Karl Christian Friedrich Krause und die Idee vom Völkerbund

Rose im Schlossgarten von Mersburg, Foto: Stefan Groß

Geschichtsschreibung ist nicht immer gerecht. Meistens sind die Sieger federführend. Oder Männer, der Westen, der Zeitgeist. Dabei gerät Vieles in Vergessenheit. Wie das Leben des Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832), das wir uns gerade heute ins Gedächtnis rufen sollten.

Krause wird in einer Zeit des Umbruchs geboren. Aufklärung und Romantik liegen im Zwist. 1781 erscheint Immanuel Kants Werk »Kritik der reinen Vernunft«, welche die kopernikanische Wende des Denkens prophezeit. In Frankreich ist das Blut der Revolution an den stumpfen Guillotinen noch nicht einmal getrocknet, da stürzt Napoleon Bonaparte mit seinen Koalitionskriegen ganz Europa für mehr als zwei Dekaden in den Krieg.

Anfangs lässt das den jungen Krause noch unberührt. Er tut das, was angehende Genies halt so tun: Er übersetzt en passant Homers Odyssee, will angeblich ein etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache verfassen, liest sich kreuz und quer durch die Philosophiegeschichte, singt zwischendurch und spielt mit 13 Jahren neben Klavier und Orgel noch einige andere Musikinstrumente.

In einem Punkt unterscheidet er sich allerdings von anderen Hochbegabten: Er ist schon mit »fünf Jahren durchdrungen von der Wesenheitgleichheit aller Menschen«. Seine Liebe für die Welt reicht sogar soweit, dass er »kein Würmlein tödte, kein Hälmlein zwecklos knicke, kein schöngestaltetes Steinlein zertrümmere«.

Der erwachsene Krause studiert Philosophie und Mathematik in Jena, wo noch immer der Zeitgeist Kants durch die Vorlesungssäle spukt. Nach und nach verfällt man aber auch hier dem Duft der blauen Blume. In diesem Umfeld sät Krause den Samen für den Wesenskern seiner Philosophie: den Panentheismus, der »Alles-ist-in-Gott« verkündet.

Etwas Übernatürliches scheint auch den 18-jährigen zu treiben. Nachts um drei Uhr wacht er auf, um acht Stunden zu philosophieren, bevor er sechs Stunden lang Vorlesungen von Schelling, Jacobi, Schlegel und Fichte hört. Bald avanciert er zum Privatdozenten. Als er nach einiger Zeit jedoch noch immer keine Professur erhält, seine Schülerzahl zurückgeht, entscheidet er sich, Jena den Rücken zu kehren.

Zuerst verschlägt es ihn nach Dresden. Napoleon galoppiert dort gerade auf seinem Eroberungszug durch Europa vorbei und veranlasst Krause wie so viele andere Deutsche, ihre Träume von besseren Zeiten in Tinte zu fassen. Krause denkt anfangs, unter Napoleon würde die Welt schneller zu seinem »Menschheitsbund« zusammenwachsen. Deshalb will er ihm die Schrift »Der Weltstaat durch Napoleon« widmen.

Er folgt hier Kants Gedanken »Zum ewigen Frieden«. Doch wo Kant lediglich eine von einem Kneipenschild inspirierte Fata Morgana des Weltfriedens durch einen Staatenbund sieht, erblickt Krause mehr als nur eine Wunschvorstellung. In seinem Magnum opus »Urbild der Menschheit« beschreibt er das Ziel des Menschentums als Entwicklung zu einem Menschen- und Völkerbund, nach dem sich auch die Organisation des Lebens orientieren soll.

Bald soll der Staat für diese Evolution eher eine untergeordnete Rolle spielen. Der philanthropische Philosoph findet nämlich in den Freimaurern und ihren Idealen den »hoffnungsvollen Keim einer besseren Menschheit«. So denkt Krause, wenn die Freimaurerei erst einmal vollendet sei, »dann wird das Reich der Menschheit wirklich, dann wird der Himmel auf Erden sein.«

Vielleicht etwas zu viel Idealismus, denn zu jener Zeit gibt es unter den deutschen Freimaurern zwei verschiedene Strömungen. Durch den Einfluss von Rosenkreuzern und Illuminaten kommt es zu einer verstärkten Hierarchisierung, Entstehung von Pseudogruppierungen und mehr Geheimnistuerei. Allesamt wirken sie den Absichten Krauses entgegen.

