Gießen 29./30. November 2025: Ein Mahnmal der Geschichte und die Rückkehr rechter Gefahr

FCK AfD

 Das Wochenende des 29. und 30. Novembers 2025 wird Gießen nicht nur als Schauplatz einer politischen Veranstaltung in Erinnerung bleiben, sondern als ein Warnsignal für die gesamte Bundesrepublik. Die geplante Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation „Generation Deutschland“ in den Hessenhallen markiert nicht einfach einen weiteren politischen Akt — sie steht symbolisch für die bedrohliche Renaissance rechter Ideologien mitten im 21. Jahrhundert. Diese Entwicklung ist keineswegs zufällig, und um ihre Tragweite zu verstehen, muss man tiefer blicken: auf die Geschichte, auf die gesellschaftlichen Ursachen, auf die Rolle der politischen Akteure und nicht zuletzt auf das kollektive Verhalten der Bürger*innen dieser Stadt.

Vor fast 80 Jahren wählten mehr als 90 Prozent der Einwohnerinnen Gießens die NSDAP — eine erschütternde Zahl, die dokumentiert, wie tief das braune Gift in der Mitte der Gesellschaft damals verankert war. Die NSDAP, deren politische Praxis nicht nur Demokratie zerstörte, sondern millionenfaches Leid und Vernichtung brachte, fand hier breite Zustimmung. Diese dunkle Vergangenheit sollte Warnung genug sein, dass rechte Ideologien keine bloßen politischen Positionen sind, sondern Gefahren für die Menschlichkeit darstellen. Doch die heutige Realität zeigt ein alarmierendes Phänomen: Viele Bürgerinnen scheinen das kollektive Gedächtnis über die Grausamkeiten und den gesellschaftlichen Zerfall vergessen zu haben. Der Alltag mit seinen kleinen Problemen überlagert die Mahnung der Geschichte.

Die alltäglichen Sorgen um wirtschaftliche Stabilität, Arbeitsplätze, die Bequemlichkeit und Routine führen dazu, dass viele die Gefahren rechter Bewegungen unterschätzen oder ignorieren. So beklagen manche nur den Ausfall eines Wochenmarkts während der Proteste gegen die AfD-Jugendorganisation und verlieren aus den Augen, dass gerade solche Bewegungen eine Zerstörung der demokratischen Grundordnung und der gesellschaftlichen Vielfalt anstreben. Das ist eine gefährliche Form der Entpolitisierung. Wo das Bewusstsein für die politischen Zusammenhänge schwindet, können radikale Gruppierungen leichter rekrutieren und ihre menschenfeindlichen Ideologien verbreiten.

Verblüffend ist, dass es gerade die Gewerkschaften sind, vor allem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die sich aktiv und lautstark gegen die Neugründung der AfD-Jugendorganisation in Gießen stellen. Sie organisieren Demonstrationen, mobilisieren breite zivilgesellschaftliche Bündnisse und zeigen, dass gesellschaftlicher Widerstand möglich ist. Dem gegenüber stehen aber die traditionellen konservativen Parteien wie CDU und CSU, die trotz ihres Anspruchs, die Demokratie zu schützen, oft nur symbolisch oder halbherzig reagieren. Ihre politische Zurückhaltung und das Vermeiden klarer, konsequenter Stellungnahmen schaffen ein Vakuum, das von radikalen Kräften gefüllt wird. Diese passiven Reaktionen erschweren es der Demokratie, sich gegen den Rechtsruck zu verteidigen. Denn politische Legitimität entsteht nicht nur durch Wahlen, sondern auch durch klare Abgrenzung von extremistischen Positionen.

Gießen ist keine Großstadt, sondern eine mittelgroße Universitätsstadt mit etwa 90.000 Einwohner*innen. Die Wahl dieses Ortes für die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation ist strategisch: Die Stadt bietet die ideale Mischung aus studentischer Jugend, Mobilität und überschaubaren Sicherheitsbedingungen. Hier kann die AfD versuchen, ihre radikale Jugendarbeit zu professionalisieren, neue Mitglieder zu rekrutieren und sich neu zu vernetzen — alles unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit. Dass gerade in einer Stadt, die einst der braunen Ideologie so offen gegenüberstand, heute erneut rechtsextreme Aktivitäten zunehmen, ist ein Alarmsignal. Es zeigt, dass Geschichte nicht automatisch zu politischer Bildung und Verantwortung führt.

