Der Weihnachtsbaum – Hans Christian Andersen (1805-1875)

Draußen im Wald stand ein niedlicher kleiner Tannenbaum. Er hatte einen guten Platz. Die Sonnenstrahlen liebkosten ihn, und der Wind strich durch seine Zweige. Im nächsten Jahr war der Baum schon um einen bedeutenden Ansatz größer und das Jahr darauf noch um einen.
„Ach, wenn ich doch so groß wie die anderen Bäume wäre“, seufzte das Bäumchen, „dann könnte ich meine Zweige weit ausstrecken und mit meinem Wipfel in die weite Welt hinausblicken.“ Aber zwei Winter vergingen, und im dritten war das Bäumchen so groß, dass die Hasen darum herumlaufen mussten. „Nur wachsen, wachsen, groß und alt werden! Das ist doch das einzig Schöne auf der Welt!“ dachte der Tännling bei sich. Im Spätherbst kamen Holzhauer in den Wald und fällten die größten Bäume wie in jedem Jahr. Ihre Äste wurden abgehauen, nackt, lang und schmal wurden sie auf ein Fuhrwerk gehoben und in die Welt hinausgeführt. Als mit dem Frühling Storch und Schwalbe wiederkehrten, fragte der Tannenbaum : „Wisst ihr, wohin die großen Stämme geführt werden?“
Der Storch nickte mit dem Kopf und sagte: „Viele neue Schiffe sind mir begegnet, als ich in Ägypten war, auf den Schiffen waren gewaltige Mastbäume, und ich vermute, das waren die Tannen aus diesem Wald.“ – „Ach, wäre ich doch auch schon so groß, um über das Meer fahren zu können!“ – „Freu dich deiner Jugend!“ sagten die Sonnenstrahlen, „freue dich deines fröhlichen Wachstums und des frischen Lebens in dir!“
Um die Weihnachtszeit wurden ganz junge Bäume gefällt. „Wohin sollen sie?“ fragte der Tannenbaum. „Sie sind nicht größer als ich.“ – „Wir wissen es“, piepsten die Spatzen, „sie werden mitten in der Stube aufgepflanzt und mit den herrlichsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und vielen bunten Lichtern geziert.“ – „Ob es wohl auch mir beschieden ist, diesen strahlenden Weg zu gehen?“ fragte der Tannenbaum. „Das ist doch viel schöner als über das fremde Meer zu fahren.“
„Freue dich unser“, raunten die Luft und der Sonnenschein, „freue dich deiner frischen Jugend und deiner Freiheit.“ Aber der Tannenbaum freute sich gar nicht. Er wuchs und wuchs. Wieder kam Weihnachten und er wurde als erster gefällt. Ein großer Schmerz durchfuhr ihn, so dass er in Ohnmacht fiel. Er kam erst wieder zu sich, als er in einem Hof mit den anderen Bäumen abgeladen wurde und einen Mann sagen hörte: „Der ist prächtig! Den nehmen wir!“ Zwei Diener kamen und trugen den Tannenbaum in einen großen herrlichen Saal. An den Wänden hingen prachtvolle Bilder, und neben dem großen Kachelofen standen kostbare chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln. Da waren Schaukelstühle, seidene Ruhebetten, lange Tische mit Bilderbüchern. Der Tannenbaum wurde in ein mit Sand gefülltes Fass gestellt. Diener und Fräulein gingen umher und schmückten ihn mit kleinen Netzen aus buntem Papier, jedes gefüllt mit Zuckerwerk; vergoldete Nüsse und Äpfel hingen herab, und über hundert blaue, rote und weiße Kerzen wurden auf die Zweige gesteckt. Kleine Puppen schwebten im Grünen, und hoch oben auf der Spitze glänzte ein Stern aus Flittergold. Es war ganz unvergleichlich prächtig!
Oh, dachte der Baum, wäre es doch schon Abend, und was dann wohl geschehen würde! Am Abend wurden die Lichter angezündet. Oh, welcher Glanz! Welche Pracht! Plötzlich öffneten sich die großen Flügeltüren weit, und viele Kinder stürzten herein, die Kleinen standen ganz stumm, aber nur einen Augenblick, dann jubelten und schrieen sie, dass es nur so schallte. Sie tanzten um den Baum herum und nahmen ein Geschenk nach dem anderen von den Zweigen.
