Bertha von Suttner – Die Stimme aus der Stille

Bertha von Suttner - Briefmarke

Es gibt Frauen, die man nicht hört, weil sie schweigen – und es gibt Frauen, die man nicht überhören kann, weil ihr Schweigen selbst eine Rede ist. Bertha von Suttner war eine solche Stimme. Nicht schrill, nicht gewaltig, nicht prophetisch in Ton oder Pose – und doch eine der entschiedensten, tiefsten, dauerhaftesten Stimmen des Gewissens, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Geboren 1843 als Bertha Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau in Prag wuchs sie in eine altösterreichische Militärfamilie hinein, in eine Welt, in der Rang, Pflicht und Schweigen mehr gelten als Empfindung, Einsicht und Einspruch. Der Vater, ein General – längst verstorben bei ihrer Geburt –, bleibt als Schatten in der Geschichte ihres Denkens zurück. Denn von dort – aus dem Inneren des Systems – beginnt ihre Wende: die Metamorphose vom Dienst in den Machtstrukturen zur Absage an deren Gewalt. Sie wird keine Revolutionärin. Kein Barrikadenkind. Kein ikonoklastischer Geist. Sondern etwas Selteneres: eine Denkerin des Friedens, geboren aus Erfahrung, aus Bildung, aus einem aristokratischen Ethos, das sie nicht abschüttelt, sondern verwandelt.

Der Anfang in der Fremde

Ihre Jugend: eine Mischung aus Bildung, Entwurzelung und Abwarten. Der Adel hatte seine Erzählungen – Bertha aber suchte ihre eigenen. Als Erzieherin in adeligen Häusern, als Nomadin im Dienst ihrer eigenen Unabhängigkeit, beginnt sie, das zu tun, was bis dahin von einer Frau kaum erwartet wurde: selbst zu denken, selbst zu deuten, selbst zu schreiben. Ihr Weg führt sie nach Georgien – ins Exil der Liebe und des Anfangs. Mit Arthur Gundaccar von Suttner, dem sie heimlich heiratet, führt sie ein Leben fern vom Wiener Salon, aber nahe an der Wirklichkeit. Diese sieben Jahre werden ihr zur Schule: nicht der Pose, sondern des Ernstes. In der Stille des georgischen Rückzugs, zwischen politischen Spannungen, materieller Not und geistiger Arbeit, reift ihre Idee vom Menschen – nicht als Funktion, sondern als Aufgabe.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit der Widersprüche. Aufklärung und Nationalismus, Wissenschaft und Mythos, Fortschritt und Vernichtung marschieren nebeneinander. Das Militärische wird technisiert, die Kriege effektiver, der Mensch kleiner. In dieser Konstellation entscheidet sich Bertha von Suttner für eine Richtung, die nicht mit der Zeit, sondern gegen ihren Strom geht: den Frieden.

Aber nicht als bloße Utopie, nicht als sentimentale Flucht aus der Welt, sondern als geistige Anstrengung, als politische Haltung, als anthropologische Überzeugung. Sie kämpft nicht gegen den Krieg allein – sie kämpft gegen die Denkform, aus der der Krieg geboren wird: gegen das Freund-Feind-Schema, gegen das Denken in Blöcken, gegen den Glauben an Gewalt als Notwendigkeit.

Die Schrift als Schwert

Sie schreibt. Das ist ihre Waffe, ihr Werkzeug, ihr Weg. Und wie sie schreibt, ist mehr als bloße Mitteilung – es ist eine Bewegung. Kein Angriff, sondern ein Durchdringen. Kein Schlag, sondern ein Lichtstrahl. Mit ihrem Werk „Die Waffen nieder!“ schafft sie nicht nur einen literarischen, sondern einen moralischen Einschnitt. Eine fiktive Autobiografie, die mehr Wahrheit enthält als jede Rede. Es ist kein Roman im traditionellen Sinn – es ist eine Reflexion, ein Aufschrei, ein inneres Manifest. Sie spricht von Verlust, von Trauer, von Sinnlosigkeit. Aber nicht, um das Leid zu verklären, sondern um den Mechanismus sichtbar zu machen, der dahintersteht: der Automatismus der Gewalt, die Gewöhnung an den Tod, die Trägheit des Denkens, das sich mit dem Unvermeidlichen abfindet. Sie will nicht überzeugen – sie will erschüttern. Und gerade deshalb überzeugt sie.

