Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus: Der utopische Kern

Bild und Schrift, Foto: Stefan Groß-Lobkowicz

Dieses Dokument ist kein philosophischer Traktat, kein ausgefeilter Bauplan, sondern ein Manifest. Und wie jedes Manifest atmet es den Geist des Aufbruchs, des Mutes zur Vision. Geschrieben im Milieu der Tübinger Stiftler, im Dunstkreis von Hegel, Schelling und dem Dichter Hölderlin, erhebt es Anspruch auf nichts Geringeres als die Umwälzung des Denkens selbst.

Die Philosophie, so heißt es, sei in einem Zustand der Zersplitterung. Die Einzelwissenschaften, jede für sich ein eigener Kosmos, haben sich vom Zentrum entfernt, sind methodisch isoliert. Was fehlt, ist das einigende Prinzip, die innere Mitte. Und dieses Prinzip, das den Anspruch erhebt, alles Denken zu ordnen, zu versöhnen, ja zu heilen, ist die Idee der Freiheit.

Hier erhebt sich der revolutionäre Ton. Freiheit ist nicht bloß eine politische Kategorie, sondern der metaphysische Grund aller Weltordnung. Die Philosophie, die sich auf diese Idee gründet, wird selbst zur Handlung, zur Tat, zur Weltveränderung. Freiheit ist kein Zustand, sie ist ein Werden, eine Kraft, die in der Welt wirkt, eine Bewegung, ein Prinzip.

Und doch: Der Autor – wer auch immer es war – weiß, dass das allein nicht genügt. Die Freiheit bedarf einer Form, eines Ausdrucks, einer Inkarnation. Und hier tritt – in einem der gewagtesten Gedankensprünge der neuzeitlichen Philosophie – die Ästhetik ins Zentrum. Nicht mehr der logische Beweis, nicht die mathematische Strenge, sondern das Schöne, das Poetische, das Kunstvolle wird zur höchsten Gestalt der Wahrheit.

Hier leuchtet ein neuer Typus des Philosophen auf: nicht mehr der Scholastiker, der Systemdenker, sondern der Dichter. Der, der die Idee in das Sinnliche übersetzt, in das Bild, in die Sprache, in den Mythos. Die Philosophie muss poetisch werden, weil sie sonst abstrakt bleibt, wirkungslos, blutleer. Das ästhetische Genie tritt an die Stelle des dogmatischen Rationalisten.

Der Mythos der Zukunft: Poesie als Religion der Freiheit

Es ist dies vielleicht die kühnste, die prophetischste Passage des Textes: Der Ruf nach einem neuen Mythos. Nicht Rückkehr zur antiken Götterwelt, nicht romantische Flucht in alte Bilder, sondern Schaffung einer neuen symbolischen Ordnung, die der Freiheit entspricht. Dieser Mythos soll nicht verdummen, sondern erheben. Er soll nicht unterwerfen, sondern befreien. Eine Religion der Freiheit, geschaffen von Philosophen, getragen von der Kunst.

Das Systemprogramm fordert nicht nur eine neue Philosophie, sondern einen neuen Menschheitstraum. Es ist ein Dokument tiefster Entschlossenheit: Der Geist soll sich selbst genügen, soll seine Welt neu schaffen, seine Symbole, seine Ethik, seine Kunst. Der Mensch wird zum Schöpfer, zum Demiurgen seines eigenen Kosmos.

Und dieser Kosmos ist kein kalter, logischer Bau, sondern ein lebendiger Organismus, wie Schelling ihn sehen wollte. Er ist ein Geschichtsprozess, wie Hegel ihn entfalten wird. Und er ist ein moralisches Universum, getragen vom Ich, wie Fichte es lehrte.

Das Vermächtnis: Der Aufruf zur Totalität des Geistes

Was bleibt vom ältesten Systemprogramm? Nicht ein System, sondern ein Systemwille. Ein Manifest für die Einheit des Denkens, für die Versöhnung von Kunst, Religion und Wissenschaft. Es ist die Geburt des deutschen Idealismus in seiner leidenschaftlichsten Form: nicht als akademische Schule, sondern als kulturelle Revolution.

Fichte, Schelling und Hegel haben dieses Programm auf je eigene Weise eingelöst. Fichte, der Revolutionär der Tat, sah in der Freiheit das erste Prinzip. Schelling, der Mystiker der Natur, fand in der Kunst die Versöhnung des Endlichen mit dem Absoluten. Und Hegel, der Dialektiker der Geschichte, verwandelte den Mythos in den Begriff.

Doch keiner von ihnen hätte das gewagt, hätte nicht dieser kleine Text den Mut gehabt, eine Vision zu entwerfen. Eine Vision, die noch heute provoziert, inspiriert, herausfordert.

Denn was ist Philosophie, wenn nicht der kühnste Versuch, das Ganze zu denken? Und was ist der Mensch, wenn nicht das Wesen, das sich nach Totalität sehnt – nicht um zu herrschen, sondern um zu verstehen?

Das älteste Systemprogramm bleibt ein Flammenzeichen am Horizont des Geistes. Es fordert uns auf, nicht klein zu denken. Nicht nur zu analysieren. Sondern zu entwerfen. Zu dichten. Zu glauben – an den Menschen, an die Freiheit, an das Schöne.

 

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".