Aljoscha Kertesz trifft Rita Süßmuth: „Vermeidet Ausgrenzung, schafft nicht Parallelgesellschaften, sondern versucht so viel Integration, wie eben möglich“

Rita Süßmuth bertelsmann stiftung, tagung, kuratorium, berlin, unter den linden, bertelsmann repräsentanz, 26.09.2013, Foto: Jan Voth

Frau Süssmuth, dieser Tage hatte das Frauenwahlrecht in Deutschland sein 100jähriges Jubiläum. War Ihnen eigentlich nach Feiern zu Mute?

Der 12. November 1919 ist ein Grund zu feiern. Es erfolgte ein ganz entscheidender Schritt im Aufbau unserer Demokratie, die Frauen erhielten nach intensiven lang andauernden Kampf das aktive und passive Wahlrecht.

Das passive Wahlrecht wurde dann wieder ausgesetzt.

Ja, Adolf Hitler hat das ganz schnell wieder aufgelöst. Aber mir geht es zunächst um das, was in der Weimarer Verfassung erreicht wurde. Das war ein Meilenstein für die Demokratie. Mir ist besonders wichtig, dass es hier nicht um Privilegien geht, sondern um grundlegende Menschenrechte für beide Geschlechter.

Sie sprachen eben von der einen Seite. Wie sieht es auf der anderen aus?

Das Jubiläum war ein guter Moment, die großen Leistungen von Frauen anzuerkennen und zu fragen, was wir aus ihrer Tat- und Durchsetzungskraft für heute lernen können.

Sie spielen darauf an, dass wir im Parlament nur noch einen Frauenanteil von 31 Prozent haben?

Wir haben den tiefsten Stand seit 20 Jahren erreicht. Und die Zahl ist nur eine Durchschnittszahl. Das ist ein alarmierender Tatbestand. Bei Oberbürgermeisterposten sind es nicht mal mehr zehn Prozent. Auf lokaler und Landes-Ebene sieht es noch schlechter aus.

Dabei haben wir ohnehin lange gebraucht und dafür gekämpft, im Grundgesetz 1949 den einen Satz einzubringen, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Nicht gleichwertig, sondern gleichberechtigt. Das war ein langer Weg und er hält an.

Bis 1961 war keine Frau auf einem Ministerposten. Von 1961 bis 1989 war der Anteil weiblicher Mandate unter zehn Prozent, 1919 waren es bereits 8,7 Prozent. Wir haben es bis 1989 nicht über die 10 Prozent gebracht. Das ist kein Erfolg.

Wir haben nach 1989 und schon vorher um eine zentrale Ergänzung zum Grundgesetz 3 Absatz 2 gekämpft. Das schien aussichtslos. Es gelang 1994. Die neue Regelung im Grundgesetz lautet: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Betrachten wir die die Fraktionen im Bundestag, dann haben wir insbesondere bei der AfD, CDU/CSU und der FDP einen geringen Frauenanteil, also bei den konservativen Parteien.

Die weitaus höheren Anteile bei den Grünen, bei den Linken und auch bei der alten Volkspartei SPD resultieren daher, dass die Parteien im Rahmen ihrer Möglichkeiten Selbstverpflichtungen eingegangen sind, ohne eine gesetzliche Wahlrechtsreform dafür gebraucht zu haben. Hier sind parteiinterne Maßnahmen selbstverpflichtend ergriffen worden, die zu höheren Frauenanteilen führten. Höher, als es beispielsweise eine sanfte, unverbindliche Quote von 25 oder 30 % ermöglichte. Wenn wir die nicht hätten, lägen wir noch viel tiefer.

Was heißt hier konservativ? Heißt das einfach Erhalt oder sogar Rückholung der alten, bestehenden Verhältnisse, wo die Frauen verkürzt gesagt auf Kinder, Küche und Kirche reduziert wurden? Aber sie gehören mitten hinein ins öffentliche Leben, beruflich und politisch und zwar in allen Lebensbereichen.

Als ich Ministerin wurde, waren 38 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig, davon mehr als 50 Prozent in Teilzeit. Einen durchschlagenderen Erfolg haben wir hier mit der zweiten Frauenbewegung der späten 60er Jahre und 70er Jahre vorbereitet, aber erst mit und nach der Widervereinigung erzielt.

Heute liegt der Anteil der berufstätigen Frauen bei 71 Prozent. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang Bildung und berufliche Qualifikation. Das Thema hat lange gebraucht, weil ein ganz bestimmtes Klischee, dass die Mutter zu den Kindern und ins Haus gehöre, vorherrschte. Dabei haben Frauen schon immer einen wesentlichen Teil auch in der Erwerbsarbeit verbracht, die zu Einkommen führte, das der gesamten Familie zu Gute kam. Denken Sie nur an die Landwirtschaft. Tatbestand heute ist immer noch die geringe Bewertung der Familienarbeit. Konservativ kann ja nicht nur heißen, das Bestehende zu bewahren. Konservativ heißt für mich, das zu wahren, was Menschen brauchen, kurz gesagt: Zeit für Familie, Zeit für Kinder, Zeit für Kranke und Pflegebedürftige. Und auch Zeit für öffentliche Tätigkeiten. Wir haben sehr spät begonnen, dies als eine Einheit zu sehen.

