Im Wildwuchs der Geschichten – Zu Alexander Kluges Geburtstags-Lesung in den Münchner Kammerspielen

Foto (Hans Gärtner) Claus Philipp, Hannelore Hoger und der Jubilar Alexander Kluge auf der Schauspielhaus-Bühne, kritisch beäugt von Richard Wagner

Es dauert, bis man eingelassen wird. Schon 11.10 Uhr – und alles wartet im Foyer der Münchner Kammerspiele noch immer. Ein kleiner grauhaariger Herr im grauen Alltagsanzug, Strickjacke unterm Jackett, schwarzer Mundschutz, streift durch die Gänge, grüßt freundlich da und dort, lächelt, winkt von ferne Bekannten zu. Er ist`s. Alexander Kluge. Münchens Vorzeige-Universalgenie. Der Jubilar, der morgen, am Valentinstag 2022, 90 Jahre alt wird. Der sich offenbar hocherfreut zeigt, dass so viele Besucher zu seiner Lesung gekommen sind.

Das sagt er dann auch zweimal von der Bühne herunter: anfangs, als sich endlich alles einfand im Parkett und auf den Rängen, und am Ende, als man dem unglaublich fitten Mann mit den leuchtenden Augen mit Standing Ovations dankte und Glück wünschte. Ein DIN-A-4-Blatt bekam man als „Programm“, dazu vier Blätter, von Jonathan Meese als Geburtstagsgaben gestaltet. Die drei an der Matinee Mitwirkenden bestritten diesen Vorabend bereits mit: Schauspielerin Hannelore Hoger, Pianist Sir Henry und Moderator Claus Philipp.

Anlass der Sonntagsveranstaltung: das Erscheinen des jüngsten Kluge-Publikation: „Das Buch der Kommentare“. Es führe, wie im Programm zu lesen, „weit zurück in die Bibliothek von Alexandria und in die mittelalterliche Scholastik“ – von wo aus es „in die Jetztzeit“ ginge. So eng an die Programm-Vorgabe hielt sich denn, wie zu erwarten war, der Autor nicht. Er hatte vor, pandemisch geleitet, über die Zerbrechlichkeit des Menschen, sein „Selbst“, sein „Ego“ und sein „Ich“ zu reden. So sicher war er sich sichtlich nicht; blätterte er doch immer wieder in seinen Papieren, zeigte Kleingedrucktes in früheren Büchern, ließ Minutenfilmchen ablaufen, Helge Schneider übers Lesen reflektieren, Sir Henry am Flügel wunderschön spielen und dazu unmerklich eins von Mahlers Kindertotenliedern und aus Verdis „Attila“ zu singen. Kluge erzählte nicht linear, sondern nach Art von „Kommentaren“, die für ihn „Bergwerke, Katakomben, Brunnen, die stollenartig in die Tiefe graben“ sind und ließ nicht ab, an die Halberstädter Kindheit zu erinnern, an  seine und seiner Eltern Rettung aus dem Bombenregen . . .

Man bekam zwei Stunden spontane Gedankensplitter und Assoziatives mit, was man sich selbst zusammenfügen musste, aus schon bei Kluge Gelesenem und aktuell Gehörtem – über Mythen, Mittelalter-Schwärze, Zirkus-Verbrechen an den Tieren, über Hagen von Tronje oder Troja, dem Mann der Verlässlichkeit oder den 1968er Erfolgsfilm „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Die Hoger, die Kluge seither nicht mehr aus seinem Leben wegdenken kann, kommentierte die „Kommentare“ ihres Freundes gerne mit einem kleinen spöttischen Lächeln. Fand dann doch immer den gesuchten Text, den sie lesen sollte – und schaute mittendrin mal über die Schulter, um auf der Leinwand das mitzukriegen, was zum wiederholten Male optisch in stehenden oder laufenden Bildern ablief: zu Richard Wagner, Habermas, bewaffneten Hasen, Opernausschnitten, Walther Benjamin, die „lächerliche Germanenfigur“ Siegfried – Fakten und Fiktionen aus Alexander Kluges Universum. Es geht in wilden und wild wuchernden Geschichten auf, denen der Ariadnefaden fehlt oder vielleicht doch von den einen oder anderen im Publikum, wenn auch nicht purpurrot, aber erkennbar gefunden wurde.

 

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.