Im Rausch der Revolutionen und im langen Schatten Kants formierte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Bewegung, die nicht weniger als die Wiederverzauberung der Welt mit den Mitteln der Vernunft versprach. Drei junge Männer, Fichte, Schelling und Hegel, standen im Zentrum dieses geistigen Aufbruchs. Ihr gemeinsames Credo formulierten sie in jenem berühmten, bis heute diskutierten Text, dem sogenannten Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus – einer kühner Handschrift, entstanden vermutlich 1796/97, vielleicht von Hegels Hand, vielleicht von Schellings. Sicher ist: Es spricht für eine gemeinsame Idee, eine jugendliche Revolte mit philosophischem Ernst.
Es ist eine Vision: Philosophie soll System sein – nicht Sammlung von Traktaten, sondern Totalität. Und sie soll politisch sein, poetisch, aufklärerisch und zugleich religiös im höchsten Sinne: als „System der Freiheit“. Was diese junge Generation einte, war nicht primär eine einheitliche Metaphysik, sondern ein gemeinsamer Wille zur Ganzheit. Sie wollten der zersplitterten Welt ein neues geistiges Zentrum geben.
Fichte: Die Tat des Ich als Urszene der Freiheit
Johann Gottlieb Fichte war der erste, der sich systematisch aus dem kantischen Denken herauslöste. In seinem „Wissenschaftslehre“-Projekt erhebt er das Ich zum absoluten Prinzip. Es ist nicht mehr das empirische Ich, sondern das transzendentale, das sich selbst setzt, seine eigene Grenze schafft und durch den Widerstand der Welt zur Freiheit gelangt. Fichtes Idealismus ist ein radikal praktischer: Der Mensch ist nicht, was er ist, sondern was er werden soll. Der kategorische Imperativ wird zur Handlungsanweisung einer Weltveränderung.
Fichte ist Revolutionär, nicht nur politisch, sondern geistig: Er fordert vom Philosophen, die Welt neu zu denken, im Zeichen der Freiheit. In dieser Hinsicht ist er der Proklamator jener Bewegung, die im Systemprogramm erstmals poetisch, fast prophetisch skizziert wird: Ein neues System der Philosophie, das in der Idee der Freiheit den Mittelpunkt findet.
Schelling: Die Natur als lebendiger Geist
Schelling, der Jüngste im Bunde, aber oft der Radikalste, überwindet Fichtes Ich-System, indem er das Absolute nicht mehr nur im Selbstbewusstsein, sondern in der Natur selbst sucht. Seine „Naturphilosophie“ ist der Versuch, die Natur nicht mehr als toten Mechanismus, sondern als werdenden Geist zu verstehen. Das Organische, das Wachsende, das Mythische rücken in den Mittelpunkt. Fichte, so meint Schelling, bleibt gefangen im Subjekt – wahre Philosophie muss das Absolute als Identität von Subjekt und Objekt denken.
Schellings „Identitätsphilosophie“ sucht die Einheit, nicht durch Abstraktion, sondern durch Intuition. In der Kunst, besonders der romantischen, erkennt er das Vorbild der Philosophie: Die Kunst versöhnt Gegensatz in einer Schau, in einer unmittelbaren Idee. Das Systemprogramm, das vielleicht seiner Feder entstammt, trägt diese Handschrift: Das Poetische, das Erhabene, die Rede von einem „neuen Mythos“ – all das ist Schellings Handschrift.
Hegel: Die dialektische Bewegung des Begriffs
Hegel, der später das umfassendste System schaffen sollte, beginnt seine Philosophie im Dialog mit Schelling und Fichte. Doch seine Methode wird die genaueste, seine Sprache die schwerste, seine Philosophie die geschlossenste. Hegels Denken ist Bewegung – nicht nur Entwicklung, sondern Selbstentfaltung des Geistes im Medium des Begriffs. Wo Schelling noch das Absolute als ruhende Einheit denkt, sieht Hegel das Wahre nur als das Ganze, das sich durch Widerspruch hindurch realisiert.
Seine Dialektik – These, Antithese, Synthese – ist kein Schema, sondern die innere Logik eines sich selbst denkenden Geistes. Freiheit ist für ihn nicht die bloße Unabhängigkeit, sondern die Anerkennung des Anderen im Selbst. In der „Phänomenologie des Geistes“ lässt er das Bewusstsein durch alle Stufen der Verirrung und Entfremdung hindurchschreiten, um am Ende in der absoluten Vernunft anzukommen.
Das Systemprogramm lebt in Hegel fort – gereift, entschlackt, systematisch ausgeführt. Die Vision einer neuen Philosophie, die Kunst, Religion und Wissenschaft versöhnt, wird in Hegel Realität. Und doch: Der jugendliche Schwung, die poetische Emphase des Programms bleibt bei Hegel gebändigt. Das Pathos der Freiheit weicht der Logik des Systems.
Eine Idee, drei Wege: Das Erbe des Programms
Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus ist kein Bauplan, sondern ein Weckruf. Es ruft auf zur Totalität des Denkens, zur Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit, von Freiheit und Gesetz. Fichte, Schelling und Hegel gehen diesen Ruf auf je eigene Weise ein. Fichte als Ethiker der Tat, Schelling als Philosoph der Natur und Kunst, Hegel als Architekt des Weltgeistes.
Und doch ist ihnen eines gemeinsam: Sie glauben an die Macht des Geistes, an die Wandlungsfähigkeit des Menschen, an die Möglichkeit, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern neu zu ordnen. In einer Zeit, da Religion, Politik und Wissenschaft auseinanderdriften, versuchen sie ein letztes Mal, alles in einem Gedanken zu fassen.
Vielleicht ist das ihr größter Irrtum. Vielleicht auch ihre größte Wahrheit. Denn was bleibt, ist der Anspruch: Philosophie muss mehr sein als Wissenschaft – sie muss Weltanschauung sein, Poesie, Tat.
Und das ist, bei aller Systemkritik, das bleibende Erbe dieses Programms: Es fordert den Philosophen auf, nicht nur zu denken, sondern zu entwerfen. Nicht nur zu analysieren, sondern zu beflügeln. Und darin sind Fichte, Schelling und Hegel mehr als Denker: Sie sind, jeder auf seine Weise, Dichter einer Idee, deren Zeit immer wieder neu beginnt.
