Rezension zu: Philipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation, Klostermann, Frankfurt a.M. 2020

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Georgien nimmt in der deutschen Politik des 20. Jahrhunderts einen besonderen Platz ein. Mit dem Ziel, das Zarenreich an seiner Südflanke zu schwächen, förderte Berlin während des Ersten Weltkriegs die Sezession Georgiens und stand bei dessen Unabhängigkeit 1918 Pate. Analog dazu versuchte es im Zweiten Weltkrieg mit einem gewissen Erfolg, Georgier im Kampf gegen den sowjetischen Gegner zu mobilisieren. Die Beziehungen sind auch heute noch eng. So besteht etwa heute noch in Tbilissi eine reformierte Kirchgemeinde, die auf die deutschen Auswanderer vom Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgeht. In Deutschland wiederum ist die georgische Kultur durch zahlreiche Übersetzungen zeitgenössischer Literatur gut vertreten. Allerdings entbehrte das deutschsprachige Lesepublikum bisher einer zusammenhängenden Darstellung der georgischen Geschichte im 19. Jahrhundert und bis 1921. Diese Lücke hat nun der Berliner Historiker und Slawist Philipp Ammon mit seiner Monographie geschlossen.

Aus der Einsicht heraus, dass Georgiens Entwicklung in der genannten Periode weitgehend von Russlands Rolle als Schutz- bzw. Kolonialmacht in Politik, Religion und Gesellschaft des 1801 annektierten Kaukasuslandes bestimmt ist, stellt der Autor die komplexen und ungleichen Wechselbeziehungen in den Mittelpunkt seiner Studie. Nachdem die von islamischen Mächten bedrohten georgischen Herrscher Moskau seit dem 16. Jahrhundert um Hilfe ersucht hatten, kam es 1783 unter Katharina der Grossen zum Schutzvertrag von Georgievsk, der Georgien ein Russisches Protektorat unter Beibehaltung der Monarchie in Aussicht stellte. Als die Perser 1795 in Georgien einfielen und Tiflis zerstörten, blieb Russland, das zur gleichen Zeit an drei nördlichen Fronten einen Krieg führte, untätig. Diese Nichteinhaltung des Bündnisses wird bis heute von den Georgiern als Verrat empfunden und hat eine tiefe Wunde in das georgische historische Bewusstsein gerissen, die durch die formelle Annexion 1801 und die Abschaffung der Autokephalie 1811 noch vertieft wurde. Die Geschichte Georgiens war im 19. und 20. Jahrhundert Teil der russischen Geschichte. Das Verhältnis der ungleichen Nachbarn war (und ist immer noch) stets ambivalent, widersprüchlich und von zahlreichen Missverständnissen gekennzeichnet. Das ist der Gegenstand dieser Monographie, die den Zeitraum von 1801 bis 1921 abdeckt.  

Die Methode, vom Autor als « kulturgeschichtlich-hermeneutisch » beschrieben, die den Akzent auf Sprache und Religion setzt, ist im Falle Georgiens durchaus berechtigt, sind es doch gerade diese Merkmale der georgischen Identität, die im erwachenden Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert im Vordergrund standen und den Gedanken an ein « Nation building » überwogen. Sie sind es auch, die von den zaristischen Statthaltern unterdrückt wurden. Ammon vernachlässigt dabei aber auch nicht die sozialen Verwerfungen, welche die russische Herrschaft ebenfalls mit sich brachte. In einem gewissen Sinne handelt die Monographie bei dieser kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise denn auch mehr vom Schicksal und von der Mentalität des georgischen Volkes als von Georgien als Staat, der faktisch im Mittelalter zu bestehen aufgehört hatte und unter russischer Herrschaft nurmehr ein Bestandteil der südkaukasischen Territorien war. 

Mit ihrer grobschlächtigen und unsensiblen Religions- und Sprachenpolitik – Aufhebung der Autokephalie, Verbot des Georgischen als Liturgiesprache und der Verehrung lokaler Heiliger, Übertünchen mittelalterlicher Fresken, Russisch als obligatorische Unterrichtssprache am Priesterseminar usw. –  trafen die zaristischen zivilen und religiösen Behörden den Hauptnerv des georgischen kollektiven Bewusstseins; sie stehen so am Anfang der nachhaltigen Entfremdung zwischen den beiden Völkern. Gleichzeitig, gibt der Autor zu bedenken, bot die russische Oberherrschaft neben der Unterdrückung aber auch Schutz vor äusseren Feinden, Frieden im Innern, Integration des georgischen Adels in den russischen, Karrieremöglichkeiten in Russland, Aufbau der Hauptstadt Tiflis im europäischen Stil, Bildungs- und kulturelle Institutionen und – durch den Zugang zu russische Universitäten – ein Fenster zur europäischen Kultur und Wissenschaft. Der Autor hält Russland sogar zugute, die georgischen Lande gesammelt zu haben. Entsprechend zwiespältig und paradox war die Haltung der Georgier im Verhältnis zu Russland: Auf der einen Seite setzten sich begeisterte Patrioten für die Wiederherstellung der Autokephalie ein und beklagten die mangelnde Freiheit unter russischem Joch, auf der andern Seite war einer der ersten Statthalter Petersburgs im Kaukasus ein russischer General georgischer Abstammung; ein anderer Georgier, Bagration, wurde zum Helden der Schlacht von Borodino; das einzige georgische Mitglied im Hl. Synod der Russischen Kirche wandte sich 1917 gegen die Autokephalie der Georgischen Kirche. Selbst die georgischen Revolutionäre am Anfang des 20. Jahrhunderts zogen lange keine Unabhängigkeit von Russland in Betracht, und es war der georgische Bolschewist Ordschonikidse, welcher der kurzlebigen menschewistischen Republik ein gewaltsames Ende bereitete. Das zaristische Russland, das zur gleichen Zeit den reformierten Finnen und Balten und den katholischen Polen Religionsfreiheit gewährte, glaubte, die zahlenmässig kleine, aber um fünf Jahrhunderte ältere Orthodoxe Kirche Georgiens gewaltsam in die Russisch-Orthodoxe Kirche integrieren zu müssen, die selber seit 1722 ihres Patriarchenstatus beraubt und von Peter dem Grossen zu einer staatlichen Institution gemacht worden war. 

