Der Dalai Lama wird 90 Jahre alt

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Es gibt Persönlichkeiten, deren Strahlkraft sich nicht aus Macht, Reichtum oder Einfluss speist – sondern aus Haltung. Aus innerer Klarheit. Aus einem festen ethischen Fundament, das nicht auf schnelle Wirkung, sondern auf geistige Tiefe setzt. Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, ist eine solche Figur. Am 6. Juli 1935 im abgelegenen Dorf Taktser in der chinesischen Provinz Qinghai geboren, wächst er in eine Welt hinein, die – wenn überhaupt – nur noch in Geschichtsbüchern existiert: eine spirituelle Monarchie, eingebettet in die karge Mystik des tibetischen Hochlands, abgeschirmt von den Umbrüchen der Moderne.

Doch das Schicksal meinte es weder ruhig noch beschaulich mit ihm. Mit zwei Jahren wird er als Reinkarnation des 13. Dalai Lama erkannt, mit fünf zieht er in den Potala-Palast in Lhasa ein – und übernimmt mit fünfzehn die spirituelle und politische Führung eines Landes, das bald darauf zum geopolitischen Spielball zwischen alter Welt und kommunistischer Moderne wird. Als die Volksrepublik China 1950 Tibet militärisch besetzt, steht Tenzin Gyatso an der Schwelle zwischen Kontemplation und Konfrontation. Neun Jahre später flieht er ins indische Exil – mit demütiger Entschlossenheit, aber ohne Groll. Es ist die Geburtsstunde eines Mannes, der fortan nicht mehr bloß ein religiöses Oberhaupt sein wird, sondern ein universeller Botschafter des Friedens.

Der Dalai Lama – eine politische Figur wider Willen

Wer den Dalai Lama auf sein orangefarbenes Mönchsgewand, auf Mantras und Meditationsseminare reduziert, verkennt seine Bedeutung. Denn Gyatso ist nicht nur der charismatische Vertreter des tibetischen Buddhismus – er ist ein Staatsmann ohne Staat, ein Realpolitiker der Sanftheit, ein moderner Aufklärer im Gewand der Tradition. Zwischen 1959 und 2011 leitete er die tibetische Exilregierung mit Sitz in Dharamsala – eine Institution, die zwar nicht völkerrechtlich anerkannt ist, aber moralische Autorität ausstrahlt wie kaum eine andere.

Politisch tritt Gyatso für Autonomie ein – nicht für Unabhängigkeit. Er hat nie gefordert, China müsse Tibet freigeben. Stattdessen spricht er vom „Mittleren Weg“: kulturelle Selbstbestimmung im Rahmen der Volksrepublik. Ein Angebot, das Peking stets ausschlug. Denn was die KP-Führung am meisten fürchtet, ist nicht Separatismus – sondern eine Idee, die anziehender ist als jede Ideologie: die der gewaltlosen Freiheit.

Die Flüchtlingsfrage – Mitgefühl ohne Naivität

In einer Zeit, in der Nationalismen erstarken und politische Lager in sich verhärten, hat sich der Dalai Lama mit Aussagen zur Flüchtlingskrise in die Debatte eingeschaltet – und dabei auch Kritik geerntet. Denn Gyatso, der in seinem eigenen Leben die Erfahrung von Vertreibung und Exil gemacht hat, spricht sich zwar klar für humanitäre Hilfe aus, warnt aber zugleich vor Überforderung und kultureller Erosion. In einem Interview sagte er 2016: „Europa gehört den Europäern. Flüchtlinge sollten zunächst Hilfe bekommen – aber irgendwann zurückkehren und ihr eigenes Land wieder aufbauen.“

Das ist keine Abschottungsparole, sondern der Versuch, Mitgefühl und Realismus zu versöhnen. Der Dalai Lama denkt nicht in Kategorien des Westens, sondern in jenen des Gleichgewichts. Für ihn ist Integration kein technokratisches Projekt, sondern eine spirituelle Aufgabe – ein gegenseitiges Geben und Lernen. Wenn Europa, so sein Appell, seine kulturelle Identität aufrechterhalten will, darf es nicht naiv sein. Hilfe ja, aber mit Weitblick. Seine Stimme mahnt nicht zur Abschottung, sondern zur Balance.

Warum er ein Vorbild ist – und bleibt

In einer Zeit, in der ethische Orientierung oft zum Marketinginstrument verkümmert, ist der Dalai Lama ein Fels in der Brandung. Er besitzt etwas, das vielen fehlt: moralische Autorität. Sie speist sich nicht aus politischer Macht oder medialer Inszenierung – sondern aus Konsequenz. In 70 Jahren Engagement hat er nie zu Gewalt aufgerufen. Er hat nicht polarisiert, sondern moderiert. Nicht verurteilt, sondern inspiriert.

Was ihn einzigartig macht, ist seine Fähigkeit, Spiritualität mit säkularer Ethik zu verbinden. Gyatso predigt keinen missionarischen Buddhismus, sondern universelle Werte: Mitgefühl, Achtsamkeit, Bescheidenheit, Selbstverantwortung. Seine Popularität im Westen rührt genau daher: Er bietet Orientierung ohne Dogma, Sinn ohne Zwang. In einer Welt, die immer lauter wird, bleibt seine Stimme leise – und gerade deshalb hörbar.

Der Dalai Lama hat das geschafft, woran die meisten Weltführer scheitern: Er hat Vertrauen aufgebaut. In einer Epoche, in der Wahrheiten fragmentieren und Ideologien kollidieren, bietet er einen inneren Kompass. Kein Heilsversprechen, sondern eine Einladung zum Denken und Fühlen. Und inmitten all der Stimmen, die schreien und zerren, bleibt er einer, der zuhört – und lächelt.

Ein 90. Geburtstag – mehr als ein Jubiläum

2025 feiert Tenzin Gyatso seinen 90. Geburtstag. Es ist mehr als ein runder Jahrestag. Es ist ein Anlass, innezuhalten. Nachzudenken. Was ist aus der Welt geworden, für die er ein Leben lang gekämpft hat? Ist sie friedlicher? Gerechter? Oder entfernt sie sich von jenen Idealen, die er so unbeirrbar vertritt?

Vielleicht liegt genau darin seine größte Leistung: dass er uns nicht mit Antworten abspeist, sondern mit Fragen zurücklässt. Was bedeutet Menschlichkeit in einer globalisierten Welt? Wie bleibt man klar, ohne hart zu werden? Und was heißt Verantwortung – nicht abstrakt, sondern ganz konkret, im täglichen Leben?

Der Dalai Lama beantwortet diese Fragen nicht mit Parolen, sondern mit Haltung. In einer Welt voller Zynismus ist er ein Hoffnungsträger geblieben. Und das, ohne sich je anzubiedern.

Tenzin Gyatso ist kein Guru. Kein Politiker im klassischen Sinne. Und schon gar kein Moralist. Er ist – und bleibt – ein Lehrer des Menschlichen. Und wer ihm zuhört, hört nicht nur Tibet, sondern die Stimme einer Welt, die sich nach Frieden sehnt, aber oft nicht weiß, wo sie ihn suchen soll. Vielleicht – ganz vielleicht – liegt die Antwort nicht im Lauten. Sondern im Leisen. Nicht im Kämpfen. Sondern im Verstehen.

Und genau deshalb wird der Dalai Lama bleiben – auch wenn er eines Tages nicht mehr da ist.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".