Zur Buchmesse: Helmut Ortner liest – und empfiehlt …

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Unser Autor Helmut Ortner schreibt seit Jahren aufklärende, scharfsichtige Bücher über den Zustand der Demokratie – und deren Verteidigung. Für das TabulaRasa Magazin empfiehlt er hier aktuelle Neuerscheinungen, dazu einige politische Bücher, die zwar nicht ganz druckfrisch sind, aber zum Verständnis dessen beitragen, in welch Lage sich Demokratie und Rechtsstaat befinden – und was für die Verteidigung der Demokratie tun ist? Zehn Buchempfehlungen zur Wappnung und Warnung.

# Georg Diez: Kipppunkte – Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart, Aufbau Verlag, 395 Seiten, 26 Euro

In den neunziger Jahren wurde die Welt geschaffen, in der wir immer noch leben – und die gerade krachend kollabiert. Georg Diez, ehemals Spiegel-Kolumnist, ZEIT und taz-Autor, beschreibt die Versäumnisse der 1990er Jahre und deren Auswirkungen auf die Gegenwart. Viele Probleme, aus den 1990ern, die uns heute plagen, waren bereits sichtbar und möglicherweise behebbar gewesen, hätte die Politik andere Entscheidungen gefällt. Das betrifft Themen wie Klima und Migration, aber auch Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung. allesamt »Kipppunkte«, die – zwar mühsam – dennoch reversibel sind. Ziel muss es sein, die Geschichte dieser Dekade zu nutzen, nicht zur Abrechnung, sondern zur Aufklärung, sagt Diez. Wir müssen wieder trainieren, in Alternativen zu denken – jenseits etabliert-routinierter Politik-Pfade, an unsere Handlungsfähigkeit glauben: als Einzelne, in der Gemeinschaft, als Demokratie. Diez nennt viele Ansätze. Sein Buch ist ein kluges Plädoyer für kämpferischen Optimismus.

# Weiß, Volker: Das deutsche Demokratische Reich – Wie die extreme Rechte die Geschichte und Demokratie zerstört, 288 Seiten, 25 Euro

In seinem Buch bietet Volker Weiß eine tiefgehende und historisch fundierte Zeitdiagnose zur AfD und der extremen Rechten. Er enthüllt, wie die extreme Rechte von dem Ziel getrieben ist, den westlichen Liberalismus zu beenden und eine alternative Geschichtsdeutung durchzusetzen. Mit neuen Details und einer Analyse der rechten Gegenerzählungen seziert der Autor die neurechte Szene. „Subversive Resignifikation“ nennt Weiß die Strategie, mit der die Rechten die Geschichtsschreibung in ihrem Sinne umdeuten wollen. So spricht sie beispielsweise von einem geistigen Bürgerkrieg, der in Deutschland tobe – und dabei gleichzeitig anheizt. Diese widersprüchlichen, verklärenden und oft schrillen Geschichtskonstruktionen der extremen Rechten weisen auf ein Ziel: ein „Deutsches Demokratisches Reich“ als Synthese aus den autoritären Systemen der deutschen Vergangenheit. Weiß nennt Beispiele: die Umdeutung des Nationalsozialismus als eine linke Bewegung sowie auf rechte Ostalgie, die eine Gesellschaft verherrlicht, die nicht durch die 68er-Bewegung „verdorben“ wurde.  In Zeiten, in denen die AfD sich nicht mehr als Protest-Partei, sondern als „vom Volk” gewählte Verantwortungs-Partei etikettiert, ein dringliches Buch.

