Der öffentlich-rechtliche Rundfunk droht seine demokratische Mission zu verlieren. Was fehlt, ist nicht mehr Meinung, sondern mehr Zeit. Zeit für Tiefe, für Differenz, für Europa. Von Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz.
Es gehört zu den großen Paradoxien unserer Gegenwart, dass wir in einer Welt nie dagewesener Informationsfülle leben – und zugleich im Rauschen der Oberflächlichkeit versinken. Zwischen Kochshows, Quizformaten und immergleichen Serien ist das Fernsehen, einst die Agora der Demokratie, zur Bühne der Belanglosigkeit geworden. Alexander Kissler sprach von einem „Fernsehen, das in weiten Teilen verdummt“. Man möchte ergänzen: Es ist ein Fernsehen, das die Tiefe scheut, weil Tiefe Zeit braucht – und Zeit ist heute das knappste Gut.
Die Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist keine Frage der Formate, sondern eine des Geistes
Gerade jene, die mit dem linearen Fernsehen aufgewachsen sind, finden sich in dieser Welt kaum mehr wieder. Ihnen bleiben imposante Tierfilme und Luftaufnahmen aus der Vogelperspektive, die in ihrer Schönheit nichts mehr erzählen. Die Ästhetik des Dokumentarischen hat die Ethik des Politischen verdrängt.
Doch die Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist keine Frage der Formate, sondern eine des Geistes. Nachrichten belehren statt zu informieren, Magazine agitieren statt zu analysieren. Haltung ersetzt Argument, Moral ersetzt Denken. Die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus wird fließend. Eine neue Form der Einseitigkeit ist entstanden – sanfter, subtiler, aber nicht weniger gefährlich als jene vergangener Systeme. Karl-Eduard von Schnitzlers „Schwarzer Kanal“ war wenigstens ehrlich in seiner Parteilichkeit. Heute geschieht sie unter dem Etikett der Objektivität.
Der Verlust an Vielfalt ist der Nährboden für Radikalisierung
Das Ergebnis ist bekannt: Viele Bürger fühlen sich nicht mehr repräsentiert, suchen Orientierung auf Plattformen, die mit Misstrauen und Wut handeln. Indem der Mainstream den Diskurs verengt, befeuert er die Extreme. Der Verlust an Vielfalt ist der Nährboden für Radikalisierung.
Besonders sichtbar wird diese Leerstelle in der europäischen Berichterstattung. Sitzungen aus Brüssel und Straßburg sind in den Nachrichtensendungen kaum mehr als eine Randnotiz – dabei ist die Europäische Union längst der Ort, an dem entschieden wird, was die nationalen Parlamente nur noch nachvollziehen. Energiepolitik, Migration, Datenschutz, Landwirtschaft – all das wird in den Ausschüssen von Straßburg und Brüssel verhandelt. Doch wer berichtet davon?
Warum hören wir nicht regelmäßig aus den Fraktionen des Europäischen Parlaments – von der EVP über Sozialdemokraten und Liberale bis hin zu den Grünen und Konservativen? Warum werden die großen Debatten Europas, die über Wohlstand, Frieden und Souveränität entscheiden, nicht sichtbar gemacht? Europa bleibt unsichtbar, weil man ihm keine Bühne gibt.
Verlängert die Tagesschau
Die Lösung wäre einfach, aber wirkungsvoll: Verlängert die Tagesschau. Gebt ihr zehn Minuten mehr – nicht für weitere Wetternachrichten oder Randglossen der Geschichte, sondern für Differenz, Debatte und Demokratie. Für Stimmenvielfalt statt Meinungsmacht. Für Europa als politischen Raum, nicht als bürokratischem Monster. Eine zeitlich erweiterte Tagesschau, die den europäischen Diskurs sichtbar macht, wäre der erste Schritt zu einer neuen Öffentlichkeit: einer, die informiert statt belehrt, die zeigt, statt deutet, die Vertrauen schafft, weil sie Widerspruch zulässt.
Denn Demokratie, das wusste Hannah Arendt, lebt nicht vom Konsens, sondern vom Gespräch. Und dieses Gespräch beginnt dort, wo man zuhört – auch jenen, die anders denken. Europa braucht Öffentlichkeit. Und der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht Europa.
