll zu deuten. Religion nimmt in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle ein, weil sie jene Güter sichtbar macht, die nicht aus der Immanenz allein ableitbar sind. Sie stiftet eine Form der Orientierung, die das Selbst in eine umfassendere Ordnung einbindet und es davor bewahrt, in der Vielfalt bloßer Optionen zu zerfallen.

Taylor kritisiert die Vorstellung, Identität könne in einer Welt unbegrenzter Wahlmöglichkeiten rein autonom entstehen. Er betont, dass jede Identität auf einem Horizont beruht, der dem Selbst vorausliegt und es zugleich übersteigt. Religion bietet einen solchen Horizont, weil sie das Selbst in Beziehung zu einer transzendenten Ordnung setzt, die nicht aus den Entscheidungen des Individuums hervorgeht.

Taylor und die großen Theorien der Moderne: Weber, Luhmann, Habermas

Taylors Religionsphilosophie gewinnt an Kontur, wenn sie in den Dialog mit anderen einflussreichen Denkern der Moderne tritt. Max Weber beschreibt die Moderne als Prozess der „Entzauberung“, der die religiöse Deutungskraft durch rationales Weltverstehen ersetzt. Taylor bestreitet nicht, dass die Moderne eine neue Form von Rationalität hervorgebracht hat, aber er widerspricht der Annahme, dass damit die religiöse Dimension des Daseins verschwinden müsste. Er zeigt, dass die Moderne vielmehr einen Raum geschaffen hat, in dem religiöse Erfahrung in neuer Weise möglich wird.

Niklas Luhmann interpretiert Religion als ein funktionales Teilsystem der Gesellschaft, das den Umgang mit Unbestimmtem strukturiert. Taylor hält diese Reduktion für unzureichend, weil sie die existenzielle Tiefe religiöser Erfahrung verfehlt. Religion ist für ihn kein bloßer Mechanismus der Sinnproduktion, sondern eine Weise des Weltverhältnisses, die das Selbst in eine umfassende moralische und spirituelle Ordnung einbettet. Jürgen Habermas schließlich erkennt in Religion eine Quelle normativer Ressourcen, die in säkulare Diskurse integriert werden können. Taylor schätzt diese Analyse, aber er betont, dass religiöse Wahrheit sich nicht vollständig in rationalen Argumenten erschöpft. Religion besitzt eine eigene Ausdrucksform, die sich dem rein diskursiven Zugriff entzieht. Diese Vergleiche machen deutlich, dass Taylor die Moderne ernst nimmt, ohne sie zur alleinigen Interpretin des menschlichen Selbstverständnisses zu erheben. Er erkennt ihre Stärken an, lehnt aber ihre reduktionistischen Tendenzen ab.

Die Hoffnung eines post-säkularen Bewusstseins

Charles Taylor gehört zu jenen seltenen Philosophen, die die innere Struktur der Moderne mit nüchterner Klarheit analysieren, ohne sie zu idealisieren oder zu verdammen. So gelingt es ihm, den säkularen Charakter der Gegenwart präzise zu beschreiben und dennoch der religiösen Dimension des Menschen einen legitimen Ort zuzuweisen. Seine Werke „A Secular Age“ und „Sources of the Self“ machen deutlich, dass die Moderne nicht das Ende religiöser Erfahrung bedeutet, sondern deren Transformation. Der Glaube verliert zwar seine kulturelle Selbstverständlichkeit, gewinnt jedoch genau dadurch an persönlicher Tiefe, weil er nicht mehr bloß übernommen, sondern bewusst gewählt wird.

Taylor beschreibt unsere Gegenwart als eine Epoche, in der religiöse Stimmen nicht marginalisiert werden müssen, sondern in einen offenen Dialog mit säkularen Überzeugungen treten können. Er spricht von der Möglichkeit eines post-säkularen Bewusstseins, das sowohl die immanenten als auch die transzendenten Dimensionen menschlicher Existenz ernst nimmt. Dieses Bewusstsein anerkennt dann, dass der Mensch nach Orientierung und Sinn verlangt und dass dieses Verlangen nicht verschwindet, solange Menschen nach dem letzten Grund ihres Handelns und Hoffens fragen.

In dieser Sicht erscheint Religion nicht als Relikt einer überholten Vergangenheit, sondern als bleibende Frage der Gegenwart. Sie fordert das moderne Selbst dazu auf und heraus, sich über seine eigenen Voraussetzungen Rechenschaft abzulegen und die Frage nach Sinn und Ziel des Lebens nicht an äußere Strukturen zu delegieren. Taylors Denken öffnet deshalb einen Raum, in dem sich Selbstdeutung und Transzendenz einander nicht ausschließen, sondern wechselseitig erhellen. Er erinnert daran, dass jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz jene Dimension berührt, in der der Mensch über sich hinauszuwachsen vermag und in Beziehung tritt zu einem Horizont, der seine Möglichkeiten übersteigt.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".