# Eva Kienholz: Eine kurze Geschichte der AFD – Von der Eurokritik zum Remigrationsskandal, 272 Seiten,

18 Euro

Wie es sich für gute Gruselgeschichten gehört, beginnt auch diese aufregend mysteriös. Am 6. Februar 2013 versammeln sich 18 Männer unter einem Kruzifix im Gemeindesaal der Evangelischen Kirche im hessischen Oberursel, geeint in ihrem Wunsch nach einer anderen Finanzpolitik im Lande. Eine Alternative muss her: die AfD wird gegründet. Die politische Landschaft in Deutschland hat sich seit ihrer Gründung tiefgreifend verändert. Entstanden als wirtschaftsliberale Partei, deren Hauptziel es war, den Euro in Deutschland wieder abzuschaffen, hat sie sich seitdem in mehreren Wellen radikalisiert. Von Bernd Lucke über Frauke Petry, Jörg Meuthen und Tino Chrupalla sind ihre Aussagen immer extremer geworden. Björn Höcke agitiert heute für die «Remigration» von Menschen mit Migrationshintergrund und gilt als gesichert rechtsextrem: Er hat das Ringen um die Macht in der Partei gewonnen. Trotzdem, oder gerade deswegen, hat die AfD in der Gunst der Wählerinnen und Wähler beständig zulegen können und breite Bevölkerungsschichten erreicht. Bei den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst 2024 erreichte sie in zwei Bundesländern über 30 Prozent der Stimmen, in Thüringen wurde sie sogar stärkste Kraft – eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Kienholz zeichnet die Entwicklung der Partei nach, die sich immer weiter nach rechts bewegt hat und nun offen nach der Macht im Land greift. Ein wichtiges Buch zum Verständnis der politischen Landschaft in Deutschland – und wie eine rechtsextreme Partei das Land verändert.

#  Schindler, Frederik: Höcke – Ein Rechtsextremist auf dem Weg zur Macht, 272 Seiten, 22 Euro

Schindlers Recherchen lassen uns in die Niederungen der Partei blicken. Wir erfahren viel über Höckes engsten Kreis: seine Vordenker & Taktgeber, Strippenzieher, & Organisatoren, allesamt loyal und radikal. Mit 32,8 Prozent landet die von ihm geführte Partei bei der letzten Landtagswahl mit großem Abstand von über neun Prozent vor der CDU auf Platz Eins. So ist die AFD erstmals in einer Machtposition. Doch Höcke will mehr. Er will nicht nur eine homogene deutsche Gesellschaft errichten, er will Ministerpräsident werden. Und die Aussichten stehen nicht schlecht. Ein zukünftiger Ministerpräsident einer Partei, die der Verfassungsschutz als zu Teilen „gesichert rechtsextrem“ eingestuft? Das demokratische Parlament als Ort, die liberale Demokratie abzuschaffen? Festzuhalten nach der Lektüre bleibt: die AFD ist keine normale Partei, sondern vor allem eine spezielle Ausformung einer besonders rechten Partei, die immer weiter sich dorthin entwickelt, wo Höcke immer schon war.  Er nennt ihn einen »Überzeugungstäter«.  Schindler ist eine bemerkenswerte Mischung aus persönlicher Biographie und politischer Analyse des Lebens und des Denkens von Björn Höcke gelungen: faktenbasiert und nüchtern. Der Aufstieg der AfD und die Karriere von Höcke sind mehr als eine bloße Verschiebung parteipolitischer Kräfteverhältnisse. Sie sind ein Symptom einer tieferliegenden Krise unserer Demokratie – und zugleich deren gefährlichster Beschleuniger.

# Martin Debes: Deutschland der Extreme – Wie Thüringen die Demokratie herausfordert, 280 Seiten, 20 Euro

Ein starkes, aber auch beängstigendes Buch. Martin Debes schreibt darüber, wie Thüringen in den 1920er Jahren erst von einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung geführt wurde und dann immer mehr zu einem Zentrum der Nazibewegung und schließlich zu Hitlers Muster-Gau wurde. Noch interessanter als die historischen Ausführungen ist Debes‘ Analyse der Gegenwart, etwa hinsichtlich des unentschiedenen Kurses der CDU in ihrem Verhältnis zur AfD. Auch Björn Höckes Ambitionen, ausgehend von seiner Machtbasis in Thüringen seiner völkischen Politik auch bundesweit Wirkungsmacht zu verschaffen, werden beleuchtet. Im Kleinen sieht man hier womöglich, was Deutschland im Großen bevorsteht.