Was lehrt uns die Geschichte? Parteien, die sich als demokratisch geben, können im Moment des Machtgewinns totalitär agieren, wie Hitler, Mussolini oder Franco bewiesen haben. Die AfD steht in einer Tradition, die demokratische Institutionen nicht schützt, sondern untergräbt und Minderheiten angreift. Die Gesellschaft muss sich fragen, warum sie immer wieder zulässt, dass solche Parteien und ihre Organisationen wachsen. Warum reagiert die Bevölkerung nicht entschiedener? Warum übernehmen nicht alle politischen Kräfte Verantwortung, um die Demokratie zu verteidigen?

Die demokratische Gesellschaft darf nicht zulassen, dass Gleichgültigkeit und Passivität den Raum für rechtsextreme Bewegungen schaffen. Gießen muss ein Beispiel für Widerstand sein — ein klares Signal, dass Hass, Ausgrenzung und Menschenverachtung keinen Platz haben. Die Aufgabe liegt bei allen: Bürger*innen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, politischen Parteien und Institutionen. Es gilt, den rechtsextremen Kräften konsequent entgegenzutreten — mit Aufklärung, Mobilisierung und entschlossenem politischem Handeln. Nur so kann verhindert werden, dass die Gräueltaten der Vergangenheit wiederholt werden und die Demokratie in Deutschland weiter erodiert.

Quellen:

  • Bundeszentrale für politische Bildung: „Rechtsextremismus in Deutschland — Geschichte, Ursachen, Gegenstrategien“
  • Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB): Pressemitteilungen und Mobilisierungen gegen die AfD-Jugendorganisation in Gießen
  • Historische Wahlanalyse der NSDAP in Mittelhessen, Landesarchiv Hessen
  • Politikwissenschaftliche Analysen zur Neugründung rechter Jugendorganisationen in Deutschland, u.a. Arbeiten von Prof. Dr. Samuel Salzborn
  • Verschiedene Studien zur politischen Kultur und demokratischen Resilienz in deutschen Mittelstädten
Über Hossein Zalzadeh 22 Artikel
Hossein Zalzadeh ist Ingenieur, Publizist und politisch Engagierter – ein Mann, der Baustellen in Beton ebenso kennt wie die Bruchstellen von Gesellschaften. Zalzadeh kam Anfang zwanzig zum Studium nach Deutschland, nachdem er zuvor in Teheran als Lehrer und stellvertretender Schulleiter in einer Grundschule tätig gewesen war. Er studierte Bauwesen, Sanierung und Arbeitssicherheit im Bereich Architektur sowie Tropical Water Management an mehreren technischen Hochschulen. An bedeutenden Projekten – darunter der Frankfurter Messeturm – war er maßgeblich beteiligt. Seine beruflichen Stationen führten ihn als Ingenieur auch in verschiedene afrikanische Länder, wo er die großen sozialen Gegensätze und die Armut unserer Welt ebenso kennenlernte wie ihre stillen Uhrmacher – Menschen, die im Verborgenen an einer besseren Zukunft arbeiten. Bereits während des Studiums engagierte er sich hochschulpolitisch – im AStA, im Studierendenparlament sowie auf Bundesebene in der Vereinten Deutschen Studentenschaft (VDS) – und schrieb für studentische Magazine. In diesem Rahmen führte er Gespräche mit Persönlichkeiten wie Willy Brandt und Herta Däubler-Gmelin über die Lage ausländischer Studierender. Seit vielen Jahren kämpft er publizistisch gegen das iranische Regime. Geprägt ist sein Schreiben vom Schicksal seines Bruders – Jurist, Schriftsteller und Journalist –, der vom Regime ermordet wurde. Derzeit schreibt er an seinem Buch Kampf um die Menschlichkeit und Gerechtigkeit – ein Plädoyer für Freiheit, Würde und den Mut, der Unmenschlichkeit zu widersprechen.