Manchen mag aus gegenwärtiger Sicht die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts als heile Welt erscheinen. Tatsächlich standen die Ruinen der Nachkriegsjahrzehnte nicht nur für zerstörte Städte, sondern ebenso für die moralischen und menschlichen Verwüstungen der Gesellschaft durch Nationalsozialismus und Krieg.
Dieter Bongartz furios geschriebener Roman „Vaterland“ führt in dieses vergangene Jahrhundert. Der nette Junge vom Coverfoto des Bucheinbands wird nicht der einzige seiner Generation gewesen sein, der in winzigen Wohnungen den Beischlaf der Eltern erlebte: „…Samstag, der Junge auf der Ritze schläft, so tut als ob er schläft, nichts, alles mitbekommt, sich ekelt, Wozu Menschen fähig sind, selbst scharf wird. lebenslang, frühe Sexualisierung, von diesem atemlos hastigen, ungelenken Stück, das die Eltern aufführen nach der Rückkehr des Vaters vom Ausflug zu Becks Kegelclub..“ Er spürt die Mühen des Vaters, der aus dem Krieg halbseitig gelähmt nach Hause kam.
Dieter Bongartz Roman folgt dem Vater bis in dessen Jugend, als sich der junge stolze SS-Mann von seinen Eltern verabschiedet: „Karl weiß, wie sehr Mutter, Vater sein Tun schmerzt. Aber was zählen schon Eltern, Familie, wo sie heute die Welt aufs Neue vermessen, mit nie dagewesener Entschlossenheit Besitz ergreifen von ihr.“
Der Junge, der den Vater für dessen nationalsozialistische Einstellung verachtete, erkennt am Ende seines Lebens, wie er selbst in der Jugend in den Neunzehnhundertsiebzigern die Welt neu zu vermessen versuchte:
„Freundschaft mit der Sowjetunion – gerechte Gewalt – gerechter Krieg – So! So! So! Alles alles hat einen Platz im kartographierten Bild von der Welt. Die Zuhörer jubeln Ich bin schon da! Immer neue Kaskaden rhythmischen Klatschens, Sprechchöre, kollektiver Orgasmus im Sportpalast, nein Hörsaal 10, die Gewissheit des sicheren Siegs ergibt sich wie Sonne Wind Regen aus den Gesetzen der Dialektik, es geht gar nicht anders, die Lokomotiven der Geschichte brausen voran…“
Mit seinen sieben Drehbüchern für Weihnachtsmärchen der ARD hat der Lyriker und Filmemacher Dieter Bongartz (https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Bongartz) wohl die höchste Reichweite erzielt. Dieses letzte Werk schrieb er in Erwartung seines Todes: „Im Januar erfährt er, da stimmt etwas nicht in seiner Leber, vermutlich, mutmaßlich, sie stechen hinein, sie machen sie sichtbar, sie analysieren Gewebeproben und kommen zum Schluss Todeszelle last exit, Stadium 4 dabei geht es ihm Gold. Keine Symptome. Alles gut…“
Dieter Bongartz findet einen Ton, der an homerische Epen erinnert und in die Geschichte der letzten hundert Jahre hinein zieht. Der MÄRZ Verlag, der in diesem Jahr gleich mit drei renommierten Verlagspreisen ausgezeichnet wurde, verlegt dieses Buch nun zehn Jahre nach dem Tod von Dieter Bongartz.
Mit Sexfront, Acid oder Bernward Vespers „Die letzte Reise“ hat der MÄRZ Verlag immer wieder Schlüsseltexte der längst alt gewordenen Achtundsechziger veröffentlicht. Aber dieser Roman „Vaterland“ ist viel mehr als eine Generationen-Erzählung, er handelt von Deutschland und gewinnt in dieser Zeit schnell und weltweit wachsender Hegenomie autoritärer Vorstellungen eine beunruhigende Aktualität, die der Schriftsteller nicht ahnen konnte.
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