Nur wenige Schriftsteller haben sich in ihrem Werk so ausführlich mit Krankheit und Tod auseinandergesetzt wie Thomas Mann. Krankheiten waren für ihn Faszination und Inspiration, Rätsel und Geheimnisse sowie eine Quelle schöpferischer Kraft. Diese Leidenschaft hatte einen hohen Preis: er wurde selbst Opfer dieser fragwürdigen Neigung. Bereits in jungen Jahren litt er unter vielen körperlichen und seelischen Symptomen. Bald wurde er als „Neurastheniker“ oder „Neurotiker“ mit seinen Beschwerden nicht mehr so ernst genommen (Reich-Ranicki 2005, Borchmeyer 2022). Im Alter wurde er dann doch ernsthaft krank. Mit 71 Jahren wurde bei ihm im Exil in den USA Lungenkrebs festgestellt und er wurde dort erfolgreich operiert (Stobbe 1983, Csef 2016).
Großen Raum nehmen Krankheiten in seinen Romanen ein. Sein Erfolgsroman „Die Buddenbrooks“, für den er im Jahr 1929 den Literaturnobelpreis erhielt, präsentiert er mit dem Protagonisten Christian Buddenbrook das Vollbild einer Neurasthenie, die in einem Lehrbuch der Psychiatrie nicht besser hätte beschrieben werden können. Im Jahr 2017 war in Lübeck zu diesem Thema eine mehrtägige Tagung mit dem Thema „Thomas Mann und die Neurasthenie“, deren Vorträge einige Jahre später als Sammelband erschienen sind (Stammberger, Lipinski & Borck 2021). Das moderne „Krankheitsbild“ Burn-out hat viele Gemeinsamkeiten mit der Neurasthenie. So ist es nicht überraschend, dass kürzlich „Der Spiegel“ Thomas Mann als „den Großvater des Burn-outs“ bezeichnete (Iken 2025).
Im ebenfalls sehr erfolgreichen Roman „Der Zauberberg“ steht die Krankheit Tuberkulose im Mittelpunkt. Im Roman „Doktor Faustus“ geht es um die Syphilis, in der Erzählung „Die Betrogene“ um Unterleibskrebs. Thomas Mann hat intensiv medizinische Fachliteratur studiert, um seine Werke wirklichkeitsnah zu gestalten. Er hoffte sogar, einen Ehrendoktor der Medizin zu erhalten (Max 2025). Den bekam er nicht – aber immerhin den Literaturnobelpreis.
Diese ersten Zusammenhänge zeigen, dass Thomas Mann selbst unter einer Neurasthenie litt und schließlich zum literarischen Erstbeschreiber dieses Krankheitsbildes wurde. Begonnen haben seine eigenen gesundheitlichen Anfälligkeiten und Leidenszuständen bereits im Jugendalter. Sein Romandebüt „Die Buddenbrooks“ erschien einige Jahre später im Jahr 1901, als er 26 Jahre alt war. Darin hat er die Neurasthenie-Leitfigur für die Weltliteratur geschaffen. Nun war er der erste Neurastheniker, dem dieses schriftstellerische Denkmal gelang. Er war jetzt sowohl Schöpfer als auch Leidender der Neurasthenie.
Die Krankheiten und Leidenszustände von Thomas Mann
Thomas Mann hatte schon als Jugendlicher zahlreiche körperliche und psychische Symptome, die fluktuierten, kommen und gingen, ohne dass eine spezifische Krankheit gefunden wurde. Mit seinem Freund und Vertrauten Otto Grautoff hatte er Gespräche und einen Briefwechsel hierüber. In der neuen Thomas-Mann-Biografie von Tilman Lahme (2025) finden sich hierzu ausführliche Beschreibungen und ein Abdruck bislang unveröffentlichter Briefe zwischen Thomas Mann und Otto Grautoff. Sie stammen aus dem Jahr 1896, als Thomas Mann 21 Jahre alt war. Beide waren irritiert und stark verunsichert durch ihre homosexuellen Neigungen und setzten sich mich mit den Werken der Sexualwissenschaftler Richard von Krafft-Ebing und Albert Moll über die Homosexualität auseinander. Sein Freund Grautoff entschied sich für eine ärztliche Behandlung zur „Unterdrückung“ der Homosexualität. Thomas Mann blieb ambivalent und versuchte es in „Eigenregie“ durch asketischen Lebensstil, Gymnastik und Diäten.
