Jenas romantische Rebellen – Andrea Wulfs Gruppenporträt

jena stadtzentrum jentower, Quelle: drhorstdonat1, Pixabay License Frei zu verwenden unter der Pixabay-Lizenz Kein Bildnachweis nötig

Die vielfach preisgekrönte deutsche Schriftstellerin Andrea Wulf, 1972 in Indien geboren, lebt seit Jahrzehnten in London. Dort, sagt sie, habe sie ihre „literarische Stimme“ gefunden. Zunächst schreibt sie ihre Texte auf Englisch und lässt sie dann in verschiedene Sprachen übertragen. Im Jahre 2016 erlebte die Autorin mit dem Buch „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ ihren Durchbruch: In 27 (!) Sprachen wurde die Biographie übersetzt. Als Andrea Wulf vor Jahren in Jena auf den Spuren der Brüder Humboldt unterwegs war, stieß sie auf überraschend viele Erinnerungstafeln zur deutschen Geistesgeschichte. Dies war Inspiration für das vorliegende Buch, an dem sie fünf Jahre gearbeitet hat.

Eröffnet wird das Werk über die Jenaer Rebellen mit einem umfangreichen Prolog, der – zur Überraschung des Lesers – autobiographisch einsetzt. Fast unbemerkt wird dieser Einstieg mit einem literarischen Porträt von Caroline Böhmer-Schlegel verwoben, das keines ihrer Probleme und Konflikte der Vor-Jenaer Zeit ausspart. Anschließend führt uns Andrea Wulf zur Gruppe der „fabelhaften Rebellen“, die sich am Ende der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Jena zusammenfanden. Das Buch enthält vier umfangreiche Kapitel mit 20 chronologisch angelegten Unterkapiteln.

Mit zwei Paukenschlägen aus dem Jahre 1794 setzt das Kompendium ein: Zunächst mit dem „Freudigen Ereignis“ des in Jena geschmiedeten Freundschaftsbundes zwischen Schiller und Goethe sowie den ersten Vorlesungen des Philosophen der Freiheit Johann Gottlieb Fichte, den Goethe an die Jenaer Universität geholt hatte.

Mit den Jahren 1805/1806 endet das Werk, mit Schillers Tod und dem „Verstummen Jenas“ – ausgelöst durch den Weggang der für kurze Zeit in Jena wirkenden literarischen und philosophischen Rebellen. Nur Hegel verblieb noch in der Saalestadt, als im Oktober 1806 die napoleonischen Truppen einmarschierten. Das Manuskript seines gerade abgeschlossenen Hauptwerks „Phänomenologie des Geistes“ konnte der Philosoph noch retten. Den „Weltgeist zu Pferde“ hatte Hegel auf der Straße vorbeireiten sehen. Bei Wulf kann man am Ende des Buches erfahren, dass der im Jenaer Stadtschloss residierende Kaiser der Franzosen einmal in Goethes Bett genächtigt haben soll.

Ihr nun vorliegendes Werk, das es bereits als Hörbuch gibt und das in Amerika schon eine beachtliche Resonanz fand, ist schon auf Bestsellerlisten zu finden. Wer aber hat in Deutschland das anspruchsvolle, 526 Seiten umfassende Werk mit immerhin 80 Seiten Quellenangaben bereits  gelesen?

„Fabelhafte Rebellen – Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ nennt Andrea Wulf ihr neues Buch. Bereits im Untertitel ihres ersten Bucherfolgs hat Wulf auf einen anderen „Erfinder“, auf Alexander von Humboldt, verwiesen. Als „ Erfinder des Ich“ sieht Wulf Fichte, welcher schon lange vor den Romantikern in Jena wohnte. Glänzend gewählt ist der Buchtitel: „Fabelhafte Rebellen“. Steht doch „fabelhaft“ für „großartig“ und – im Deutschen –  auch für „erzählenswert“.

Im Jenaer „Professorenclub“ oder im Konzertsaal konnten Besucher in den späten neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in nur einem Raum auf die „besten Köpfe der Nation“ treffen: Die Brüder Schlegel, Novalis, Tieck, die Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, die Humboldt-Brüder, auf herausragende Naturwissenschaftler und Ärzte. Allergrößten Wert legt Andrea Wulf darauf, begabte Frauen jener Zeit aus dem Schatten ihrer Männer zu holen. Auch sie gehören zu den „besten Köpfen“ ihrer Zeit: Dorothea Veit, die Tochter Moses Mendelsohns, Caroline Humboldt und vor allem Caroline Michaelis, die später die Familiennamen ihrer Ehemänner Böhmer, Schlegel und Schelling trug. Caroline war die Seele des (im 20. Jahrhundert zerstörten) Schlegelhauses in der Leutragasse 5. Die seelenverwandte Caroline ist Andrea Wulfs „Heldin“ –  die einzige Frau, die neben Novalis, August Wilhelm Schlegel und ihrem letzten Mann, Schelling, auf dem Cover des Gruppenporträts zu sehen ist. Wer genauer auf den Buchumschlag blickt, erkennt, dass im Hintergrund der Jenaer Markt in historischem Gewand zu sehen ist.

