Russland auf der Suche nach einer neuen Ideologie. Das Forschungsprojekt von Sergej Karaganow strebt dafür nach dem sibirischen Ursprung des Landes. Doch die Allianz mit China wird zur Täuschung. Letztlich bleiben die europäischen Werte der deutschen Klassik. Von Johannes Schütz
Der Filmwissenschafter Alexander Wassiljewitsch Karaganow (Александр Васильевич Караганов) war der Vater von Sergej Alexandrowitsch. Zu seinen zahlreichen Publikationen zählen die Bücher „Über sowjetische Dokumentarfilme“, „Sowjetisches Kino gestern und heute“, „Sowjetisches Kino: Probleme und Suche“, „Artikel über ausländisches Kino“, „Das erste Jahrhundert des Kinos: Entdeckungen, Lehren, Perspektiven“.
Deshalb wird Sergej Karaganow wohl mit dem poetischen Filmopus „Serkalo“ (Зеркало) des russischen Regisseurs Andrej Tarkowski vertraut sein. Darin zeigt Tarkowski auch das kollektive Gedächtnis der Russen seiner Epoche, in einer Szenenfolge aus Filmdokumenten, zu den eindrucksvollen Bildern zählt der Vorfall an der sowjetischen Grenze in Sibirien, eine Masse von Chinesen steht auf einem Feld vor den Wachtürmen und Zäunen des Nachbarlandes, fanatisch schreiend, jeder mit der sogenannten Mao-Bibel, dem kleinen roten Buch des Vorsitzenden, in der über dem Kopf ausgestreckten Hand. Ein russischer Soldat blickt besorgt und ratlos auf die unberechenbare und aufgehetzte Reservearmee der Volksrepublik China.
Die Befürchtung einer chinesischen Invasion gehört zu den schweren Traumata des russischen Volkes. Bis jetzt eine ermste Bedrohung, die von einem wesentlichen Teil der russischen Elite und von Publizisten des Landes mit Sorge betrachtet wird. Auch Karaganow, als der führende Politologe, kann diese Gefahr nicht völlig entkräften, in seinen Beurteilungen der strategischen Lage. So wurde er im Gespräch mit der Wochenzeitung Argumenty i Fakty gefragt, wie seine Aussage zu verstehen wäre, dass Russland von China „vorerst nicht bedroht werde„. Karaganow betonte die aktuelle Allianz mit China, doch er musste gestehen:
„Was jedoch in 10 bis 15 Jahren sein wird, wissen wir nicht“.
(Виталий Цепляев, „Сатанизации вопреки. Сергей Караганов“, Аргументы и Факты, 2021, Nr. 29, 21. 7. 2021).
Somit baut Karaganow seine „neue Weltordnung“ nur auf einen trauten Zeitraum von zehn Jahren. Er geht sogar davon aus, China könne einen „strategischen Fehler begehen und ein Reich der Mitte umgeben von Vasallenstaaten“ anstreben. Dazu erklärt Karaganow, in diesem Fall werde China von Indien, Iran und Türkei „mit enormen Problemen konfrontiert“.Offensichtlich hofft Karaganow, dass China den langen Marsch bis zum Schwarzen Meer und zu den Grenzen der aktuell noch bestehenden Europäischen Union über den Süden des Kontinents nehmen werde.
China bleibt Bedrohung für Russland
Dieser Analyse von Karaganow zum Trotz, erschiene es mir dennoch für China vorteilhafter, das weite Territorium von Sibirien mit reichen Bodenschätzen und sattem Platz für die wuchernde Bevölkerung zu übernehmen, wie schon in den sechziger Jahren angedroht und befürchtet, somit den Angriff direkt auf Russland zu führen.
Wer aber wird Russland dann Unterstützung bieten, wenn die Chinesen mit einem solchen Überfall sich erheben. Die Europäische Union und der von Karaganow verteufelte Westen wird den Russen nicht mehr helfen können, gegen die chinesische Invasion, obwohl dies eigentlich notwendig wäre, um den asiatischen Vormarsch möglichst rasch zu beenden. Aufgrund der jetzt vorgetragenen Pläne und Strategien der russischen Führung wird das Europa des Westens nur beobachten dürfen, wie die Supermacht aus China den russischen Giganten massakriert.