Ein eigens Kapitel ist dem Bild Georgiens im russischen kulturellen Bewusstsein gewidmet. Die russische Haltung zu Georgien schwankt zwischen Bewunderung für die Berge, die verschwenderische Natur und ihre freiheitsliebenden Bewohner auf der einen Seite und einer gewissen kolonialen Herablassung, die der Autor schon bei Puschkin glaubt feststellen zu können. 

Ammons Monographie basiert ausschliesslich auf publizierten Quellen und einer reichen Sekundärliteratur. Ihr Verdienst liegt in der umsichtigen Auswahl und der äusserst dichten, aber übersichtlichen, chronologischen Darstellung des reichen Materials. Der Hauptakzent liegt wie erwähnt auf der Darstellung der subjektiven Befindlichkeiten besonders der Georgier in ihrem Verhältnis zu Russland, aber auch umgekehrt. Der klare Stil, der wohltuenderweise auf überflüssigen Jargon verzichtet, sichert die Lesbarkeit auch für ein nichtsspezialisiertes Publikum. Die sprachliche Gewandtheit zeigt sich auch im Kapitel über den Kauklasusmythos in der klassischen russischen Literatur, wo der Verfasser diverse Gedichte in eigener eleganter Übersetzung vorlegt. Mit der Transliteration hat er sich dagegen unnötig viel Mühe gemacht; die umständliche Darstellung der vorrevolutionären russischen und der georgischen Schrift verwirrt den Laien und ist für den Kenner überflüssig.  

Eine Eigenart der Arbeit stellen die Fussnoten dar, die den Textkorpus etwa wohl um ein Drittel verlängern. Glücklicherweise sind sie jeweils auf der betreffenden Seite angebracht, was ihre Lesbarkeit erleichtert. Es handelt sich dabei nicht selten um richtiggehende Exkurse, die ein Eigenleben entwickeln, deren aufmerksame Lektüre sich aber lohnt, da sich dort wesentliche Ergänzungen, aber auch persönliche Einschätzungen des Autors verbergen, dessen ausgedehnte Gelehrsamkeit zutage tritt. 

Generell zeichnet sich diese Darstellung durch ein hohes Mass an Objektivität und Ausgeglichenheit aus. Zu bedauern ist lediglich das Fehlen kartographischer Beilagen.

Man wünscht sich die logische Fortsetzung der Monographie. Die Rolle Georgiens bzw. der Georgier in der sowjetischen Periode der russischen Geschichte und der Umgang Moskaus mit der georgischen Unabhängigkeit nach 1991 stehen teilweise in der Kontinuität der ungleichen Beziehungen, die sich im 19. Jahrhundert herausbildeten. Ich denke etwa an die « Mythologisierung » Georgiens als Land, wo Milch und Honig fliesst, in der Sowjetunion, oder an die erstaunliche Bewunderung, die Stalin in gewissen Kreisen beider Länder noch heute geniesst. Wenn auch gegenwärtig die beiden Länder alles zu trennen scheint, bilden etwa die grosse georgische Diaspora in Russland mit ihren hervorragenden Vertretern in Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst, die zahlreichen russischen Touristen und die von gegenseitigem Respekt und Freundschaft getragenen Beziehungen der beiden nunmehr gleichberechtigten orthodoxen Schwesterkirchen möglicherweise den Keim für eine Normalisierung der Beziehungen zumindest auf dem Gebiet der « Volksdiplomatie ».

Lorenzo Amberg, Dr. phil., studied Slavic philology in Geneva, Leningrad, Zurich and Paris before joining the Swiss diplomatic service. During his tenure as the Ambassador of Switzerland to Georgia and Armenia in 2006-2010 with residence in Tbilissi he contributed actively to the establishment of the good offices of Switzerland between Georgia and the Russian Federation after the breaking up of the diplomatic relations in 2008.

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