Tygapuss veröffentlicht Single „Alien Girl“

warum die Frage „Woher kommst du?“ ein Problem ist

TYGAPUSS
Ein Flughafen in Deutschland, 1993. „Geht zurück, ihr Scheiss Russen!“ Mit diesen Worten kam der braune Lederkoffer aus der Gepäckausgabe zurück. Die Sängerin Tygapuss erinnert sich noch genau daran, denn es war der Tag ihrer Ankunft in Deutschland.
„Ich bin in Kasachstan aufgewachsen und habe als Kind mitbekommen, wie nervös die Erwachsenen wurden, als sich die Sowjetunion auflöste. Das Politische habe ich natürlich nicht verstanden – aber ich habe die leeren Regale in den Geschäften gesehen, die vorher mit Lebensmitteln gefüllt waren. Ich habe die Gespräche gehört, die sich um einen möglichen Krieg drehten. Ich spürte die Angst der Erwachsenen.

Meine Familie beschloss, nach Deutschland auszuwandern. Für uns war es eigentlich wie eine Rückkehr in die alte Heimat, da wir deutsche Wurzeln hatten und in Kasachstan immer als „die Deutschen“ galten. Ich war 8 Jahre alt, sehr aufgeregt und neugierig auf das neue Land. Doch innerhalb einer Sekunde verwandelte dieser Satz auf dem Koffer meine Freude in Angst und Traurigkeit. Scheinbar waren wir in Deutschland „die Russen“.

Obwohl wir nach dem Vorfall am Flughafen sehr gut aufgenommen wurden und viele liebe Menschen uns geholfen haben, hier Fuß zu fassen, hat sich dieser Moment in mein Unterbewusstsein eingebrannt.“

Dieser Moment war die Inspiration für den kürzlich veröffentlichten Song „Alien Girl“. Das 3-teilige Musikvideo fängt mit einer Szene an, in der die Sängerin versucht, den Spruch „Go back home!“ von ihrem Koffer wegzuwischen.

„Ich habe mich schon als Kind sehr angestrengt, schnell die deutsche Sprache zu lernen, doch die ständige Frage „Woher kommst du?“ hat mich immer wieder daran erinnert, dass ich noch einen osteuropäischen Akzent hatte. Und dass ich eigentlich nicht von hier bin.

Das Gefühl der Nichtzugehörigkeit ist ganz tief in mir verankert und ich musste lernen, damit umzugehen. Lange Zeit befand ich mich in einer Identitätskrise. Ich wusste nicht, ob ich deutsch oder russisch bin. Die Frage, wo ich eigentlich hingehöre, hat mich innerlich zerfressen. Rückblickend habe ich wohl eine Depression durchgemacht, ohne damals zu wissen, was das genau war.“

Während dieser Zeit hat sich die Musikerin oft gefragt, warum es eigentlich so wichtig ist, zu wissen, woher jemand kommt.

„Ich verstehe, dass der Satz „Woher kommst du?“ meist aus ehrlichem Interesse gefragt wird. Auch ich mache das. Aber es hat sich gezeigt, dass dieser Satz problematisch ist, weil er das Potenzial hat, Gefühle auszulösen, die unnötig und in vielen Fällen sogar schmerzhaft sind. Wenn mich jemand gefragt hat, woher ich komme, hatte ich das Gefühl, dass meine ganze Anstrengung, mich anzupassen und zu integrieren, nichts gebracht hat. Ich sagte dann immer: „Ich bin aus Kasachstan, aber ich habe deutsche Wurzeln.“ Das klang wie eine Rechtfertigung oder ein Betteln danach, angenommen zu werden.

Wie wäre es, wenn wir diese Frage einfach weglassen würden? Einfach als gesellschaftliches Experiment. Wie würde sich die Gesellschaft entwickeln, wenn wir die Frage nach der Herkunft ausklammern? Wir sind doch alle Bürger dieses Planeten. Vielleicht würden wir dann genauer darauf achten, mit wem wir sprechen, wen wir da vor uns haben, statt ihn mit dieser Frage nur grob in eine Schublade zu stecken.

Vielleicht würde dann die individuelle Persönlichkeit einen höheren Stellenwert beim Kennenlernen einnehmen und nicht verschleiert werden durch kulturelle Unterschiede und Vorurteile.“

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