Zwei ganz große Dichter waren schon vor Fichte und den Romantikern in Thüringen ansässig: Schiller und Goethe. Den „mittleren“ Goethe, der eine Generation älter war als die Schlegelianer, kann man schwerlich einen Rebellen nennen. Für die an die Saale gekommenen „Jenaer Freunde“, von denen Wulf immer wieder spricht, war Goethe ein Stern erster Größe. Zum Weltruhm des „Faust“- Dichters hat der Jenaer Dichter-Kreis entschieden beigetragen. Oft ging Goethe mit A.W. Schlegel im Jenaer Paradies-Park an der Saale spazieren, auch um sich über formale lyrische Details auszutauschen. Lange – gerade in der DDR – wurde der Eindruck erweckt, als habe es zwischen Klassik und Romantik eine Mauer gegeben.

Schiller sieht man gemeinhin als Lieblingsfeind, als Prügelknaben der jungen Rebellen. Dabei wird meist vergessen, dass er es war, der den Grundstein für die Jenaer Gruppe gelegt hatte. Den glänzenden und von Schiller gut entlohnten Essayisten und Rezensenten August Wilhelm Schlegel lockte er 1795 nach Jena, um seine Zeitschrift „Die Horen“ zu stärken. Ohne Schlegels Umsiedlung in das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach – „Eisenach“ lässt Wulf durchgehend  weg – wären Caroline, Friedrich Schlegel, Augusts jüngerer Bruder, mit seiner Freundin, der Schriftstellerin Dorothea Veit, nicht in die Saalestadt gekommen. Zu Schiller hingezogen fühlten sich schon vorher die ganz jungen Poeten Hölderlin und Novalis. Der Geschichtsprofessor Schiller war es, der seinen, für die Universität verantwortlichen Freund Goethe auf den hochbegabten Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling aufmerksam gemacht hatte. So wurde der 23-Jährige zum jüngsten Jenaer Professor ernannt. Wenn Schelling Naturphilosophie las, war der Hörsaal übervoll.

Die zunehmende Abgrenzung der Jenaer Gruppe von ihrem Wegbereiter Schiller hängt auch mit dessen verstaubten Frauenbild in einigen seiner Gedichte zusammen. Diese Texte erregten bei den Romantikern Unverständnis und Spott, der sie zu Satiren anregte. Caroline soll bei der Lektüre des Schiller-Textes „Würde der Frauen“ vor Lachen fast vom Hocker gefallen sein. Schiller dichtet:

„Ehret die Frauen! Sie flechten und weben

Himmlische Rosen ins irdische Leben,

Flechten der Liebe beglückendes Band,

Und in der Grazie züchtigem Schleier

Nähren sie wachsam das ewige Feuer

Schöner Gefühle mit heiliger Hand.“

 

Der ältere Schlegel, vormals enger Vertrauter Friedrich Schillers, erwidert:

„Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,

Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,

Flicken zerrissene Pantalons aus;

Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,

Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,

halten mit mäßigem Wochengeld Haus.“ (S. 258/259)

Auch Passagen aus der berühmten Ballade „Die Glocke“ erregten im Freundeskreis Gelächter. Der dünnhäutige Schiller, der gleichermaßen „auszuteilen“ verstand, fühlte sich mehr und mehr isoliert.

Wesentlich an diesem Buch ist, dass die Erzählerin Andrea Wulf die namhaften Dichter und Denker beiderlei Geschlechts auch als Alltagsmenschen vorstellt. So erfährt der Leser beispielsweise, dass A.W. Schlegel – im Gegensatz zu seinem Bruder und dem oft aufbrausenden Fichte in Reiterhosen – stets außergewöhnlich modern gekleidet und bestens frisiert war. Die hochbegabte und hochgebildete Caroline Schlegel, liest man an anderer Stelle, war kein Küchenwunder, sondern ließ für ihre zahlreichen Gäste eher einfache und preiswerte Gerichte servieren. Auch Literaturfehden werden geschildert. Anekdoten, Tratsch und Literatenklatsch kommen nicht zu kurz.

