Ingo Friedrich: Nach den Erfahrungen mit der populistischen Politik: Bekommt die politische Vernunft eine neue Chance?

Deutschlandfahne, Foto: Stefan Groß

Die letzten Jahre waren geprägt von einem Aufbegehren vieler Bürger gegen die Komplexität, gegen die Globalisierung und die Internationalisierung praktisch aller Sachverhalte, ja jeglicher Politik. In der Konsequenz wurden in weiten Teilen der Welt oft populistische Entscheidungen getroffen bzw. autoritäre Politiker gewählt, die eine „Rückbesinnung“ auf das eigene Volk, die eigene Identität und die Wiedergewinnung der Kontrolle über das eigene Territorium versprachen. Dass diese Versprechen in der vernetzten und komplexen Realität des 21. Jahrhunderts nicht eingehalten werden können, erweist sich immer deutlicher und unübersehbar. Ganz im Gegenteil führen die althergebrachten Ego-Rezepte in der Welt von heute ziemlich schnell zu negativen Ergebnissen. Man denke nur an den Brexit, der das über Jahrhunderte „gestählte“ Vereinigte Königreich nahezu ins Wanken brachte oder an die USA, die dabei sind, ihre Weltmachtrolle zu verlieren, oder die Türkei, die vor lauter Egozentrik ihres Präsidenten die Chance einer anerkannten Stabilitätsmacht für den Nahen Osten nicht mehr wahrnehmen kann.

Entsprechend der Erkenntnis, dass wir Menschen oft erst nach gemachten negativen Erfahrungen „klug“ werden, erscheint nun eine neue primär vernunft- und werteorientierte Politik möglich, eine Politik, die Heimat, eigene Identität und eigene Interessen nicht verleugnet aber eben einbindet in die komplexen Zusammenhänge der heutigen Welt. Die viele Menschen bedrängende Flüchtlingsfrage muss durch Begrenzung der Zahlen, effektive Grenzkontrollen und kluge Integrationsmaßnahmen so geregelt werden, dass die Bürger die Handlungsfähigkeit ihres Staates nicht mehr anzweifeln.

Eine dergestalt neue Politik, die mehrdimensional die Erfordernisse und Interessenlage der regionalen, der nationalen und der europäischen Ebene in die Entscheidungen einbezieht und koordiniert, ist auch bitter notwendig. Nur eine derartig mehrdimensionale Politik ist heute noch in der Lage, die großen Probleme wirksam zu lösen bzw. zentrale Verbesserungen und Reformen erfolgreich durchzuführen. Es wäre in unser aller Interesse, wenn nach den durchweg negativen Erfahrungen mit Populisten und autoritären Staatslenkern Vernunft und verstehen bzw. akzeptieren der heutigen Komplexität eine neue Chance in der internationale Politik bekommen würde.

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Über Ingo Friedrich 59 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Seit 1996 ist er Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP), seit 2001 Präsident der Europäischen Bewegung Bayern, seit 2009 Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und seit 2015 Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.