Dazu kommt noch der bizarre Friedensplan, den Karaganow präsentierte, in seiner Formulierung, „für das Territorium, das man die Ukraine nennt“. Demnach solle ein Teil der Ukraine eingegliedert werden in die Russische Föderation, der Rest des Landes soll von Legionen aus Asien kontrolliert werden, die dafür sorgen, dass das Land neutralisiert bleibt. In einem aktuellen Interview für ein Magazin der russischen Politik, das in der Europäischen Union erscheint und Propaganda unverhohlen in der Nachfolge von Sputnik und Russia Today verfasst, bestimmte dazu Karaganow:
„Die Kontrolle über diese Zone erfordert (…) ausschließlich Kräfte aus asiatischen oder afrikanischen Ländern heranzuziehen. Grundlegende Bedingung: Europäische Kräfte sind kategorisch ausgeschlossen“.
(Interview mit Sergej Karaganow, veröffentlicht am 14. 11. 2025)
Das bedeutet eine Stationierung von Truppen aus Nordkorea, China, Vietnam und eventuell weiteren Ländern dieser asiatischen Allianz in Mitteleuropa. Prinzipiell könnte damit auch eine Million asiatischer Soldaten in diesem Gebiet der Ukraine oder in dem angrenzenden Territorium, übernommen durch die Russische Föderation, positioniert werden.
Sicherheit der Europäischen Union fordert Königsberg
Tatsächlich ist die Europäische Union in den Plänen und Prognosen von Karaganow bereits dem Untergang geweiht, wie es in seinen zahlreichen Schriften seit „Russia´s Choice“, 2010 veröffentlicht, von ihm betrachtet und angestrebt wurde. Doch muss Karaganow und der russischen Führung zur Kenntnis gebracht werden, dass auch die Europäische Union ein Sicherheitsbedürfnis kennt und nicht hemmungslos von der asiatischen Entente überrollt werden möchte.
Russische Truppen und Nuklearwaffen in Königsberg bedeuten eine immense Gefahr für Westeuropa. Angesichts der seit Jahren vorgeführten Drohgebärden der russischen Machthaber wäre die sofortige Übergabe von Königsberg eine gut begründete und nachvollziehbare Forderung, die in den Friedensgesprächen für die „neue Weltordnung“ wesentlich sein sollte. Die Gesandten der Europäischen Union dürfen von solchen Verhandlungen nicht ausgeschlossen und ihre Position für ein sicheres Europa nicht ignoriert werden.
Fühlt Russland durch eine Krim in einem westlichen Bündnis sich bedroht und rechtfertigt damit die Annexion der ukrainischen Gebiete, so muss auch die Europäische Union auf den Abzug der Russen aus Königsberg bestehen, es wird dann als freie Republik zu einem Mitgliedsstaat der europäischen Wertevereinigung.
Die Europäische Union ist keine Horde
Die Europäische Union entwickelte und formulierte klare Leitlinien und Werthaltungen, die im Vertrag über die Europäische Union und in der Charta der Grundrechte deutlich zum Ausdruck gebracht wurden. Sollten Fehlentwicklungen oder abweichendes Verhalten auftreten, so werden diese in Europa schonungslos aufgedeckt, in die Debatte gebracht und müssen korrigiert werden. Es ist kein „Wertgeschwätz der Werteunion“, wie es russische Lohnschreiber, offensichtlich als fünfte Kolonne eingesetzt, auch in westlichen Medien, die überrannt und eingenommen werden sollen, ungestraft veröffentlichen durften.
Dennoch begründet Karaganow die Möglichkeit für Russland, den neuen Krieg triumphal zu gewinnen, wesentlich auch mit der Dekadenz der Elite in den Ländern der Europäischen Union und dem Werteverlust der westlichen Kultur. Ganz im Gegensatz dazu würde Russland noch traditionellen Werten huldigen, dazu zählt Karaganow insbesondere Patriotismus, nationale Interessen, Loyalität zum Führer. Die Politik Russlands wäre demnach bestimmt von der Qualität der mongolischen Horde. Darauf müsse Russland sich wieder stärker konzentrieren, durch eine Hinwendung zum sibirischen Ursprung des Landes.