Der Biograf Tilman Lahme kommentierte dies wie folgt:
„Thomas Mann, der sich als krank wahrnimmt in mehr als einer Hinsicht, als nervenleidend, als Verfallsmensch mit nervösem Magen und insbesondere als conträr Sexueller, landet bei seiner Suche nach Informationen und nach Hilfe…bei Hippokrates und seinen Kollegen.“ (Lahme 2025, S. 126)
So wird Thomas Mann bereits in jungen Jahren Patient von vielen Ärzten, Kuren und Sanatoriumsaufenthalten. Dies erklärt auch sein außergewöhnlich großes Interesse an medizinischen Themen. Tilman Lahme schreibt in seiner Biografie weit mehr als frühere Biografen vor ihm über die Homosexualität von Thomas Mann und wie die homosexuellen Verunsicherungen körperliche und psychische Leidenszustände mitbedingten.
In den umfangreichen Tagebüchern (10 Bände) tauchen Befindlichkeitsstörungen und Leidenszustände sehr häufig auf. So schreibt er mit 60 Jahren: „Der Leib ist gebessert, der Nervenstand noch tief“ (TB vom 1.1.1935) oder später: „Von Morgen an das depressive Grauen im Herzen“ (TB vom 30.1.1950) – „Die Unzufriedenheit ist grenzenlos.“ (TB vom 29.1.1954). – zitiert nach Felix Lindner 2024.
Das nervöse Zeitalter
Die körperlichen und psychischen Leidenszustände von Thomas Mann waren typisch für seine Epoche. Sie waren Symptome der „Neurasthenie-Welle“, die um die Jahrhundertwende in Europa grassierte. Der Historiker Joachim Radkau beschrieb diese in seinem Werk „Das Zeitalter der Nervosität“ (1998). In der Tagung „Thomas Mann und die Neurasthenie“ (siehe unten – „Schwache Nerven, starke Texte“) bildeten diese Zusammenhänge den roten Faden. Schriftstellerkollegen wie Robert Musil und Franz Kafka oder der berühmte Soziologe und Ökonom Max Weber hatten jahrelang ähnliche Symptome wie Thomas Mann.
Die Neurasthenie hat nach den Lehrbüchern der damaligen Medizin folgende Hauptsymptome: Erschöpfung und Ermüdung, geringe Belastbarkeit, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, erhöhte Reizbarkeit, Ängstlichkeit, sexuelle Frustration wie männliche Impotenz oder weibliche Frigidität, Freudlosigkeit und depressive Verstimmungen.
Über Jahrzehnte versuchten Ärzte und Forscher, die Neurasthenie von Angststörungen, Depressionen und Burn-out abzugrenzen. Burn-out ist ein modernes Leiden, das viele Gemeinsamkeiten mit der Neurasthenie hat, aber nie eine anerkannte medizinische Diagnose wurde. In der neuesten Krankheits-Klassifikation der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) – genannt ICD-11 – kommen weder die Neurasthenie noch Burn-out als eigenständige Krankheitsbilder oder als medizinische Diagnosen vor. Beide waren und sind „Modekrankheiten“, die von der wissenschaftlichen Medizin heute nicht anerkannt werden.
Christian Buddenbrook als literarische Leitfigur der Neurasthenie
Thomas Manns Erfolgsroman „Die Buddenbrooks“ ist der erste und berühmteste Gesellschaftsroman in deutscher Sprache. Die deutschsprachigen Ausgaben erreichten eine Gesamtauflage von fast 10 Millionen Exemplaren. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt. Thomas Mann erhielt für diesen Roman seinen Literaturnobelpreis.
