Unkenntnis über die „Umsiedler“

Landsberg/Warthe und Landsberg in Ostpreußen

Der am 3. Mai 2010 in Berlin verstorbene DDR-Historiker Stefan Doernberg (1924-2010) ist als Sohn aus Deutschland emigrierter Kommunisten in Moskau erzogen worden und hat 1945 als junger Offizier der „Roten Armee“ an der Eroberung Berlins teilgenommen. In seiner Autobiografie „Fronteinsatz“ (2004) berichtet er davon, dass er „auf halbem Wege zwischen Poznan und Küstrin“, also an der damaligen Reichgrenze zu Polen, ein Schild gesehen hätte, auf dem in russischer Sprache zu lesen gewesen wäre: „Hier beginnt das verfluchte Deutschland“. Dieses Schild, so fährt er fort, hätte ihn irritiert, weshalb er „eine Eingabe beim Frontstab wegen der Losung an der Grenze“ gemacht hätte, denn, so lautete seine Begründung am 31. Januar 1945, mehr als ein Vierteljahr vor Beendigung der Kampfhandlungen, diese „Gebiete östlich der Oder (seien) nach dem Krieg unter polnische Verwaltung zu stellen…Deutschland könne nicht hier beginnen. Polen als Verbündeter dürfte sich durch das Schild brüskiert fühlen.“ Einige Tage später, so liest man dann, „war das Plakat verschwunden. Jetzt verriet ein Wegweiser, wie weit es noch bis Berlin sei.“
Es sind diese kleinen, fast nebensächlich erscheinenden Bemerkungen in Autobiografien von Zeitzeugen, die ein spätes Licht auf das Schicksal unserer ostdeutschen Landsleute 1945 werfen und den nachgeborenen Lesern, 65 Jahre nach Kriegsende, die Augen öffnen: Die damals auf der Höhe ihrer Machtentfaltung stehende Sowjetunion hat mit der Abtrennung eines Viertels des deutschen Reichsgebiets, der gnadenlosen Vertreibung seiner Bewohner und der Westverschiebung Polens von Anfang an vollendete Tatsachen schaffen wollen! Eine Rückkehr in die Gebiete jenseits von Oder und Neiße, was 1950 mit dem „Görlitzer Abkommen“ besiegelt wurde, sollte für alle Zeiten verhindert werden!
Einen ähnlichen Zungenschlag, was die Flüchtlinge und Vertriebenen betrifft, kann man in Erich Hankes Autobiografie „Im Strom der Zeit“ (1976) ausmachen, die bezeichnenderweise im DDR-Militärverlag erschienen ist. Der 1911 geborene Autor, gelernter Maurer, der vor 1945 als Kommunist mit Erich Honecker im Gefängnis gesessen hat und danach in Ostberlin bis zum Professor aufsteigen konnte, gliedert sein Buch in acht Kapitel, deren zweites er kurz und knapp „Umsiedler“ nennt, womit die zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den preußischen Ostprovinzen gemeint sind. Hier erzählt er auf 25 Seiten, wie er am 27. September 1945 zu Franz Dahlem (1892-1981) gerufen wurde, der damals als KPD-Kaderleiter eines der höchsten Ämter unter Wilhelm Pieck (1876-1960) und Walter Ulbricht (1893-1973) bekleidete. Es ging um die Gründung der „Zentralverwaltung für Umsiedler“, um die mehr als vier Millionen Ostdeutschen reibungslos in die mitteldeutsche Nachkriegsgesellschaft einzugliedern, wozu Franz Dahlem äußerte: „Den Menschen Hoffnungen auf Rückkehr in ihre alten Wohngebiete zu machen, das wäre keine Hilfe, sondern Betrug, ja Verbrechen. Ehrliche Freunde der Umsiedler sind nur diejenigen, die keine verlogenen Versprechungen machen, sondern ihnen die volle Wahrheit sagen und zugleich helfen, schnell eine neue Heimat zu finden.“
Diese „Hilfe“ sah dann freilich so aus, dass die „Zentralverwaltung für Umsiedler“ bereits 1948, nach drei Jahren Arbeit, wieder aufgelöst wurde und durch das „Umsiedlergesetz“ von 1950 administrativ verfügt wurde, dass die Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen nunmehr abgeschlossen sei und die „Neubürger“ aus Schlesien oder Ostpreußen freudig in der neuen Heimat am „Aufbau des Sozialismus“ mitzuarbeiten hätten. Heimattreffen auf landsmannschaftlicher Ebene waren strikt untersagt und galten als „staatsfeindlicher Akt“. In Zweifelsfällen griff die „Staatssicherheit“ ein und unterband solche Bestrebungen, wie man im Buch von Heike Amos „Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990“ (2009) nachlesen kann.Trotz des Verbots fanden sie in Einzelfällen statt, unter streng konspirativen Bedingungen. So trafen sich beispielsweise im Leipziger Zoo jahrelang Hunderte von Sudetendeutschen bei Kaffee und Kuchen, was offiziell als Veranstaltungen der „Volkssolidarität“ ausgegeben wurde.
