Norbert Miller: Marblemania. Kavaliersreisen und der römische Antikenhandel

Kolosseum in Rom, Foto: Stefan Groß

Norbert Miller: Marblemania. Kavaliersreisen und der römische Antikenhandel, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2018, ISBN: 978-3-422-07443-9, 34,90 EURO (D)

Dieses Buch stellt vorzüglich in Wort und Bild den Zusammenhang zwischen der Grand Tour von ausländischen Adeligen und später auch Mitglieder des gehobenen Bildungsbürgertums mit dem Handel von römischen antiken Gegenständen oder Nachbildungen dar. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den englischen Adel in Rom und deren Begeisterung für antike Stätten und Kunstgegenstände. Es zeigt auch nachdrücklich, wie der Bedarf nach antiken Sammlerstücken eine rege Geschäftstätigkeit in Gang setzte und damit auch ganze Berufszweige verbunden waren.

Die Grand Tour stellte ursprünglich den Abschluss der Erziehung dar, sie sollte der Bildung des Reisenden den „letzten Schliff“ geben. Die Adeligen suchten insbesondere bedeutende europäische Kunststädte auf und besichtigten dort Baudenkmäler aus Antike, Mittelalter und Renaissance, reisten durch malerische Landschaften, sprachen aber auch an europäischen Fürstenhöfen vor. Dabei sollten sie Kultur und Sitten fremder Länder kennenlernen, neue Eindrücke sammeln und für das weitere Leben nützliche Verbindungen knüpfen. Weiter diente die Tour der Vertiefung von Sprachkenntnissen sowie der Verfeinerung von Manieren, allgemein dem Erwerb von Weltläufigkeit, Status und Prestige.

Die Besichtigung antiker Stätten in Italien hatte in Kreisen der Künstler und Intellektuellen bereits seit dem Spätmittelalter Tradition. Einen wahren Aufschwung erlebte die Grand Tour aber erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als es im englischen Adel, vergleichbar einem Initiationsritus, Mode wurde, seine Sprösslinge auf eine mehrjährige Bildungsreise auf den Kontinent zu schicken. Ihren Anfang nahm sie während der Regentschaft von Königin Elisabeth I. von England im 16. Jahrhundert. Die jungen Männer zwischen 17 und 21 Jahren machten sich zumeist in Begleitung eines Tutors und finanziell großzügig von der Familie unterstützt auf den Weg zum Kontinent und durch Europa, um ihren Horizont zur erweitern, antike Bauwerke und Denkmäler zu besichtigen, aber auch um sich in die hohe Schule der Diplomatie einführen zu lassen.

Der Tutor musste über Organisationstalent, Bildung und umfassende Sprachkenntnisse verfügen musste, vor allem aber auch über die Umsicht und Reife, seinen jugendlichen Schützling vor physischen, finanziellen und moralischen Gefahren aller Art zu bewahren. Ein bekannter Tutor war Thomas Hobbes, der mit großem Vergnügen 1610 den Sohn von Lord Cavendish sowie 1634 den Sohn des Earl of Devonshire auf ihren Grand Tours begleitete. Besonders wohlhabende Familien gesellten ihren Sprösslingen neben dem Tutor noch weiteres Personal bei, wozu Ärzte, Kunstexperten, Dienstboten, Maler und Musiker gehören konnten.

Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts erweiterte sich der gesellschaftliche Kreis der Reisenden auf das Bürgertum. Ein bürgerlicher Engländer, der über Wohlstand verfügte, unternahm zumindest eine kurze Reise auf das Festland. Ähnlich heutigen Reiseführern, wurden in Ratgebern und Reisetagebüchern zur Grand Tour Empfehlungen über die Wegstrecke gegeben, Sehenswürdigkeiten, Sitten, die notwendige Kleidung, die Apotheke und Lektüre besprochen sowie wichtige Sätze und Vokabeln als Hilfe verzeichnet. Um die Reisenden entstand ein eigener Dienstleistungssektor.

Die Vorreiterrolle Englands erklärt sich unter anderem daraus, dass es sich nach dem Sieg über die spanische Armada 1588 auf dem Weg zu einer – nur mit der römischen vergleichbaren – Weltmachtstellung sah. Hinzu kommt schließlich, dass das Ideal des Gentlemans in dieser Reinheit nur dort anzutreffen war. Einen erheblichen Aufschwung erlebte die Grand Tour Mitte des 18. Jahrhunderts. Im Zuge der Aufklärung nahm das Interesse an fremden Kulturen und Menschen, deren Lebensbedingungen und Umgebung weiter zu.