Tatsächlich orientiert die Europäische Union sich nicht an den Grundsätzen von Mongolenhorden. Übrigens, es werden Überfälle solcher Banden auch im Film „Andrej Rubljow“ des für ganz Europa bedeutenden Regisseurs Tarkowski nicht positiv dargestellt. Sie hausten in Russland auf schreckliche Weise. Tarkowski zeigte den Sturm der Horde auf eine Kirche in einem russischen Dorf als abscheulich. Eine Szene zeigt, mit der Kameraeinstellung von außen, den geschätzten Ikonenmaler Rubljow, eine Axt mit der Hand hinter seinem Rücken haltend, wie er den Kirchenraum betritt, der gerade von einem ekelerregenden und primitiven Barbaren, um zu schänden, genommen wurde. Kurz danach tritt Rubljow beruhigt wieder aus der Kirchenpforte, der stürmende Mongole verbleibt im Off.
Filmkultur aus Russland als Wert
Karaganow will den Westen vernichten, mehrere Länder Europas auslöschen, dieses Mal wird es Deutschland nicht mehr geben. Doch wir betrachten inzwischen noch die Werke der russischen Filmkunst. Ich studierte jedes Werk von Tarkowski mehrfach, wurde ich nach meinem bevorzugten Film befragt, so antwortete ich stets „Stalker“ von Tarkowski, eine malerische Bildgestaltung, kontemplative Szenen in langen Einstellungen, ein Fährtenleser führt einen Wissenschafter und einen Autor durch die „Zone“, einem geheimnisvollen Ort, eine filmische Interpretation des Romans der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki.
Andrej Tarkowski aus Russland, Ingmar Bergman aus Schweden, Federico Fellini aus Italien, das sind wohl die drei herausragenden Autoren der europäischen Filmkunst, gemeinsam mit der Nouvelle Vague aus Frankreich mit Truffaut, sein „La Chambre verte“ bewegte mich einst wesentlich zum Studium der Filmwissenschaft, auch Resnais, Rohmer, Louis Malle.
Die russische Filmkultur sollte auch diesen unsinnigen Krieg überstehen, Sergei Eisenstein, der im „Panzerkreuzer Potemkin“ vermittelte, wie die bezaubernde Treppe von Odessa von russischen Soldaten unter Beschuss genommen wurde, mit der berührenden Szene des Kinderwagens, inmitten des Sterbens, der über die Stiegen rollt, allein und ohne Lenkerin, denn die Mutter wurde getroffen zu Tode. Auch „Die Kraniche ziehen“ (Летят журавли) des Regisseurs Michail Kalatosow, der 1957 entstand, zeichnete Bilder eines bedrückenden Krieges, der Hauptdarsteller muss seine Braut verlassen, sein Eichhörnchen, wie er sie zart bezeichnete, er wird in einem Wald erschossen, mit subjektiver Kamera werden seine letzten Eindrücke gezeigt, die Baumwipfel, der Himmel, dann Schnitt. Schließlich einfühlsam „Iwans Kindheit“ von Tarkowski, ausgezeichnet 1962 mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig, mit dem Jungen, der als Späher zwischen den Fronten läuft. Das sollten die Filme sein, die den Vater von Sergej Alexandrowitsch Karaganow für seine Anregungen zu einem neuen russischen Kino inspirieren konnten.
Überlegene Kultur der Elite in der Ukraine
Der Vater von Andrej Arsenjewitsch Tarkowski war bekanntlich der Poet Arseni Tarkowski, den wir in unseren Ländern achten, wie auch die Werke der Dichterin Marina Zwetajewa und der in Odessa geborenen Anna Achmatowa.
Der Sänger Viktor aus Moskau, den ich schon vor Jahren in meinem Heim in Wien beherbergte, in einer Epoche des Friedens, während seiner Auftritte in meiner Stadt, die er mit Vorträgen von Liedern aus Russland erfolgreich besuchte, im Künstlerhaus und in der Alten Schmiede, er schwärmte von der russischen Poesie und erzählte mir mit einem sanften Lächeln, dass sie in seiner Heimat über die große Dichterin gerne nur gefühlvoll betont mit ihrem Vornamen sprechen, „Marina“.