In ihrem Buch, das sich durch eine beträchtliche erzählerische und wissenschaftliche Qualität auszeichnet, wird die Autorin mitunter auch deftig. So schildert sie die Reise A.W. Schlegels von Amsterdam in das 400 Kilometer entfernte Braunschweig zu seiner späteren Ehefrau Caroline Böhmer. Wulf lässt uns an der damaligen Reisekultur teilhaben: „Fremde saßen auf den schmalen Bänken so dicht aneinander, dass sie bei jedem Schlagloch, jedem Stein, jeder Kurve wie Kegel durcheinandergeschleudert wurden. Knie stießen aneinander, Arme berührten sich, Beine schlugen gegeneinander und Körper prallten aufeinander. Im Winter war es in der Kutsche eiskalt, im Sommer wurde die Luft schnell stickig. Man schwitzte, furzte, rülpste, rauchte und aß.“ (S. 96)

Hier ist eine solche Sprache angemessen. Warum greift die Erzählerin indessen anderswo auf Worte wie „Sparringspartner“ oder „Small Talk“ zurück, die so gar nicht in das Milieu der geschilderten Zeit passen ?

Sogar Wetterberichte fügt Andrea Wulf in ihren Text ein, um zu zeigen, welche Tiefpunkte die Jenaer Gruppe mitunter durchlitten hat. „Nach einem ungewöhnlich warmen November wurde es im Winter 1799 so extrem kalt, dass die Freunde in Schals und Decken gehüllt vor ihren Kaminen hockten. Die eisigen Nächte wollten kein Ende nehmen, die Holzvorräte gingen zur Neige und die Stimmung sank weiter. Eingesperrt, ohne Ablenkung von außen, stieg bei allen die Reizbarkeit. Einmal schrie Friedrich Schlegel Dorothea heftig an, weil sie den tieferen Sinn einiger seiner Gedichte nicht sofort verstand.“ (S. 301)

Wulf vermag es, Aspekte der Literatur, Geschichte und Philosophie zu verknüpfen und spannend darzubieten. Ergreifend sind Passagen zu lesen, in denen die Autorin über den Verlust von Menschen spricht: Sophie von Kühn, die Verlobte des Dichters Novalis, starb als junges Mädchen.

Die schlimmste Zeit ihres Daseins durchlebte Caroline Schlegel, als sie ihre erst 19 Jahre alte Tochter Auguste verlor. Dieser Tod führte bei der Mutter zu einer monatelangen tiefen Depression. Das kluge Mädchen Auguste hatte mit Selbstverständlichkeit zu den Jenaer Freunden gehört.

Lebendig ging es in der Jenaer Gruppe zu, die mancher mit einer WG der Jetztzeit verglichen hat. Friedrich Schlegel war schon vor seinem Bruder in Caroline verliebt. Als sich diese dem Philosophen Schelling zuwandte, war Schlegel (Senior) keineswegs am Boden. Längst hatte er sich in die Berliner Schauspielerin Friederike Unzelmann verliebt. Für einen Skandal, der weit über den Jenaer Dichter-Kreis hinausreichte, sorgte Friedrich Schlegel mit seinem Roman „Lucinde“ (1799). In ihm hatte er überdeutlich und leicht erkennbar seine wilden Nächte mit der geschiedenen Dorothea Veit geschildert.

„Nichts in meinem Buch ist erfunden“, tat Wulf am 17. November 2022 bei einer Lesung in der Klassikstiftung Weimar kund. (Ein einziges Mal konnte ich das Wort „vielleicht“ finden.) Tausende Briefe hat die Autorin auch in der Corona-Zeit gelesen und Monate in Archiven gesessen. Weder den Schweiß, noch den geschluckten Staub bekommt der Leser zu spüren. Viele Freunde, Kollegen, Wissenschaftler verschiedener Sparten, Archivare und Stadtführer standen der Schriftstellerin zur  Seite. Auf vier (!) Dankesseiten sind diese aufgelistet.

Die Kulturhistorikerin und Publizistin beschränkt sich selbstverständlich nicht auf scheinbar Nebensächliches, sondern stellt große Themen der Jenaer Jahre in das Zentrum ihres Buches:

Zentrale Thesen Fichtes, die die Schlegels Novalis und vor allem Schelling später weiterdachten, integriert Wulf in die Schilderung seiner Jenaer Vorlesungen. So erfährt der Leser, wie elektrisiert die Studenten auf die Darlegungen zur Ich-Philosophie, die Fichte mitunter schreiend vortrug, reagierten.

„Mein Wille allein mit seinem festen Plane soll kühn und kalt über den Trümmern des Weltalls schweben“.