Obwohl die soziale Struktur der verkrusteten Aristokratie weiterhin dominierte, belebte Venedig als Zentrum des intellektuellen und internationalen Austausches im 18. Jahrhundert das europäische Geistesleben. Neue Formen des künstlerischen Ausdrucks tauchten auf, die Veduten, die Capriccios, topographische Ansichten, architektonische Fantasien, genaue Darstellungen von alten Denkmälern, die mit imaginären Kompositionen zusammengebracht wurden.

Rom wurde neuer Treffpunkt und intellektuelles Zentrum von Europa für die Vertreter einer neuen Bewegung in den Künsten. Die Stadt lockte Künstler und Architekten aus ganz Europa neben Touristen, Händlern und Antiquaren. Während viele von offiziellen Institutionen wie der französischen Akademie kamen, kamen andere zu den neuen Entdeckungen in Heraculaneum und Pompeji. Um die Nachfrage nach Überresten der römischen Antike zu befriedigen, wurde in Rom und Umgebung nach Statuen, Reliefs und Vasen gegraben, in speziell darauf ausgerichteten Werkstätten arbeiteten Bildhauer, Künstler und Restauratoren an Ergänzungen und Nachbildungen.

Der Künstler und Architekt Giovanni Battista Piranesi (1720 -1778), der berühmt für seine Radierungen von Rom war, war an diesem Handel mit antiken Gegenständen beteiligt und schlüpfte zusammen mit Gavin Hamilton selbst in die Rolle von Archäologen bei ihren Ausgrabungen im Pantanello.

Piranesi studierte unter Guiseppe Vasi, der ihn in die Kunst des Gravierens in der Stadt und ihrer Denkmäler einführte. Nach seinem Studium bei Vasi arbeitete er mit den Schülern der französischen Akademie in Rom zusammen, um eine Reihe von Aussichten der Stadt zu produzieren. Sein erstes Werk war Prima parte di Architettura e Prospettiv (1743), gefolgt 1745 von Varie Vedute di Roma Antica e Moderna.

Von 1743 bis 1747 wohnte er vor allem in Venedig, wo er nach Quellenangaben oft Giovanni Battista Tiepolo besuchte. Dann kehrte er nach Rom zurück, wo er in der Via del Corso eine Werkstatt eröffnete. Von 1748 bis 1774 schuf er eine lange Reihe von Veduten der Stadt, die seinen Ruhm begründeten. Außerdem veröffentlichte er die Schrift Le Antichità Romane de ‚tempo della prima Repubblica e dei primi imperatori („Römische Altertümer der Zeit der Ersten Republik und der Ersten Kaiser“). 1761 wurde er Mitglied der Accademia di San Luca und eröffnete eine eigene Druckerei. Er schuf 1776 seine bekannteste Arbeit als „Wiederhersteller“ der antiken Skulptur, der Piranesi-Vase. 1777-78 veröffentlichte er Avanzi degli Edifici di Pesto (Reste der Kirchen von Paestum).

Ein besonderes Merkmal von Piranesis Arbeit beruht auf der Interpretation der klassischen Antike, indem sie seine Phantasie zur Erhöhung der Originalität hinzufügt. Durch die Werke von Marco Ricci und besonders Giovanini Paolo Pannini wurde Piranesi mit den architektonischen Werten und der Ruinenphantasie vertraut. Die Reste von Rom entfachten Piranesis Begeisterung. Seine meisterhafte Geschicklichkeit beim Gravieren half ihm, Vasen, Altäre und Gräber zu schaffen, die in der Wirklichkeit fehlten. Seine breite und wissenschaftliche Verteilung von Licht und Schatten vervollständigte das Bild und entwickelte eine auffällige Wirkung. Einige seiner späteren Arbeiten wurden von seinen Kindern und mehreren Schülern vervollständigt.

Die breitere und flexible Perspektive der Vergangenheit erzeugte nicht nur die neue Interpretation der Gegenwart, sondern auch die Forderung nach einer neuen Ausdrucksweise. Es gab ein Phänomen des wachsenden Selbstbewusstseins bei den Künstlern und dem erfinderischen Genie über die begrenzte Autorität der alten Welt. Piranesi entwickelte eine künstlerische Selbstentdeckung der alten Welt, die das Studium vieler Gelehrter und Visionäre auslöste. In der Perspektive des Historikers gab es ein wachsendes Interesse an Zivilisationen, Schicksal der Länder. Piranesi interessierte sich besonders für die griechisch-römischen Debatten, in denen die italienische Zivilisation verwurzelt war. Der Glaube, dass die Künstler ein Recht haben, seine eigenen originellen Ideen zu haben und er Rom als das kulturelle Schicksal betrachtete, wurde das Rückgrat seiner kreativen Arbeit. Sein Werk ist das Ergebnis seines phantasievollen Geistes, der mit dem Geist der Ewigen Stadt verbunden ist.