Er ist für mehr Offenheit, Wissenschaftlichkeit, weniger Herrschsucht der oberen Grade und Aufnahme von Frauen. Nur so können die Ideale der Freimaurerschaft eines Tages in die Dienste der ganzen Menschheit treten. Als Krause es schließlich wagt trotz vielseitigen Widerstands seine Arbeit über die Freimaurer, »Die drei ältesten Kunsturkunden der Freimaurerbrüderschaft«, zu veröffentlichen, setzten ihn die angeblich so toleranten Brüder vor die Tür.

Dies ist ein persönlicher Schlag für den Philosophen. Er fühlt sich missverstanden und machte später die Machenschaften der Freimaurer für seine akademische Erfolglosigkeit verantwortlich. Ganz so einfach ist es sicherlich nicht, aber aus irgendeinem Grund soll Krause sein Leben lang am Rande der Existenz leben.

Und das trotz dreifacher Habilitation, Erfindungen, der Behandlung Kranker, seiner Sprachkenntnisse, die von Chaldäisch über Baskisch bis hin zu Sanskrit reichen und der an die 100 selbstverfassten Bände über Philosophie, Mathematik, Ästhetik, Musiktheorie, Pädagogik, Geographie, Landverschönerung, Geosophie, Astronomie und andere Fachrichtungen.

Krause liefert die erste freiheitsphilosophische Begründung für Generationsgerechtigkeit in der Geschichte. Außerdem fordert er bereits 1803 die rechtliche Emanzipation von Frauen, Rechte für Behinderte, Kranke, Arme, ja, jeden einzelnen Menschen. Aber er geht noch weiter als die meisten seiner anthropozentrisch denkenden Zeitgenossen, die Menschen noch immer in ethnische Schubladen stopfen. Nichts in der Natur, weder Stein noch Schwein, soll zwecklos zerstört beziehungsweise getötet werden.

Trotz all dieser Bemühungen wird Krause, der sein ganzes Leben der Wissenschaft gewidmet und die gesamte Menschheit, mehr noch, die ganze Welt in sein Herz geschlossen hatte, lediglich von einer Handvoll Menschen beerdigt.

Doch dann folgt die Wiederauferstehung. In den Jahren vor seinem Tod, während er in Göttingen als Privatdozent lehrte, scharte er einige studentische Anhänger um sich. Unter ihnen ist auch Heinrich Ahrens (1808–1874), dessen Schriften ins Spanische übersetzt werden und so in die Hände des spanischen Juristen Julián Sanz del Río (1814-1869) gelangen.

In Krauses Schrift »Das Urbild der Menschheit« findet Sanz del Río die Lösung für sein Spanien, das nahezu unberührt von der Aufklärung geblieben ist und noch immer am langen Kreuz der Kirche baumelt. Jene Lösung ist ein Mittelweg zwischen Materialismus und Scholastik. Er erlaubt eine aufklärerische Veränderung und lässt trotzdem den Religionen seinen Freiraum. Das Ziel ist ein System, das sich immerzu reformiert, dynamisch ist, anstatt sich mit einer stagnierenden (hegel’schen) Synthese zufriedenzugeben.

Sanz del Río verfasst viele krausistisch gefärbte Schriften, welche die liberale Revolution im Jahre 1868 beeinflussen. Zudem arbeiten die Krausisten unter dem Philosophen und Pädagogen Francisco Giner de los Ríos (1839-1915) an der Verfassung von 1869 mit, stellen Minister und gründen das einflussreiche Institut »Institución Libre de Enseñanza«.

Allmählich sickern Sanz del Ríos Schriften bis in fast alle lateinamerikanischen Länder und beeinflussten auch dort liberal-soziale Reformen, insbesondere in Uruguay und Argentinien, wo der Krausismo unter dem Staatspräsidenten Hipólito Yrigoyen zur inoffiziellen Staatsphilosophie aufsteigt. Mit dem Hintergedanken einer harmonischen Menschheit versuchten viele dieser Länder, sich so pazifistisch wie möglich zu verhalten. Daher bemühte sich zum Beispiel Argentinien um eine neutrale Rolle im Ersten Weltkrieg und eine starke Beteiligung am Völkerbund.

Manche Menschen werden posthum geboren, wie Nietzsche einst schrieb. So auch Karl Christian Friedrich Krause. Doch war er auch jemand, der posthum wieder dahinschied. Und das trotz alledem, was er bewirkt und erforscht hatte. Vielleicht sollten wir in wiederbeleben. Post-posthum sozusagen.

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