In dieser Weise erklärten mir Ukrainer, bei meinem Aufenthalt in Odessa 2007, dass sie ihre geliebte Ministerpräsidentin Timoschenko, im Unterschied zu mir aus Österreich, ganz einfach „Julia“ nennen. Ich bin der Überzeugung, dass man nicht auf eine Dekadenz des ukrainischen Volkes und eine Minderwertigkeit der ukrainischen Elite schließen sollte, nur weil Timoschenko nicht als Großfürstin betrachtet und geehrt wurde, im Unterschied zu den russisch-mongolischen Bräuchen, die Karaganow in seinen Schriften propagiert.
Wertvakuum in Europa und Russland
Hermann Broch diagnostizierte in seinem Essay „Hofmannsthal und seine Zeit“ ein Wertvakuum, das Wien in der Zwischenkriegszeit erschütterte. Die kulturellen Hochleistungen der Jahrhundertwende, dokumentiert in der Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“, die bis Paris erfolgreich gezeigt werden konnte, wurden durch die Ereignisse des nichtsnutzigen Krieges beschädigt und blockiert. Dennoch waren Wissenschafter, Forscher, Autoren, Künstler in Österreich noch einmal bemüht, bis zuletzt, herausragende Ergebnisse zu erzielen. Trotz aller Schwierigkeiten, immer wieder gestört, durch widrige Belastungen, politisch motivierte Angriffe von Bürokraten, Feindseligkeit gegenüber Geist und Universitäten, Neidanfälle der Spießgesellschaft, jetzt noch bedroht durch die Vernichtung, die Politikberater aus Russland ankündigen.
Doch ist das Wertvakuum kein österreichisches Spezifikum, es trifft auch auf Erfahrungen in Russland zu, nachdenklich gezeigt von Literaten, von Dostojewski in seinen „Dämonen“, von Tschechow im Drama „Drei Schwestern“, auch von Bulgakow in „Meister und Margarita“. Es werden Angriffe auf die sozialen Normen thematisiert, die die Grundlage für das menschliche Zusammenleben darstellen. Auch Karaganow muss in einem Forschungsbericht, im Unterschied zu seinen sonstigen Schriften, die aktuellen Schwächen des russischen Systems gestehen, dazu zählen die Korruption der Elite und die Bürokratie.
(Sergej Karaganow: „Introduction. The Accomplished Turn“, Toward the Great Ocean – 5: From the Turn to the East to Greater Eurasia, Ed. Sergej Karaganow, Moskau, 2017, S. 6)
Karaganow klagt den Westen an, für ungezügelten Konsumrausch. Doch wie steht es mit der Kauflust der russischen Elite, mit ausschweifendem Wodkatrunk und Alkoholproblemen der breiten Bevölkerung, mit auf der Straße und in leerstehenden Fabriken lebenden drogenkranken Jugendlichen, mit dem Entertainment in der „Russendisko“, die im Westen sprichwörtlich wurde. Auch in Russland werden, trotz der traditionellen Achtung familiärer Werte, noch immer zahlreiche Ehen geschieden, es werden Unternehmen gewaltsam enteignet und übernommen.
Russischer Präsident zeigt Lust am Konsum
Auch das Image, das für Präsident Vladimir Putin gebaut wurde, bietet dabei kaum ein neues Leitbild, sondern bestätigt den russischen Drang nach leidenschaftlichem Konsum und Zerstreuung. Auf seiner persönlichen Website werden ausführlich alle Autos vorgestellt, die Putin seit seiner Jugend besitzen konnte. Es begann bereits in seinem dritten Jahr an der Universität mit einem Lada Kalina, es folgte ein Volga, Niva, schließlich 2018 die Luxuslimousine Aurus, der russische Rolls-Royce.