In einer Welt, die Frauen in die Rolle der Stütze, der Dekoration, der Aufopferung drängt, wird Bertha von Suttner zur Denkerin, zur Aktivistin, zur Stimme eines anderen Prinzips. Sie fordert keine Macht – sie fordert Maß. Keine Herrschaft – sondern Mitverantwortung. Sie will nicht das männliche Prinzip umkehren – sondern durchbrechen. Für sie ist der Friede kein bloßes Ziel der Politik – er ist ein Ausdruck des geistigen Reifungsprozesses. Und Frauen, so sieht sie es, haben an dieser Reifung eine besondere Aufgabe: nicht, weil sie moralisch überlegen seien, sondern weil sie aus der Geschichte des Ausschlusses eine andere Perspektive mitbringen. Ihr Pazifismus ist kein bloßes Gegenprogramm. Er ist ein Ersetzen: von Rivalität durch Empathie, von Machtdemonstration durch Gestaltung, von Angst durch Vertrauen.

Im Zentrum ihres Denkens steht der Mensch – nicht als abstrakte Idee, sondern als verwundbares Wesen, das zur Vernunft befähigt ist. Ihr Glaube ist ein anthropologisches Vertrauen. Der Mensch kann anders. Nicht, weil er es immer tut – sondern weil er es kann. Dieses Können ist für Bertha von Suttner keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Verpflichtung. Frieden ist kein Zustand, den man einfach beschließt – er ist eine geistige Praxis. Eine Haltung. Eine tägliche Übung in Denken, Reden, Fühlen. Und nur, wer diese Übung ernst nimmt, kann Teil eines echten Wandels sein. So wird ihre Philosophie zugleich konkret und überzeitlich. Sie spricht über Rüstungsindustrie, über Militarismus, über Politik – und doch spricht sie immer vom Innersten: vom Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu den anderen.

Der Preis des Denkens

Bertha von Suttner war keine gefeierte Heldin ihrer Zeit. Oft wurde sie belächelt, ignoriert, bekämpft. Ihre Friedenskongresse waren kein Spektakel, sondern Versammlungen des Ernstes. Ihre Botschaft wurde vielfach als naiv abgetan – gerade von jenen, die sich als Realisten verstanden.

Aber ihr Realismus war tiefer. Er wusste um das Dunkle, um das Rückfällige, um das Irrationale. Und gerade deshalb forderte er mehr Licht, mehr Verstand, mehr Klarheit. Sie glaubte nicht an ein Paradies auf Erden – aber sie glaubte an die Notwendigkeit, das Inferno zu verhindern. Ihr Leben war nicht bequem. Es war geprägt von Widerstand, Anstrengung, Wegsehen anderer. Und doch blieb sie beharrlich. Weil sie wusste, dass es weniger braucht, um Krieg zu führen – aber mehr, um ihn zu verhindern. Und dass dieses „Mehr“ nicht geschenkt wird. Es muss gewonnen werden – durch Worte, durch Mut, durch Standhalten.

Ein prägendes Kapitel ihres Lebens ist ihre Verbindung zu Alfred Nobel. Zwei Denker aus unterschiedlichen Welten, und doch vereint in einer geistigen Achse. Zwischen ihnen eine stille, brieflich geführte Beziehung, aus der mehr hervorging als Zuneigung: ein Vermächtnis. Bertha von Suttner hatte einen Anteil daran, dass der Friedensnobelpreis als Kategorie in Nobels Testament aufgenommen wurde. Und sie wurde später selbst seine erste weibliche Trägerin. Nicht als Geste – sondern als Konsequenz. Doch diese Anerkennung kam spät. Zu spät, um ihre Ideen im politischen Raum wirklich zu verankern. Wenige Jahre nach ihrer Ehrung begann der große Krieg. Die alte Welt ging in Flammen auf. Und doch – ihre Stimme blieb. Nicht, weil sie den Lauf der Geschichte aufgehalten hätte, sondern weil sie ihm einen Spiegel entgegenhielt.

Die Form als Ethik

Ihre Sprache war kein Ornament. Sie war ein Mittel der Klärung. Sie schrieb nicht, um zu gefallen – sondern um zu durchdringen. Kein Pathos, kein Moralismus. Sondern eine klare, aufrechte Linie. Ihre Ethik war nie aggressiv – aber immer unerschütterlich. Sie glaubte an das Licht, aber sie machte sich keine Illusion über das Dunkel. Und vielleicht gerade deshalb hatte sie die Kraft, von Frieden zu sprechen, ohne trivial zu werden. Bertha von Suttner war keine Träumerin – sondern eine Wächterin der Freiheit und des Friedens, eine Frau, die nicht schlief, während die Welt ihre Rüstungen zählte. Eine, die aufstand – mit der Feder, nicht mit dem Schwert.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".