„Handeln! Handeln! Das ist es, wozu wir da sind.“

„Die einzige Gewissheit“, so verkündete Fichte seinen Studenten, war, dass „die Welt  vom ,Ich‘ erfahren wird.“ Bei Fichte heißt es weiter: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn…“. „Und durch diesen anfänglichen Akt“, setzt Andrea Wulf fort, „entstehe das ,Nicht-Ich‘ – die äußere Welt, zu der die Natur, die Tiere, die anderen Menschen und so weiter gehörten.“ (S. 69)

Späterhin  wird der Atheismus-Streit um den Philosophen, der Impulse der Französischen Revolution aufgenommen hatte, bis zu seiner Vertreibung aus Jena im Jahre 1799 geschildert.

Der Dichter Novalis, der ein besonders gelungenes Kapitel erhält, war oft zu Besuch in der Leutragasse. Neben den Schlegel-Brüdern und Caroline war Novalis regelmäßig Autor des „Athenäums“. In dieser Zeitschrift, von der sechs Hefte erschienen, entwickeln die Rebellen ihr Konzept von moderner Poesie, die sie erstmals „romantisch“ nannten. In seinem 116. Fragment schreibt Friedrich Schlegel eingangs: „Die romantische  Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzten. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff  jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen.“ (S. 202)

Im Jahre 1809 hat A.W. Schlegel in seinem Buch „Über dramatische Kunst und Literatur“ über das Alte und das Neue, das Klassische und Romantische nachgedacht. Die neue Literatur könne auf strenge Regeln, wie sie die Antike vorgibt, verzichten. Die Romantik sei „wild, roh, geheimnisvoll, chaotisch und lebendig. Vielleicht mochte die antike Dichtung einfacher und klarer sein, doch die romantische Kunst sei dem ,Geheimnis des Weltalls‘ näher – sie sei Ausdruck der ,ursprünglichen Liebe.‘ “ (S.183) Da die Romantiker ihre Arbeiten als unabgeschlossene, sich im Prozess befindliche Poesie verstanden, erwies sich das Fragment für sie als adäquate literarische Form.

Shakespeare war für die jungen Jenaer Dichter der „Inbegriff des romantischen Schriftstellers.“ (S.183) So wird die Übersetzung von 16  seiner Dramen nachvollziehbar. Immer wieder werden A.W. Schlegel und Ludwig Tieck in Editionen genannt und Literaturgeschichten gewürdigt. Wulf stellt ausgiebig den Anteil an den Übertragungen heraus, den Caroline erbrachte. Mit ihrem Mann, mit dem sie in einer Zweckehe lebte, hat sie indessen glänzend auch bei diesem Großprojekt zusammengearbeitet. Fast nie wird ihr Name in diesem Zusammenhang genannt. Auch am „Athenäum“ war sie im Hintergrund redaktionell und rezensierend tätig.

Die weltliterarisch beschlagene Andrea Wulf denkt und publiziert europäisch. Dem Leser zeigt sie im Epilog, welche Weltwirkung ihr Stoff, das Leben und Schaffen der Jenaer Freunde, vor allem im anglophonen Kulturkreis hatte und noch immer hat. Hier und da passiert es, dass die Autorin im Text der deutschen Fassung in Fußnoten Sachverhalte erklärt, die der hiesige Kulturbürger kennt. Dies gilt etwa für die knappen Notate zu Goethes „Faust“.

Am Ende des Bandes steht ein dreiteiliger Epilog. Zu Beginn des ersten Parts („Nach Jena“)

platziert Wulf ein Caroline-Zitat aus dem Jahre 1807, das die aktuelle Situation auf den Punkt bringt: „… mein Kummer ist nur, dass sie alle nichts  mehr dichten – jedenfalls hören wir (Caroline und Schelling – U.K.) von den Gesängen nichts.“ (S. 387)

Was ist aus den „Rebellen“ und ihren Mitstreitern geworden? Von geglückten und gescheiterten Karieren ist die Rede, von glücklichen und quälenden Beziehungen, einer Kurzehe, von Wohlstand und Armut, von frühen Toden und langen Lebensläufen, vom Wechsel der Religion und von Reaktionen auf die Umwälzungen Europas durch den Diktator Napoleon.

(Da die Humboldt-Brüder und Hegel nicht eigentlich zu den „fabelhaften Rebellen“ gehörten, bleiben sie im Folgenden unerwähnt. Auch Schiller und Goethe fehlen: Ihre Lebenswege sind dem deutschen Bildungsbürger gemeinhin vertraut.)