Höhere Werte einer Verbundenheit mit der Natur suchte Putin in Österreich, der zweifache Weltcupsieger Karl Schranz zeigte dem russischen Führer im Skiort St. Anton, wie er mit zwei Brettln gefühlvoll über den Schnee gleiten kann. Doch wie wird dies von der Propaganda in Moskau vermarktet, hier wird Skifahren als Sport der Elite verstanden, zitiert wird der, in der österreichischen Skination unbekannte, russische „Skimeister“ Leonid Tjagatschew, der bewundernd bezeugen möchte, dass Putin „einen Berg mit sehr hoher Geschwindigkeit hinabfahren könne„.
Die Leitbilder im Europa des Westens sind inzwischen Wandern in gesunder Natur und vegane Ernährung. Die umweltbewusste Jugend bevorzugt E-Autos, lehnt Verbrennungsmotoren ab, will das Klima schützen. Skilifte wurden längst zu Feindbildern, wer in Tirol ein echter Mann sein will, der geht zu Fuß auf den Berg, die beiden Ski geschultert, nur so darf die Abfahrt durch den Tiefschnee ehrlich genommen werden.
China als Reich der Täuschung
Doch welche Werte erwartet Karaganow bei seiner Liebesbeziehung mit China. Sun Tsu entwickelte im „Buch vom Kriege“ als Kern aller Strategie (in der Übersetzung von Samuel B. Griffith): „All warfare is based on deception. Therefore,when capable, feign incapacity; when active, inactivity“. („Jede Kriegsführung beruht auf Täuschung. Wenn fähig, täusche Unfähigkeit vor, wenn aktiv, dann Inaktivität).
In China gibt es eine alte Tradition für die Aufnahme von Beziehungen. Vorgeschickt wird erst Dui, die Lustige, als die jüngste Tochter, die betörend Lachen und Scherz bringt, doch folgt hinter ihr Dschen, der Schreckliche, als der älteste Sohn, der dann mit Erschütterung und Donner eindringt. „Nur durch Dienen kommt man zum Herrschen“, wird dazu in der Übersetzung des deutschen Sinologen Richard Wilhelm vermittelt, für das Zeichen Sui des I Ging, des chinesischen Buches der Wandlungen. Es könnte mit Eindringen erklärt werden, Karaganow sollte dieser bewahrten Strategie der Chinesen sich bewusst sein, bei seinem Verhältnis mit dem Reich der Wende, zuerst wird in einem solchen Schelmenstück freudig Anpassung signalisiert, damit zu nachlässiger Haltung verführt und betäubt, um dann die Macht mit brutaler Gewalt und frech zu übernehmen.
In der Kampftechnik des chinesischen Wushu, die wir in Wien als Dong Feng erforschten, als Sturm aus dem Osten, wird Täuschung durchaus als höchste Meisterschaft zelebriert. Der Krieger des Wushu setzt Finten, als würde er mühsam, auf einen Stock gestützt, seinen Weg gehen, um tout à coup und überraschend, in bester Verfassung, leicht springend, einem Kontrahenten mit voller Wucht von unten gegen das Kinn zu treten, bei ungehemmter Attacke müsste dabei das Genick brechen.
Karaganow erwartet, dass in der „neuen Weltordnung“ nicht nur Thukydides und Macchiavelli gelesen werden, sondern auch der chinesische Stratege Sun Tsu.
(Karaganow, Sergej, „The new Cold War and the emerging Greater Eurasia“, Journal of Eurasian Studies, Jg. 9, H. 2, Juli 2018, S. 85 – 93)
Demnach schätzt Karaganow die Schrift von Sun Tsu höher, als die Werke von Dante Alighieri und Shakespeare. Doch wurde „Das Buch vom Kriege“ von Sun Tsu im Westen schon von Legionen eifrig studiert, insbesondere von Managern, die mit solchen Strategien ihre Unternehmen erfolgreicher führen wollen. Eventuell muss Sun Tsu in Russland diesbezüglich noch entdeckt werden, doch ist Karaganow wohl in Kenntnis, wie bei Sun Tsu ein Krieg vorbereitet wird. Noch vor dem Beginn sollen die Allianzen des Gegners getrennt und zersplittert werden:
„To disrupt his alliances. Do not allow your enemies to get together. Look into the matter of his alliances and cause them to be severed and dissolved“.