# Bahners, Patrick: Die Wiederkehr – Die AfD und der deutsche Nationalismus, 554 Seiten, 28 Euro

„Wie soll man erklären, dass der Nationalismus in Deutschland seine Wiederkehr erlebt und scheinbar aus dem Nichts gekommen ist? Das ist die historische Frage, für die sich dieses Buch interessiert. Die AfD konnte an eine Tradition anschließen, die seit der Wiedervereinigung die „deutsche Sache“ in Ehren hielt. Bahners verweist auf zahlreiche Milieus, Publikationen und Debatten, in denen sich das rechtskonservative Argument Gehör verschaffte.  Er belegt, dass die AfD von Beginn an chauvinistische und verschwörungstheoretische Züge trug. Und er widerspricht damit den Beteuerungen früherer Mitglieder, die angeblich wegen eines erst später erfolgten Rechtsrucks ausgetreten sind. Ob Alexander Gauland seine Haltung zur Nation tatsächlich revidierte oder insgeheim schon immer den Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte ansah – dieser Frage geht Bahners in seinem Buch nach. „Die Radikalisierung der AfD kann man an provokativen Formulierungen und skandalösen Positionen zu allen möglichen Themen festmachen. Ihre Dynamik, der schier unaufhaltsame Drang zur Zuspitzung und Verschärfung, wird bestimmt durch die antagonistische Stellung, die die AfD im politischen Prozess zu ebendiesem politischen Prozess einnimmt. Dem Personal der als »Altparteien« herabgesetzten Konkurrenz traut man nur das Schlimmste zu, und dieser Verdacht wird bei jeder Wiederholung schriller und schriller vorgetragen, “ schreibt Bahners. Ein erhellendes Buch. Unbedingt lesenswert.

# Robert Menasse: Die Welt von Morgen – Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde, 177 Seiten, 23 Euro

Robert Menasse erklärt und verteidigt die europäische Idee, lädt aber auch dazu ein, die systemischen Widersprüche der Union zu kritisieren und zu überwinden. Die Alternative, vor der wir stehen, ist simpel: Entweder gelingt das historisch Einmalige, nämlich der Aufbau einer nachnationalen Demokratie, oder es droht ein Rückfall in das Europa der Nationalstaaten. Das wäre eine Niederlage der Vernunft – warnt Menasse. Es drohe das Ende eines epochalen Friedensprojekts. Europa steht am Scheideweg. Wer im Erstarken rechter antieuropäischer Parteien eine reale Bedrohung der europäischen Freiheitsidee sieht, der findet bei Menasse grundlegende wie notwendige Verteidigungs-Ideen und Fortschritts-Strategien, die es Wert sind, politisch aktiviert zu werden: im Nahfeld, im Land, in Europa. Eine Streitschrift zur rechten Zeit.

# Bernhard Pörksen: Zuhören – Die Kunst, sich der Welt zu öffnen, Hanser, 336 Seiten, 24 Euro

Keine Frage: Es soll gestritten werden. Zweifel, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Streit ist konstitutiv für die Demokratie – auf allen Ebenen: privat, kollektiv, institutionell. Streit ist Sauerstoff für die Demokratie. Er ist gewissermaßen „systemrelevant“. Nur im Streit klären wir, was uns als Gesellschaft wichtig ist, welche Werte wir grundsätzlich vertreten wollen und welche politischen Entscheidungen wir als Gesellschaft zu tragen bereit sind. Doch zum produktiven Streit gehört das Zuhören, Gehörtwerden, der „Dialog auf Augenhöhe”. Das freilich sind oft Schlagworte unserer Zeit, Leerformeln der politischen Rhetorik. Aber was heißt es, wirklich zuzuhören, die eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen, sich der Weltsicht des anderen auszusetzen? Pörksen beschäftigt sich mit Gegenwartsdebatten, in denen sich unterschiedliche Lager unversöhnlich gegenüberstehen. Warum hört man so lange nicht auf die Opfer sexuellen Missbrauchs, warum nicht auf die Warnungen vor dem Klimawandel? Pörksen zeigt, welche Mechanismen das Zuhören verhindern – ob im privaten Umgang oder in der Öffentlichkeit. Und er präsentiert Ansätze die eine neue Offenheit, tieferes Verstehen und empathisches Zuhören ermöglichen. Ein kluges Buch über das Zuhören und den demokratischen Streit. Denn mehr denn je gilt: Wir brauchen nicht weniger, sondern vor allem besseren Streit – und empathischeres Zuhören.