Was machen sie, dachte der Baum, was soll das? Und die Lichter brannten herunter bis auf die Zweige und wurden dann ausgelöscht. Und die Kinder durften den Baum plündern, dass es in allen Zweigen knackte. Niemand sah mehr auf den Baum. „Eine Geschichte, bitte eine Geschichte!“ riefen die Kinder und zerrten einen kleinen Mann zum Baum, und er setzte sich unter die Zweige. „Denn so sitzen wir im Grünen“, sagte er, „wollt ihr die von Ivede-Avede oder die von Klumpe-Dumpe hören?“
„lvede-Avede!“ schrieen die einen, „Klumpe-Dumpe!“ verlangten die andern. Und der Mann erzählte von Klumpe-Dumpe, der die Treppe hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt. Der Tannenbaum stand ganz still und in tiefe Gedanken versunken. Niemals hatten die Waldvögel solche Geschichten gewusst. Klumpe-Dumpe fiel die Treppe hinunter und bekam doch die Prinzessin zur Frau. Ja, ja, so geht es auf dieser Welt zu. Und er freute sich schon, am nächsten Morgen wieder mit Lichtern und Spielzeug geputzt zu werden. Am Morgen kamen der Knecht und die Magd herein. Doch sie schleppten ihn aus dem Saal hinaus auf den Boden. Dort stellten sie ihn in einen dunklen Winkel. Was soll das bedeuten, grübelte der Baum, was soll ich hier machen? Jetzt ist draußen Winter, deshalb können mich die Menschen nicht einpflanzen, darum soll ich wohl bis zum Frühjahr hier in sicherer Obhut stehen.
„Piep, piep“, machte da eine kleine Maus und huschte hervor. Hinter ihr kam noch eine zweite. „Woher kommst du?“ fragten die Mäuse. „Und was weißt du?“ Sie waren schrecklich neugierig. „Erzähl uns doch von den schönsten Orten der Erde. Bist du dort gewesen? Bist du in der Speisekammer gewesen, wo der Käse auf den Brettern liegt und die Schinken unter der Decke hängen?“ – „Nein, den Ort kenne ich nicht“, antwortete der Tannenbaum, „aber ich kenne den Wald, wo die Sonne scheint und die Vögel singen.“ Er erzählte nun alles aus seiner Kindheit.
„Wie viel du gesehen hast, wie glücklich du gewesen bist!“ sagten die kleinen Mäuse.
Dann berichtete er vom Weihnachtsabend, als er mit Kuchen und Lichtern geschmückt worden war. „Wie schön du erzählst!“ sagten die Mäuschen, und am nächsten Abend kamen sie mit vier anderen Mäuschen, damit auch sie den Baum erzählen hören sollten. Und am Sonntag erschienen sogar zwei Ratten; diese aber sagten, die Geschichte sei gar nicht hübsch, und das betrübte die Mäuschen, denn nun hielten sie auch weniger davon.
„Das ist ja eine höchst jämmerliche Geschichte“, sagten die Ratten. „Kennst du keine von Talglicht und Speck? Keine Speisekammergeschichte?“ – „Nein“, sagte der Baum. „Dann danken wir dafür!“ erwiderten die Ratten und gingen heim zu ihren Familien. Zuletzt blieben auch die Mäuse fort. Da wurde der Baum sehr traurig.
Und eines Tages kamen Leute auf den Speicher, und ein Diener trug den alten Tannenbaum auf den Hof. „Nun werde ich leben“, jubelte der Baum und breitete seine Zweige aus. Aber die waren alle vertrocknet und gelb. Nur der Stern aus Goldpapier saß noch oben an der Spitze und glänzte im hellen Sonnenschein. Die Kinder, die am Weihnachtsabend den Baum umtanzt hatten, kamen herbei und riefen: „Seht, was da noch an dem hässlichen alten Tannenbaum sitzt!“ Und sie traten auf die Zweige, dass es krachte und knickte.
Und der Baum sah auf all die Blumenpracht und die leuchtende Schönheit im Garten. „Vorbei, vorbei!“, seufzte er. „Hätte ich mich doch gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei! Vorbei!“
Der Hausknecht kam und hieb den Baum in kleine Stücke. Ein ganzes Bündel lag da und flackerte hell auf unter dem großen Braukessel. Das Holz knisterte, und es schien, als seufze der Baum, und er dachte noch mal an einen Sommertag im Wald oder an eine Winternacht da draußen, wenn die Sterne funkelten. Er dachte an den Weihnachtsabend und an Klumpe-Dumpe, das einzige Märchen, das er gehört hatte und zu erzählen verstand. Und dann war der Tannenbaum verbrannt.
Die Knaben spielten im Garten, und der kleinste trug den Goldstern, der den Baum an seinem glücklichsten Abend geschmückt hatte, auf seiner Brust. Nun war die Weihnachtszeit vorbei, und mit dem Tannenbaum war es vorbei und mit der Geschichte auch; vorbei, vorbei, und so geht es mit allen Geschichten!

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