Wie Heike Amos in ihrem Buch zutreffend anmerkt, ließ Erich Hanke auch drei Jahrzehnte nach Kriegsende „keine Worte der Betroffenheit für die geflüchteten und vertriebenen Deutschen“ erkennen, speiste ihre verzweifelten Fragen nach ihrem künftigen Schicksal mit SED-Phrasen ab und erklärte apodiktisch: „Es war damals sehr schwer, denen, die so fragten, die historisch richtige Antwort verständlich zu machen.“Die „historisch richtige“ Antwort aus Erich Hankes Sicht war, dass die deutschen Gebietsverluste als die unvermeidbare Konsequenz aus dem imperialistischen Angriffskrieg des Deutschen Reichs gegen die friedliebende Sowjetunion zu betrachten seien. Diese „Erklärung des SED-Umsiedlerexperten Erich Hanke“ blieb, so Heike Amos, bis 1989 die „vergangenheitspolitische Grundlage“ der SED-Vertriebenenpolitik.
Dieser schroffe Standpunkt freilich, solche Fragen letztlich unbeantwortet zu lassen, hatte unübersehbare Folgen in der DDR-Literatur, in der das Thema „Flucht und Vertreibung“ immer wieder aufgegriffen wurde, in zwei Romanen sogar schon 1948, noch vor DDR-Gründung.Die unbeantwortete, aber dennoch immer wieder von den „Umsiedlern“ gestellte Frage nach dem „Warum“ ihres Heimatverlusts blieb eine Konstante der DDR-Literatur von Christa Wolf aus Landsberg an der Warthe über Ursula Höntsch-Harendt und Armin Müller aus Schlesien bis zu den Sudetendeutschen Renate Feyl und Hanns Cibulka. Auf den Seiten 232 bis 249 ihres wichtigen Buches hat Heike Amos eindrucksvoll über die „Umsiedlerfrage“ in der Literatur berichtet. So war zum Beispiel bis heute kaum bekannt, dass der junge Filmemacher Thomas Grimm, geboren 1954 in Aue/Erzgebirge, 1985, vier Jahre vor dem Berliner Mauerfall, einen Film „Umsiedler 45. Versuch eines filmischen Protokolls“ gedreht hat, der nie aufgeführt wurde. Die im Film von Thomas Grimm befragten Zeitzeugen waren geflohene Bauern aus Schlesien, die aus dem Dorf Schönau bei Glogau stammten und später in den Dörfern Braunichswalde und Gospersgrün bei Gera in Thüringen angesiedelt worden waren. Staatliche Stellen verhinderten 1986 die öffentliche Vorstellung des Films mit politischen Argumenten, die kaum überzeugen können: „ Man habe da wörtlich gemeint, dass dieser Film ein Schlag ins Gesicht der erfolgreichen Entwicklung der DDR-Landwirtschaft und Umsiedlerpolitik sei. Die Menschen sehen alle traurig und grau aus. Wenn das wirklich die Realität sei, dann haben sich 40 Jahre DDR-Entwicklung ja gar nicht gelohnt.“ (Thomas Grimm). Der Film konnte immerhin 1987 den betroffenen Bauern in Braunichswalde in einer geschlossenen Vorstellung gezeigt werden, einmal auch wurde er von Pfarrer Rainer Eppelmann in der Ostberliner Samariter-Gemeinde aufgeführt.
Leider aber sind in diesem ansonsten höchst verdienstvollen Buch von Heike Amos auch schlimme Fehler zu verzeichnen, was vermutlich auf die DDR-Erziehung der Autorin ,die 1962 in Ostberlin geboren ist und in Leipzig Geschichte und Germanistik studiert hat, zurückzuführen ist. So greift sie, bei der Interpretation des Christa-Wolf-Romans „Kindheitsmuster“ (1976), die Literaturkritikerin Annemarie Auer (1913-2002), die in der Zeitschrift „Sinn und Form“ den Roman auf 31 Seiten vernichtend rezensiert hatte, scharf an und wirft ihr vor, Landsberg an der Warthe mit Landsberg in Ostpreußen zu verwechseln und an diese Verwechslung Schlussfolgerungen zu knüpfen, die nicht zutreffen können, weil das falsche Landsberg gemeint sei. Heike Amos nennt das einen „schweren Irrtum“, begeht dann aber selbst einen, wenn sie schreibt: „Das Landsberg/Ostpreußen zählte unter Hitler zum Warthegau. Landsberg an der Warthe hingegen, der Kindheitsort von Christa Wolf, lag bis 1945 auf reichsdeutschem Gebiet.“ Und Ostpreußen sollte bis 1945 nicht„auf reichsdeutschem Gebiet“ gelegen haben? Selbst wenn man, bedingt durch den Unterricht an der Erweiterten Oberschule, mangelnde Geschichtskenntnisse bei der Autorin in Rechnung stellt, so fragt man sich, warum diese Wissenslücken nach zwei Jahrzehnten noch immer bestehen!

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Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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