Manchmal gibt es Geheimnisse, die nicht gelüftet werden wollen oder: Wie viel ist zu viel?

Jedem wohnt er inne: ein ganz spezieller Geruch. Wir nehmen ihn kaum wahr, doch er ist im Unterbewusstsein präsent, mal weniger und manchmal unglaublich intensiv. Der charakteristische Eigenduft eines Menschen beeinflusst Sympathie und bestimmt unsere Partnerwahl in nicht unerheblichem Maß. Noch lange liegt er mitunter in abgetragenen, auf dem Speicher abgelegten Bekleidungsstücken. Auch beim Betreten des Zimmers einer vertrauten Person spüren wir zuweilen dessen olfaktorischen Fingerabdruck. Er hat sich in Schubladen eingeigelt, die ihn beim Aufziehen aus deren Fugen wieder freigeben.

Ähnlich geht es auch Elinor, einer der Protagonistinnen in Pat Barkers Roman „Tobys Zimmer“. Toby ist ihr Bruder. Nein: Toby war ihr Bruder. Denn der junge Mann wird nicht mehr nach Hause kommen. Er blieb zurück auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. „Vermisst, vermutlich gefallen“, lautet die lakonische Feststellung, die eines Tages vom Postboten der Familie Brooks überbracht wird. Hernach ist nichts mehr so wie es vorher war: Die Mutter nur noch ein seelisch am Boden zerstörtes Wrack, der Vater zieht sich vollends zurück. Und Elinor, die Künstlerin, für die Toby alles bedeutete, die in ihm ihr zweites Ich sah, ihren anderen Zwilling, vergräbt sich im verwaisten Familienanwesen und malt wie eine Besessene. Auf allen Bildern taucht er ab sofort als Schatten auf, schemenhaft am Rande der Landschaft, „von der Mitte abgewandt, als wäre er kurz davor, aus dem Rahmen zu spazieren“. Doch was sie am meisten umtreibt ist diese Ungewissheit. „Vermisst, vermutlich gefallen.“ Wie kam Toby wirklich um? Warum hat niemand seine Dienstmarke gefunden? Was war tatsächlich passiert? Ein schreckliches Geheimnis scheint seinen Tod zu umgeben. Elinor unternimmt alles, um dahinterzukommen. Vielleicht wissen ihre Freunde und ehemaligen Kommilitonen Paul Tarrant und Kit Neville mehr und können ihr helfen, den Kokon aus Nichtwissen zu durchbrechen? Doch die junge Frau hat sich bis dato vehement gegen eine Kriegs-Berührung gewehrt, eine Auseinandersetzung mit dessen Gräueln vermieden und sogar ihre Liebe zu Paul aufs Spiel gesetzt, als er verwundet zurückkehrt. Nun liegt auch Kit mit zerstörtem Gesicht und umgeben vom Geruch aus Desinfektionsmitteln, Blut und eiternden Wunden im Lazarett, wo sie zudem ihren ehemaligen Professor, den Arzt und Maler Henry Tonks, trifft. Jener bannt hier die Grauen des Krieges auf Papier. Elinor will nicht mehr ausweichen und stellt sich der Frage: Kann Kunst den Schrecken des Krieges auf ihre eigene Art begegnen?

In zwei große Kapitel hat die englische Autorin den Roman gliedert. Das erste setzt im Jahr 1912 ein und beleuchtet die innige Beziehung der beiden Geschwister und ihr sie umgebendes dunkles, erotisches Geheimnis. Es vermittelt zudem einen Einblick in das Leben der jungen Frau an der Slade School of Fine Art in London. Bekannte Personen sind ins Buch eingeschrieben, wie eben jener Henry Tonks, einer der ersten britischen Künstler, der von den französischen Impressionisten beeinflusst wurde und später mit seinen Arbeiten bedeutende Wegbereiterarbeit für die Plastische Chirurgie leistete. Paul Tarrant und Kit Neville wiederum sind belletristische Figuren der englischen Autorin, könnten aber durchaus ihr Vorbild in Paul Nash, Stanley Spencer oder W. H. R. Rivers haben, gleichfalls anerkannte Künstler der englischen Moderne. Pat Barkers Duktus gleicht in diesem ersten Kapitel einem zarten, leichten Schleier, der sich über die dunkle Seite ihrer Familie zu legen scheint. Vage wird vieles nur angedeutet, ohne es auszusprechen oder ausführlich zu dokumentieren. Der Text weist Ähnlichkeiten mit einem zarten Landschaftsaquarell auf, obwohl doch stets das Diffuse und Bedrohliche – familiär wie auch weltpolitisch – unter der Oberfläche schwelt.
Kapitel 2 wiederum setzt im Jahr 1917 ein. Der Leser findet sich mitten im Krieg wieder. Jetzt ändert sich auch Pat Barkers Stil merklich. Die stilistische Leichtigkeit scheint hinweggefegt. Von Romantik ist nicht mehr viel zu spüren. Als Hauptprotagonisten fungieren nun Paul Tarrant und Kit Neville. Beide haben nicht nur körperliche Narben zurückgetragen, sondern sind auch seelisch traumatisiert. Vor allem Neville trägt ein großes Zerstörungspotential in sich. In Wach- und Morphiumträumen vermischt er Gegenwart und das Geschehen an der Front, wo er unter Toby Brooks als Krankenträger diente. War er vielleicht gar derjenige, der den „Doc“ zuletzt lebend gesehen hat?

Die englische Schriftstellerin Pat Barker, die bereits den Booker Prize und 2001 den WELT-Literaturpreis erhielt, hat ihrem Oeuvre erneut ein Buch hinzugefügt, das sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Texte, die mehr oder weniger alle ihren Ausgang in den Lazaretten für traumatisierte britische Soldaten nehmen und den Bemühungen der Daheimgebliebenen und Zurückgekehrten beschreiben, den Krieg psychisch zu überstehen. Sätze die „mit diesem Wust aus zerrissenen Muskeln und gesplitterten Knochen“ konfrontieren und Männern „mit schrecklich verzerrten Gesichtern. Und andere (…) mit rosa Schläuchen, die aus ihren Wunden staken, und über alledem grauenhaft verstörte Augen. Brueghel; und schlimmer als Brueghel, weil sie echt waren.“ Mitunter schmerzhaft direkt führt Pat Barker das Grauen des Krieges dem Leser vor Augen. Doch öffnet sie gleichzeitig immer wieder eine Nische zum Besinnen und zum Verinnerlichen von Schönheit.

Es mag erstaunen, dass sie mit solcher Zähigkeit an diesem Thema bleibt. Die Erklärung liegt in ihrer Biografie: Pat Barker wuchs im Haus ihrer Großeltern auf, wo der Großvater mitunter sein Hemd auszog und der Enkelin die Bajonettnarbe auf seinem Rücken zeigte. Dadurch übersprang das kollektive Gedächtnis eine Generation. „Wir leben in der Vergangenheit, weil es in der Gegenwart zu viele Dinge gibt, die nicht ausgesprochen werden können.“, schreibt Elinor im Dezember 1917 in ihr Tagebuch. Für Pat Barkers Leser ist es, als ereilte sie dieser Ruf, ja dieser Geruch aus der Vergangenheit erneut.

Pat Barker
Tobys Zimmer
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow
Titel der Originalausgabe: Toby's Room
Dörlemann Verlag (Februar 2014)
Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3038200018
ISBN-13: 978-3038200017
Preis: 23,90 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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