Die verlorene Zeit – München, der Stau und das politische Versagen der Mobilität

Stau, Automotive, Quelle: 0532-2008
Stau, Automotive, Quelle: 0532-2008, Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig

In den großen Städten unseres Landes hat sich ein Zustand etabliert, der über Jahre hinweg zur selbstverständlichen Normalität geworden ist: Mobilität gelingt immer weniger, und ihre Störungen prägen zunehmend den Alltag. München steht exemplarisch für diese Entwicklung. Die „Global Traffic Scorecard 2025“ des Analyseunternehmens Inrix weist für die bayerische Landeshauptstadt 57 Stunden jährliche Stauzeit aus – genug für Platz fünf unter den staubelastetsten deutschen Städten. Nur Köln (67 Stunden), Düsseldorf (63 Stunden) sowie Berlin und Stuttgart (je 60 Stunden) liegen noch davor.

Diese Zahlen sind weit mehr als eine statistische Randnotiz. Sie beschreiben einen Zustand, der sich tief in die Lebenswelt der Menschen eingeschrieben hat – und sie zeigen, wie politisches Zögern, unzureichende Planung und ein mangelhafter Zukunftsentwurf die Grundlagen urbaner Mobilität aushöhlen. Stau ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis von Unterlassungen, Versäumnissen und dem Fehlen klarer Prioritäten.

Eine Infrastruktur am Limit – und eine Politik ohne Richtung

Die Münchner Verkehrslage macht sichtbar, was geschieht, wenn Städte wachsen, ohne dass ihre Infrastruktur entsprechend skaliert wird. Straßen, Knotenpunkte und Tangenten operieren seit Jahren am Rand ihrer Kapazität. Baustellen und Engpässe sind nur die Symptome eines tieferliegenden strukturellen Defizits. Politische Reaktionen bleiben häufig reaktiv, kleinteilig oder symbolisch. Was fehlt, ist eine strategische Gesamtschau, die über Legislaturperioden hinausreicht.

Ein Blick auf Köln, Düsseldorf, Berlin und Stuttgart zeigt: München ist kein Ausnahmefall. Deutschland hat die entscheidenden Modernisierungsschritte lange vertagt. Statt die Mobilität der Zukunft zu gestalten, wird der Status quo verwaltet – und damit verstetigt.

Die Zeitrechnung: Wenn Statistik Leben wird

Erst die Verbindung der jährlichen Stauzeit mit der durchschnittlichen Lebenserwartung macht das Ausmaß sichtbar. Männer leben in Deutschland statistisch 78,5 Jahre, Frauen 83,2 Jahre. Rechnet man diese Werte mit der Münchner Stauzeit, verliert ein Mann 186 Tage seines Lebens – eine Frau sogar rund 200 Tage. Selbst wenn man nur die aktiven Fahrjahre betrachtet, bleiben über 140 Tage, die im Stillstand vergehen.

Das ist keine abstrakte Rechengröße, sondern verlorene Lebenszeit: Zeit, die man anders hätte nutzen können; Zeit, die unwiederbringlich ist. Stau ist nicht nur ein logistisches oder ökonomisches Problem, sondern ein Eingriff in die Freiheit, über die eigene Zeit zu verfügen.

Beschleunigung und Stillstand – Gedanken von Hartmut Rosa und Paul Virilio

International betrachtet wirkt München beinahe moderat. In Mexiko-Stadt verlieren Autofahrer im Durchschnitt 108 Stunden pro Jahr, in Chicago 112 Stunden, und in Istanbul sogar 118 Stunden. Doch dieser globale Vergleich bietet keinen Anlass zur Beruhigung. Denn während Megastädte oft jahrzehntelang mit chaotischem Wachstum, politischen Krisen und mangelnder Infrastruktur ringen, verfügt Deutschland über die finanziellen und planerischen Ressourcen, seine Mobilität grundlegend zu erneuern. Dass dennoch erhebliche Stauzeiten entstehen, verweist nicht auf geografische oder gesellschaftliche Sachzwänge, sondern auf politische Unterlassungen.

Die moderne Verkehrskrise lässt sich nur verstehen, wenn man die theoretische Dimension der Beschleunigung mitdenkt. Hartmut Rosa beschreibt die Spätmoderne als eine Epoche der stetigen Beschleunigung: mehr Tempo, mehr Optionen, mehr Druck. Doch diese Beschleunigung führt nicht zu größerer Weltreichweite, sondern paradoxerweise zum Gegenteil: zu Entfremdung, Erschöpfung und – im physischen Sinne – zum Stau.

Paul Virilio hat diese Logik noch radikaler gefasst. In seiner Dromologie, der Lehre von der Geschwindigkeit, behauptet er, dass jede Beschleunigung zugleich ihren eigenen Unfall erzeugt. Geschwindigkeit ist für ihn nicht Befreiung, sondern ein Risiko, das seinen Schatten in Form des Stillstands wirft. Der Stau ist dann nicht das Gegenteil der Raserei der Moderne, sondern ihr notwendiges Produkt.

Unter dieser Perspektive wird die Münchner Verkehrslage zum Symptom einer Zivilisation, die immer schneller werden will und genau daran scheitert. Der Stau ist der Moment, in dem die Beschleunigung des Lebens in die Realität der begrenzten Infrastruktur kollidiert.

Ein globaler Trend – und ein deutsches Echo

Die Inrix-Daten zeigen, dass 62 Prozent der untersuchten Städte weltweit wachsende Stauzeiten aufweisen. Deutschland folgt dieser Entwicklung nahezu mustergültig: 56 von 73 Städten melden eine Verschlechterung. Während andere Länder milliardenschwere Programme für öffentliche Verkehrssysteme, digitale Steuerungen oder alternative Mobilität auflegen, verharrt Deutschland im Modus der Debatte und des Abwägens. Es entsteht der Eindruck eines Landes, das schneller diskutiert, als es handelt – und das deshalb im entscheidenden Moment zurückfällt.

Je intensiver Politik und Gesellschaft über Nachhaltigkeit, Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit sprechen, desto deutlicher treten die Defizite der Realität hervor. Städte wie München könnten Vorreiter moderner Mobilitätskonzepte sein. Doch die politische Praxis bleibt hinter den rhetorischen Ambitionen zurück. Das Ergebnis ist ein Paradox: Während die Gesellschaft beschleunigt, verharrt die Verkehrspolitik im Stillstand.

Mobilität entscheidet darüber, wie Menschen leben, arbeiten und teilhaben. Wer im Stau steht, verliert nicht nur Minuten oder Stunden, sondern Möglichkeiten: Räume der Selbstbestimmung, des sozialen Lebens, der Produktivität. Wenn ein Land zulässt, dass Menschen ein halbes Jahr ihres Lebens im Verkehr verlieren, dann ist das nicht nur ein Infrastrukturproblem, sondern ein politisches.

Der Stau als Spiegel unserer Gegenwart

Der Stau zeigt, wie sehr sich die Gesellschaft an Ineffizienz gewöhnt hat. Er zeigt eine Politik, die zu oft zögert, wo entschlossenes Handeln nötig wäre. Und er zeigt eine Öffentlichkeit, die beginnt, diese Zustände als unveränderlich hinzunehmen.

Doch der Stau ist keine Naturgewalt. Er ist ein menschengemachter Zustand – und kann deshalb überwunden werden. Die Frage ist nur, ob die Gesellschaft bereit ist, die Konsequenzen zu ziehen, die nötig wären, damit die Zukunft nicht im Stillstand endet.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2269 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".