–Wulfs „Ich-Philosoph“ Fichte begann 1807 in Berlin seine Vorlesungsreihe „Reden an die deutsche Nation“. Dort plädiert er für ein einheitliches Deutschland und verurteilt Napoleon, den Verräter an den Zielen der Französischen Revolution. Im Jahre 1814 starb er mit 51 Jahren in Berlin an Typhus.

–Zwei Jahre später verstarb Caroline Schlegel-Schelling überraschend während einer Reise – mit nur 46 Jahren. Lediglich sechs Jahre dauerte ihre dritte Ehe, die erste, die sie glücklich erlebte. Eine tiefe Depression ereilte Schelling nach Carolines Tod.

1812 heiratete Schelling die wesentlich jüngere Pauline Gotter, die Tochter von Carolines lebenslanger Freundin Luise. In München und Berlin war der Philosoph, der nur noch wenig publizierte, als Hochschullehrer tätig. Mit 80 Jahren verstarb er in Preußens Hauptstadt.

–A.W. Schlegel  begleitete von 1804-1817 die wohlhabende Madame de Staël, die Verfasserin des berühmten Buches „De l‘ Allemagne“. Nach einer Kurzehe, die 14 Tage hielt, stürzte sich Schlegel 1818 noch tiefer in die Arbeit. In Bonn starb der geschätzte Hochschullehrer im Alter von 77 Jahren.

–Dorothea und Friedrich Schlegel konvertierten 1808 zum katholischen Glauben. Über Jahre lebten sie in Wien – nunmehr in einer unglücklichen Beziehung und unter ärmlichen Verhältnissen. Zuletzt war der Unruhegeist Friedrich Schlegel im diplomatischen Dienst und als Archivar tätig. Der große Denker des Jenaer Kreises – indessen übergewichtig – starb 1829 mit 54 Jahren während einer Reise nach Dresden. Seine Frau starb in der Mitte ihrer siebziger Jahre. Schlegel hinterließ ihr Berge von Manuskripten und gewaltige Schulden.

–Friedrich von Hardenberg, der sich in Jena den Namen Novalis zugelegt hatte, starb 1801 in Weißenfels, mit nur 28 Jahren. Er gilt als „Galionsfigur“ der Frühromantik. Seine „Hymnen an die Nacht“, in denen er an seine frühverstorbene Sophie erinnert, trugen zu seinem Mythos bei. In dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ ist von der vielzitierten „Suche nach der blauen Blume“ die Rede. Dieser zart aussehende, ewig junge, weil früh verstorbene Poet war gleichermaßen Bergbauassessor, auf der Suche nach „Schwarzkohle“ im mitteldeutschen Raum.

Im Epilog des Epilogs (Teil III: „Die Kunst ichbezogen zu sein“) versucht Andrea Wulf – etwas didaktisch – zu zeigen, wo die Grenzen der Ichbezogenheit liegen. Die vordergründige Fixierung auf das Ich, auf den „freien Willen“ könne auch zum Egoismus führen. Anliegen ihres Buches über die „fabelhaften Rebellen“ sei es gewesen, über den hochinteressanten Stoff hinaus, dessen Aktualität zu erfassen. Nochmals kommt Wulf, Fichte zitierend, auf den Beginn ihres Buches zurück. In seiner ersten Jenaer Vorlesungsreihe sagte der Philosoph 1794: „Nur derjenige ist frei, der alles um sich herum frei machen will.“ (S. 414)

Das liebevoll mit historischen, zum Teil kolorierten Stichen und Porträts versehene Buch ist eine einzige Laudatio auf die Stadt Jena und ihre freigeistige Universität zur Goethe-Zeit. Schade nur, dass Jena auf dem Buch-Cover nicht genannt wird. Manch einflussreicher Politiker in Jena hätte Fichtes Wohnhaus, das wir heute traditionell „Romantiker-Haus“ nennen,  jüngst am liebsten weggespart.

Wäre Andrea Wulf nicht eine würdige Kandidatin für den „Caroline-Schlegel-Preis“ der Stadt Jena, auch wenn dieser vor allem Essayisten vorbehalten ist? Einen Ehrendoktortitel der Jenaer Universität, die Schillers Namen trägt, hätte sie für dieses fulminante Buch gleichermaßen verdient.

          „Der Kreis der Jenaer Romantiker hat unserem Verstand Flügel verliehen. Wie und wozu wir diese Flügel nutzen, liegt ganz allein bei uns.“(S. 415)

Andrea Wulf, Fabelhafte Rebellen – Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. Bertelmann, München 2022. 526 Seiten, 30 Euro. ISBN 978-3-570-10396-1

Finanzen

Über Ulrich Kaufmann 34 Artikel
PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.