Während seines ganzen Lebens schuf Piranesi zahlreiche Drucke, die die Ewige Stadt darstellten, die von Intellektuellen gesammelt wurden. Seine Carceri (Kerker) zählen aufgrund ihrer großen künstlerischen Virtuosität zu den einflussreichsten Werken der Druckgraphik überhaupt. Die großformatigen Darstellungen der Carceri stellen verschiedene Innenansichten von ganz ungewöhnlichen Gefängnissen dar, denn trotz der erkennbaren Folterinstrumente, Gitter und Ketten entziehen sich die dargestellten Räume in vielerlei Hinsicht der gewohnten Seherfahrung. Charakteristisch ist vor allem die unrealistische Kombination architektonischer Elemente. Mauern, Rampen, Treppen, Spiralen, Türme, Bögen, Gewölbe und Pfeiler sind auf eigentümliche Weise übereinander gestellt sowie ineinander verschachtelt, womit permanent physikalischen Gesetzen widersprochen wird. Seine Entwürfe sind auf dem Papier gebaute Visionen, die keinerlei Möglichkeit auf Realisierung haben. Piranesi verzerrt Proportionen und durch die Verschiebung der Fluchtpunkte werden die räumlichen Grenzen aufgehoben. Visualisiert werden diese Visionen mit einer stupenden Radiertechnik. Konträr zu der Mehrzahl zeitgenössischer Architekturansichten, ist Piranesis Strichführung extrem unruhig, geradezu vibrierend.

Piranesi veröffentlichte die vierzehnteilige Radierfolge erstmals 1749/50 in Rom. Das Werk fand zunächst kaum Beachtung. Knapp zehn Jahre später überarbeitete Piranesi sämtliche Blätter, wobei er die Szenen vor allem durch stärkere Hell-Dunkel-Kontraste ins Unheimliche und Bedrohliche veränderte.

Piranesi leistete auch einen Beitrag zur Archäologie und wurde in die Society of Antiquaries of London gewählt. Sein Einfluss von technischen Zeichnungen in antiquarischen Publikationen wird oft unterschätzt. Piranesi versuchte, die meisten alten Denkmäler in Rom mit seinen Gravuren zu bewahren. Piranesis Arbeit ermöglichte es den Menschen, die Atmosphäre in Rom im achtzehnten Jahrhundert durch seine genaue Beobachtung zu erleben. Er hatte seine Rolle in den Orten der Ausgrabung von Ruinen und die bemerkenswerten Informationen durch sinnvolle Bilder verbreitet.

Der Handel mit antiken Kunstwerken lag in der ersten Blütezeit der Grand Tour noch in italienischer Hand. Nach Anfängen durch Matthew Brettingham etablierte sich bald ein „englisch-englischer Binnenmarkt“, so dass römische Antikenhändler, Restauratoren und Kunsthändler gezwungen waren, sich für Grabungen und Restaurierungen mit englischen Partnern einzulassen: „Unter den in Rom gestrandeten Malern und Architekten, die sich als ciceroni und Reisebegleiter an die Stadt assimiliert hatten, ragt neben Gavin Hamilton der Maler, Connaisseur, Kunsthändler und Bankier Thomas Jenkins heraus, der mit diesem bald im Interessenausgleich bald in Konkurrenz, über die Jahrzehnte den römisch-englischen Kunsthandel konsularisch beherrschte.“ (S. 106)

Piranesis Reproduktionen von realen und neu erschaffenen römischen Ruinen und die Verbreitung des Antikenhandels vor allem in England beeinflussten den Neoklassizismus. Eines der Hauptmerkmale des Neoklassizismus ist die Einstellung zur Natur und die Verwendung von Vergangenheit. Der Neoklassizismus wurde durch die Entdeckungen in Herculaneum und Pompeji vorangetrieben. Die Wiederentdeckung und Aufwertung von Griechenland, Ägypten und der Gotik schritt voran. Der Blick auf ein Goldenes Zeitalter wechselte von einem statischen zu einem veränderlichen, der von Rousseau und Wickelmann als Reaktion auf das dynamische Wachstum der Gesellschaft inspiriert wurde. Auch am schwedischen Hof gab es eine Sympathien für die Antike, König Gustav III. reiste inkognito nach Rom.

 

 

 

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Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.