Für das Thema der Neurasthenie ist er das bedeutsamste Werk Thomas Manns. Denn eine der Hauptfiguren – Christian Buddenbrook – leidet unter dem charakteristischen Vollbild einer Neurasthenie und ist deshalb in vielen Abhandlungen zu diesem Thema der Prototyp dieses Krankheitsbildes. Während sein älterer Bruder Thomas Buddenbrook anfangs erfolgreicher Nachfolger in den vier Generationen der Unternehmensdynastie ist, wird Christian als gescheiterte Existenz dargestellt. Er ist unstet, hat kein Durchhaltevermögen, bringt nichts zu Ende. Seine körperliche Konstitution ist unvorteilhaft, seine psychischen Auffälligkeiten umfangreich. Er hat viele körperliche Missempfindungen, neigt zur Hypochondrie und entwickelt Wahnvorstellungen, weshalb er schließlich in einer Nervenklinik eingewiesen wird und dort bis zu seinem Lebensende bleiben muss. Das reale Vorbild für Christian Buddenbrook war Friedrich Mann, ein Onkel von Thomas Mann, der ebenfalls in einer Nervenklinik endete.
Existenzielle Krisen – Suizidalität bei Thomas Mann und seiner Familie
Thomas Mann war sehr sensibel für das Thema der Todessehnsucht. Ein klinisches Phänomen, bei dem die Todessehnsucht eine zentrale Rolle spielen kann, ist die Suizidalität. Potenzielle Selbstmörder haben oft lange Zeit vor ihrem Suizidversuch oder Suizid ausgeprägte Fantasien über ihren vorzeitigen Tod. Manche sehnen sich regelrecht danach. Dies trifft auf einige Familienmitglieder von Thomas Mann und auf ihn selbst zu.
In einem Brief an seinen Bruder Heinrich schreibt am 13. Februar 1901 der fast 26 Jahre alte Thomas Mann in dem Jahr, in dem sein Erfolgsroman „Die Buddenbrooks“ erscheinen wird:
„Wenn der Frühling kommt, werde ich einen innerlich unerhört bewegten Winter hinter mir haben. Depressionen wirklich arger Art mit vollkommen ernst gemeinten Selbstabschaffungsplänen haben mit einem unbeschreiblichen, reinen und unverhofften Herzensglück gewechselt, mit Erlebnissen, die sich nicht erzählen lassen.“ (Thomas Mann, Brief vom 13.2.1901, zit. nach Lahme 2025, S. 159).
In seiner Familie haben sechs Menschen ähnliche Suizidgedanken gehabt und diese dann in die Tat umgesetzt. Sie haben sich selbst umgebracht. Seine beiden Schwestern Carla und Julia, seine beiden Söhne Klaus (Csef 2017) und Michael (Csef 2022, 2023), eine Schwägerin (zweite Ehefrau seines Bruders Heinrich Mann) und der Bruder Erik seiner Ehefrau Katia starben durch Suizid. Thomas Mann reagierte mit Abscheu und Verdrängung auf diese Suizide. Nach dem Suizid seines Sohnes Klaus Mann im Jahre 1949 weigerte er sich, an der Beerdigung teilzunehmen. Sein anderer Sohn Michael war der einzige aus der Großfamilie Mann, der an der Beerdigung in Cannes teilnahm (Csef 2017, 2022, 2023). Siebzehn Jahre später hat sich Michael Mann ebenfalls suizidiert. Thomas Mann erlebte diesen Suizid im Jahre 1976 nicht mehr, weil er im Jahr 1955 starb.
„Schwache Nerven, starke Texte“
Im Februar 2017 veranstaltete das Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck in Kooperation mit dem Buddenbrookhaus/Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum die Tagung „Thomas Mann und die Neurasthenie“. Birgit Stammberger, Birte Lipinski und Cornelius Borck gaben die Vorträge in einem Sammelband mit dem Titel „Schwache Nerven, starke Texte“ heraus (Stammberger et al 2021). Im Einleitungskapitel betonen die Herausgeber, dass nicht nur Christian, sondern die ganze Buddenbrook-Familie von einer Nervenschwäche betroffen sei (Borck et al 2021):
„Christian ist nur ein besonders dekoratives Beispiel in dieser Sammlung von Hypochondern, Hysterikern, Malkontenten, Lebensüberdrüssigen, Hypersensiblen, traumatisch Geprägten, frühkindlich bereits Verformten.“ (Koopmann 2002, S. 121).