# Marcel Dirsus: Wie Diktatoren stürzen und wie Demokraten siegen können, Kiepenheuer & Witsch, 306 Seiten, 28 Euro

Überall auf der Welt sind Demokratien unter Druck, überall entstehen Autokratien und Diktaturen. Die Herrscher inszenieren sich als harte Männer, stark und unbesiegbar. Doch Alleinherrschaften haben Systemfehler – sie können nicht auf Dauer funktionieren, konstatiert der Politikwissenschaftler Marcel Dirsus.  Manchmal sind es Mitglieder des inneren Machtzirkels, manchmal ist es das Militär, manchmal erheben sich die Massen, weil sie genug haben von Korruption und falschen Entscheidungen, manchmal sind es Oppositionelle, die aus dem Exil einen Umsturz planen. Tyrannen haben immer mehr Feinde als Freunde – und das Ende ihrer Herrschaft ist oft dramatisch: Exil, Gefängnis, Tod. Dirsus schildert faktenreich das Ende vieler Diktatoren und Folgen nach deren Sturz. Sein Buch kann als Warnung gelesen werden, nicht zuzulassen, dass Demokratien sich schleichend in autokratische Staaten umformen.

# Götz Aly: Wie konnte das geschehen? – Deutschland 1933 -1945, S. Fischer, 768 Seiten, 34 Euro

Es geht um die Frage, was es mit diesem „Wie“ auf sich hat. Aly erklärt, was schwer zu erklären ist: die massenhafte Gemeinschaft des Mitmachens und Wegsehens. Der kollektiven, rauschhaften Zustimmung zur Barbarei. Und er erinnert daran: Hitler war nicht über die Deutschen gekommen, die Deutschen waren zu Hitler gekommen. Sie hatten ihn gewählt, verehrt und bejubelt.  Aly blickt auf die Interdependenzen zwischen Führung und Volk: Wer Macht ausüben will, tut auch in einer Diktatur gut daran, sich des Wohlwollens und des Mitmachens einer Mehrheit, in Hitlers Worten: „der Masse der Mitte“, zu versichern. Anhand zahlreicher Biografien, Tagebucheinträge und Briefe ganz normaler Deutscher, vom BdM-Mädel bis zum Professor, beschreibt Aly, wie Hitlers Regime die Gesellschaft in Begeisterung versetzte, atomisierte, aktivierte. Wer begreifen möchte, „wie es möglich war”, warum so viele durchaus normale, moralisch gefestigt erscheinende Deutsche 1932 bis 1945 dem Wahn Hitlers folgten, der findet in Alys Buch erhellende Analysen und Belege.

 

 

 

Über Helmut Ortner 120 Artikel
Geboren 1950 in Gendorf/Oberbayern und aufgewachsen in Frankfurt am Main. Schriftsetzerlehre, anschließend Studium an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, Schwerpunkt Grafik-Design. Es folgt Wehrdienstverweigerung – und Zivildienst. Danach journalistische Lehrjahre: Redakteur, Chefredakteur (u.a. Journal Frankfurt, Prinz). Ab 1998 selbständiger Printmedien-Entwickler mit Büro in Frankfurt. Konzepte und Relaunchs für mehr als 100 nationale und internationale Zeitschriften und Zeitungen, darunter Magazine wie Focus, chrismon, The European und Cicero, sowie Tages- und Wochenzeitungen, u.a. Das Parlament, Jüdische Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Allgemeine Zeitung, Wiesbadener Kurier, Darmstädter Echo, De Lloyd Antwerpen, NT Rotterdam sowie Relaunchs in London, Wien, Sofia, Warschau und Dubai. Zahlreiche Auszeichnungen (u.a. European Newspaper Award, Hall of Fame, CP Award Gold). Daneben journalistische Beiträge zu politischen und gesellschaftlichen Themen, veröffentlicht in div. Tageszeitungen und Magazinen. Erste Buchveröffentlichung 1975, seither mehr als vierzig Veröffentlichungen. Übersetzungen in bislang 14 Sprachen (2018). Zahlreiche Preise und Einladungen: Stadtschreiberpreis der Stadt Kelsterbach, Lesereise Goethe-Institut Südamerika, Teilnahme an Buchmessen in Havanna, Istanbul und Buenos Aires sowie Lit.Col. Köln 2017. Zuletzt Lesereisen nach Lissabon, Turin, Tokyo. Helmut Ortner lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in Darmstadt. Er ist passionierter Radrennfahrer, Eintracht Frankfurt-Fan und Pat Metheny-Liebhaber.