Europa nach der Wahl Macrons – Was läuft eigentlich schief?

Frankreichfahne, Foto: Stefan Groß

Nach der Wahl des überzeugten Europäers Macron ist es höchste Zeit, die Frage zu beantworten, ob und wie wir genau unsere Union vertiefen wollen. Da gibt es eine Menge Klärungsbedarf. Die meisten Menschen meinen, Europa funktioniere deshalb so schlecht, weil die EU-Organe im fernen Brüssel versäumen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wahr ist, dass zwei EU-Organe, nämlich EU-Kommission und EU-Parlament sehr wohl in der Lage sind, zeit- und fristgerecht die notwendigen Entscheidungen zu treffen, weil sie im Zweifel mit Mehrheit entscheiden können. Das gilt nicht für das dritte EU-Organ, den EU-Ministerrat, der nur nach mühsamen, komplizierten Prozessen in der Lage ist, seine europäischen Aufgaben wahrzunehmen. Das liegt keineswegs an der Unfähigkeit der Minister oder Beamten, sondern am Aufeinanderprallen unterschiedlicher Vorstellungen über die richtigen und adäquaten Entscheidungen. Die nationalen Gemeinwohle von noch 28 EU-Staaten stehen sich oft diametral gegenüber. Als Beispiele seien die Finanzpolitik, die Haltung zur Kernenergie oder zur Flüchtlingskrise genannt.

Jede wichtige Entscheidung führt zu zermürbenden, mühsamen und schwierigen Auseinandersetzungen zwischen den nationalen Ministern. Die nach langen Diskussionen letztendlich gefundenen oder zusammengeschusterten Kompromisse werden in den einzelnen Nationalstaaten häufig als von außen oder oben aufoktroyiert verstanden.

Das nationale Gemeinwohl (oder der nationale Egoismus) wird meist als letzter Maßstab verstanden, während doch längst ein europäisches Gemeinwohl als maßgeblich interpretiert werden müsste. Und das europäische Gemeinwohl kann naturgemäß nicht identisch mit jedem nationalen Gemeinwohl sein. Dies zu lernen und zu akzeptieren erfordert eine immense Anstrengung von Bürgern, Politik und Medien. Die Frage stellt sich, wie viel Zeit uns angesichts der jüngsten europäischen und globalen Entwicklungen in Europa bleibt, um diesen Lernprozess zu bewältigen. Ohne diesen Lernprozess werden wir die zukünftigen Herausforderungen nicht bewältigen können. Es ist Eile angebracht, wenn Europa nicht zwischen die Mühlsteine der Supermächte USA und Russland oder der nationalistischen Parteien am rechten und linken Rand geraten will.

 

 

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Über Ingo Friedrich 59 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Seit 1996 ist er Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP), seit 2001 Präsident der Europäischen Bewegung Bayern, seit 2009 Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und seit 2015 Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.

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