„Es ist mir entsetzlich zu wissen, dass ich Sie anstecke…“ (Th. Bernhard)

Im Mai 1963, also genau vor fünfzig Jahren, erscheint ein Buch, das angesichts der in ihm vorherrschenden Finsternis, wohl einiges an Verwirrung im damaligen Literaturbetrieb ausgelöst haben dürfte. Zwar wurde der Erstlingsroman des damals 32-jährigen österreichischen „Mozarteum“-Absolventen von Carl Zuckmayer empfohlen und Bernhard hernach überschwänglich ein außerordentliches Talent beschieden, aber Ansätze zur Interpretation wurden nur höchst selten unternommen: Ein betretenes Schweigen über die Verstehensschwierigkeiten. Die bisherigen Lesegewohnheiten wurden offensichtlich arg in Frage gestellt und dürften bei dem ein oder anderen auch heute noch zu Irritationen führen.
In präziser Prosa – Bernhard arbeitete zeitweilig als Gerichtsreporter – und den ihn später daran erkennbaren typischen Endlosmonologen, wird die Geschichte einer fast wahnhaften Agonie erzählt: Ein todessüchtiger Maler hat sich in ein abgelegenes, inzestuös-triebhaftes und dunkelschwangeres Gebirgsdorf zurückgezogen. Dort lässt ihn sein Bruder durch einen Medizinstudenten beobachten. Auf Spaziergängen zwischen Gasthaus und Gletscher stellt sich der Maler bereitwillig dessen Wissbegier. Dieser trägt die Symptome menschlichen Verfalls eifrig in sein Tagebuch ein. Die Szenerie des oberösterreichischen Dorfes gerät dabei zu einem abgründigen, stumpfsinnbeherrschenden Alptraumbild, das Gehen durch die Landschaft einer sich im Frost auflösenden und zerfallenden „Menschenerbärmlichkeit“.
„Frost“ generierte sich in Struktur und Inhalt zu etwas radikal Neuem im Schaffen des Autors. Thomas Bernhard hatte bis dato zwar schon publiziert, doch seine drei Gedichtbände zeichneten sich eher durch „kreuzkatholische“ Lyrik aus. Auch die beiden Romanversuche („Schwarzach Sankt Veit“, „Der Wald auf der Straße“) bleiben weit hinter dem radikal Neuen zurück. Mit „Frost“ hingegen revolutionierte er Stil und Genre nachhaltig. Vorbei war es auf einen Schlag mit österreichischer Gemütlichkeit und Heimatdichterei. Bernhard beschimpfte fortan den Staat, dieses „Hotel der Zweideutigkeit“, ob seiner „kleinbürgerlichen Unzucht“ und in dem „die allgemeine um sich greifende Bevölkerungsverdummung“ himmelschreiende Ausmaße angenommen hatte. Beinahe absolutistisch verfolgt der Weltenhasser künftig sein Schaffen. Für ihn ist dem Menschen „nicht zu helfen in unserer Welt, die schon Jahrhunderte voller Heuchelei ist.“
In dem vorliegenden schmalen Bändchen werden erstmals zwei Fragmente zu eben jenem Debütroman veröffentlicht. „Argumente eines Winterspaziergängers“ enthält bereits später fast wortwörtlich im Roman wiederzufindende Textpassagen. Allerdings ist die Figurenkonstellation noch eine andere. Hier berichtet ein nicht näher bezeichneter Doktor – der spätere Maler Strauch – in brocken- und bruchstückhaften Kaskaden von seinen „Gedanken, Gedankengängen, Gedankentrümmern“, von seiner Kopf- und Körperqual, einem „Gewohnheitstodeskrankheitsgefühl“ und seinem „Kopf in der Finsternis, fest zugebunden mit Finsternis, den Kopf eingewickelt mit Fetzen aus Finsternis (…) in dem die Horizonte umkippen“. „Leichtlebig“ wiederum, das auch als faksimiliertes Typoskript abgedruckt ist, offenbart einen ganz anderen, noch relativ milden, umgänglichen, ja poetischen Ton. Hier ziehen sich noch detaillierte, wunderbare Landschaftsbeschreibung und genaue Personenbeobachtungen den Text. Eine Milieustudie, die allerdings schon die spätere Bissigkeit Bernhards anklingen und erahnen lässt.
Fazit: „Vage, alles ist vage, doch habe ich nicht die Absicht, mich jemals präzis zu äußern… (…) Die ganze Welt ist voller Einzelheiten. Man kann stundenlang in diesen Einzelheiten herumgehen, sich da und dort ein Stück aussuchen, es ausprobieren, es wieder auf den großen Einzelheitenhaufen zurückwerfen.“, formulierte Thomas Bernhard. Dies trifft gleichfalls auf die beiden „Frost“-Entwürfe zu. „Leichtlebig“ als auch die „Argumente eines Winterspaziergängers“, nebst der Abbildung des Faksimiles, das die Hand- und Kopfarbeit Bernhards vortrefflich dokumentiert, erlauben dem Leser die Nachverfolgung der Entstehung des ersten Romans des österreichischen Schriftstellers, dem „Meisters der Übertretung sämtlicher Gattungskonventionen des Romans“, wie Raimund Fellinger und Martin Guber in ihren editorischen Nachbemerkungen trefflich formulieren.

Thomas Bernhard
Argumente eines Winterspaziergängers
Zwei Argumente zu „Frost“
Suhrkamp Verlag (Mai 2013)
149 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3518423487
ISBN-13: 978-3518423486
Preis: 18,95 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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