(Sun Tsu, Kap. III.5, Übersetzung von Samuel B. Griffith, London: Oxford University Press, 1963, S. 78)
China ist in einem Bündnis kein verlässlicher Partner, denn Täuschung ist Teil der Philosophie von Sun Tsu. Doch die Allianz von Russland mit der Europäischen Union wurde bereits zerstört. Wird Russland einen Angriff der Chinesen, ohne Unterstützung durch den Westen, abwehren können. Die Strategie von Karaganow erweist sich als russisches Schach, das riskant ist.
Neue Ideologie für Russland
Karaganow sucht für Russland ein neues Leitbild. Dafür startete er ein Projekt mit seinem Institut an der National Research University Higher School of Economics. Als erstes Ergebnis wurde im Juli 2025 präsentiert:
„Russia’s Living Idea-Dream: The Code of the Russian in the 21st Century. The Ideological Foundation of the Russian Civilization-State“.
Die Studie soll der Start für eine umfangreiche Debatte über eine neue Ideologie für Russland sein, weitere Beiträge sind von Karaganow für die kommenden Jahre bereits geplant. Vorerst wurde festgestellt:
„We are a civilization-state, even a civilization of civilizations (…) Great Russians, Belarusians, Tatars, Little Russians,Chechens, Yakuts, Bashkirs, Georgians, Uzbeks“. (Ebd., Russia’s Living Idea-Dream, S. 6)
Als Held der neuen Ideologie steht an erster Stelle der Soldat, dann erst folgen Wissenschafter, Arzt und Ingenieur. Das Eigentum soll im Russland der neuen Elite unverletzlich sein, doch übertriebener Konsum wird verurteilt als schamlos, ansonsten ist das Ziel eine Demokratie, die von einem Führer geleitet wird:
„The state we want to build is a leader-led democracy (…) property is inviolable but conspicuous consumption is shameful“. (Ebd., S. 43)
Inspiriert wurde die neue Ideologie von zahlreichen Persönlichkeiten des Landes, ausdrücklich gedankt für Anregungen wird Präsident Wladimir Wladimorowitsch Putin, Außenminister Sergej Wiktorowitsch Lawrow und Armeegeneral Sergej Kuschugetowitsch Schoigu, der bis Mai 2024 als Verteidigungsminister tätig war, seither als Chef des Nationalen Sicherheitsrates fungiert. Doch verantwortlich für den Text zeichnet ausnahmslos Sergej Karaganow:
„Only the main author, Sergey A. Karaganov, is responsible for the final text of the report„.
(Ebd., Russia`s Linving Idea-Dream, S. 3)
Werte der deutschen Klassik
Für die neuen Werte des Landes wird Karaganow nicht an den Sitten einer Horde sich orientieren können. Letztlich wird er doch die Geisteshaltung der deutschen Aufklärung und Klassik annehmen müssen. Wir im Westen, in Europa, in Deutschland leben in der ethischen Fülle von Goethes „Egmont“, Kleists „Kohlhaas“ und Schillers „Wilhelm Tell“.
Das sind Werte, die wir in Europa niemals und unter keinen Umständen verlieren werden. Noch existiert die Kultur des Westens, wenn auch geschwächt durch gezielt eingesetzte Infiltration aus Russland, sie wurde noch nicht weggewischt von nuklearen Attacken, die Karaganow ankündigt und androht.
Sergej Alexandrowitsch, nutzen Sie diese letzten Stunden der westlichen Kultur und lesen Sie „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von Friedrich Schiller. Pilgern Sie noch zu den Salzburger Festspielen und betrachten Sie dort das große Werk von Hugo von Hofmannsthal, am Domplatz wird es jedes Jahr als Mahnung gezeigt: „Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“.
Link:
Die Karaganow Doktrin
Russland und China herrschen über die Welt
Tabula Rasa Magazin, 30. 10. 2025
Sergej Karaganow ist der Ideologe russischer Großmachtphantasien. Er will eine neue Weltordnung schaffen. Dafür setzt er auf eine enge Allianz mit China. Als entscheidender Berater des russischen Präsidenten Putin.
www.tabularasamagazin.de/johannes-schuetz-die-karaganow-doktrin-russland-und-china-herrschen-ueber-die-welt