Im Verlauf der Buddenbrooks-Rezeptionen wird folglich immer mehr Thomas Buddenbrook zur zentralen Figur. Er leidet nicht unter Neurasthenie, sondern unter Burnout: er ist maximal leistungsbereit und beruflich engagiert, er brennt aus, weil er über seine Kräfte hinaus Höchstleistungen erbringt. Er „nützt sich ab“ und verliert immer mehr an Spannkraft und Kraftreserven. Schließlich ist sein „Akku leer“ und er wird zum „ausgebrannten Antihelden“. Während Christian Buddenbrook den Prototyp der Neurasthenie darstellt, wird der Unternehmer Thomas Buddenbrook in der späteren Buddenbrooks-Deutung zur Symbolfigur des Burn-outs (Borck et al. 2021).
Literatur
Borchmeyer, Dieter, Thomas Mann. Werk und Zeit. Insel-Verlag, Frankfurt 2022
Borchmeyer, Dieter, Nach Goethes „Werther“ dauerte es volle 150 Jahre, bis ein deutscher Roman wieder die Weltleserschaft erreichte: Thomas Manns “Der Zauberberg“ wird 100 Jahre alt. Neue Zürcher Zeitung vom 4. Mai 2024
Borck, Cornelius, Lipinski, Birte, Stammberger, Birgit, Thomas Mann und der Neurasthenie-Diskurs der Zeit. Zur Neubesichtigung eines Topos. In: Stammberger, Birgit, Lipinski, Birte, Borck, Cornelius (Hrsg.) Schwache Nerven, starke Texte. Thomas Mann, die bürgerliche Gesellschaft und der Neurasthenie-Diskurs. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2021, S. 7 – 19
Csef, Herbert, Sigmund Freud und Thomas Mann als Krebskranke. Eine vergleichende Darstellung ihrer Krankheitsverarbeitung. Psychodynamische Psychotherapie 15 (2016) 75 – 79
Csef, Herbert, „Ich kann das Leben einfach nicht mehr ertragen.“ – Wege zum Suizid des Schriftstellers Klaus Mann. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Ausgabe 2/2017, S. 1 – 11
Csef, Herbert, Thomas Mann und die Suizide seiner beiden Söhne Klaus und Michael. In: Csef, Herbert, Suizid im 21. Jahrhundert. Neue Phänomene einer existentiellen Herausforderung. Roderer Verlag, Regensburg 2022, S. 63 – 73
Csef, Herbert, 100 Jahre „Zauberberg“ und 250 Jahre „Werther“ – die beiden berühmtesten deutschsprachigen Romane über die Todessehnsucht. Tabularasa Magazin vom 21. August 2024
Csef, Herbert, Memento mori und Zeitenwende – vor 100 Jahren erschien Thomas Manns Jahrhundertroman „Der Zauberberg“. Tabularasa Magazin vom 29. November 2024
Iken, Katja, Der Großvater des Burn-outs. Modekrankheit Neurasthenie. Spiegel Geschichte 4/2025 vom 17. Juli 2025
Koopmann, Helmut, Krankheiten der Jahrhundertwende am Frühwerk Thomas Manns. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2002
Lahme, Tilman, Thomas Mann. Ein Leben. Dtv Verlagsgesellschaft, München 2025
Lindner, Felix (Hrsg.), Mit Thomas Mann durch das Jahr. Bertz und Fischer Verlag, Berlin 2024
Mann, Thomas, Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, 38 Bände. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001 ff.
Mann, Thomas, Tagebücher 1918 – 1921 und 1933 – 1955. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn und Inge Jens. 10 Bände. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1977 – 1995
Max, Katrin, „Thomas Mann hätte einen Ehrendoktor der Medizin verdient“. Interview. Zum 150. Geburtstag. Apotheken Umschau vom 6. Juni 2025
Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. Carl Hans Verlag, München 1998
Reich-Ranicki, Marcel, Thomas Mann und die Seinen. Deutsche Verlagsanstalt, München 2005
Stammberger, Birgit, Lipinski, Birte, Borck, Cornelius (Hrsg.) Schwache Nerven, starke Texte. Thomas Mann, die bürgerliche Gesellschaft und der Neurasthenie-Diskurs. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2021
Stobbe, Hans, Die Erkrankung von Thomas Mann während der Entstehung des „Doktor Faustus“. Medicamentum 24, Heft 2, 1983, S. 59 – 62
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