Was schlagen Sie denn konkret vor, damit sich der Anteil von Frauen in Ihrer Partei, der CDU, erhöht?

Die Überwindung der unverbindlichen Quote. Frauen haben Können und Kompetenzen. Ich plädiere heute für Parität. Das heißt, Männer und Frauen gleich zu behandeln, wie bereits in Belgien, Frankreich aber auch einem Teil der afrikanischen und südamerikanischen Staaten, wo Paritäten gesetzlich geregelt wurden. Dann sind wir von den alten Quoten weg, mit all den Streitfragen. Seit der Einführung des internationalen Frauentages von der UNO hatten wir immer schon eine weltweit gültige Quote von 25 Prozent Frauen im Parlament. Wir haben mehrere Jahrzehnte Erfahrung mit der Quotenpraxis. Sie hat nicht zu dauerhaftem Anstieg der Frauen in politischen Mandaten und Ämtern geführt. Die aktuellen Daten sind demokratisch alarmierend.

Als ich 1985 als Ministerin in die Politik einstieg und 1988 dann Parlamentspräsidentin wurde, lagen wir anfangs knapp unter zehn Prozent und dann bei zwölf Prozent. Daran sehen Sie, dass wir wirklich zu neuen Maßnahmen kommen müssen. Für wen brauchen wir alles eine Quote? Die Parität gilt nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Männer. Wir kämen so zu einem wirklich guten Ansatz, wo sich niemand darüber beklagen müsste, dass er nicht berücksichtigt würde, oder gar diskriminiert wird.

Kritiker führen hier immer wieder rechtliche Bedenken an.

Für die Parität gibt es sicherlich noch Barrieren zu beseitigen, aber entscheidend ist doch zunächst der politische Wille. Welche Optionen bieten wir an, damit wir zu einer größeren Beteiligung der Frauen bei der Gestaltung unserer Lebensverhältnisse kommen? Die Gesellschaft muss insgesamt die Probleme der Beteiligten und der in einer Gesellschaft Lebenden beachten und dies nicht nur als Frauen-Gedöns betrachten.

Dabei kommt es entscheidend darauf an wohin wir wollen. Was ist das Ziel? Es muss doch möglich sein, qualitativ und quantitativ zu einem gleichen Anteil von Frauen und Männern zu kommen. Wir müssen in der Politik, aber auch in der Arbeitswelt Bedingungen schaffen, damit dies auch so sein kann. Da sind die Rechtswissenschaftler bis hin zu den Verfassungsrichtern unterschiedlicher Meinung. Daher müssen wir uns darauf fokussieren, wie wir zu Regelungen kommen, die sich mit der Auslegung unseres bestehenden Grundgesetzes vereinbaren lassen. Denn, wenn ich bei einer Gruppe, hier der Frauen, eine solche Diskrepanz habe, dann muss ich Maßnahmen ergreifen, um den Anteil zu erhöhen.

Was schwebt Ihnen hier konkret vor?

Der erste Schritt kann auch durch eine Parteienregelung oder auch ein Parteiengesetz erfolgen. Doch das Ziel muss eine Wahlrechtsreform sein. Das wird sich in einer lebhaften Diskussion auch zeigen.

Wenn ich sage, dass ich heute für Parität bin, dann definiert das zunächst das Konzept, das wir jetzt brauchen. Wir können nicht immer im alten Stil weitermachen und dann kommt als Antwort: Parität sei grundgesetzlich nicht möglich oder Frauen wollen ja nicht. Das ist nicht der Weg.

Wenn Sie sich das Engagement der Frauen in Deutschland in der Zivilgesellschaft anschauen, sei es in Vereinen, Gemeinden, im Engagement um das öffentliche Wohl, dann können wir ja nicht behaupten, dass sie sich nicht engagieren. Das Defizit liegt nicht nur im mangelhaften politischen Willen, sondern auch in den Versäumnissen der geschaffenen strukturellen Bedingungen (Arbeitszeiten, Kinderbetreuung und Förderung, fehlender Ausgleich für die Familientätigkeit). Dann bleibe ich mal bei meiner eigenen Partei. Das Argument, dass nur 25 Prozent der Mitglieder Frauen sind, ihnen also entsprechend nur 25 Prozent der Mandate in den verschiedenen Gremien zustehen, lasse ich nicht gelten.

Nur zum Verständnis, wenn Sie von Parität sprechen, dann ist das im Grunde eine 50 Prozentquote.

Richtig. Der Begriff Quote ist an der Stelle jedoch irreführend. Die Quote haben wir gebraucht, wenn es einen bestimmten Anteil betrifft. Aber jetzt wollen wir mit der 50-prozentigen Beteiligung, denn in unserer Gesellschaft leben ja nicht nur 25 Prozent Frauen, sondern sogar 51 Prozent, eine Gleichbehandlung von Frauen und Männern, auch bei der Verteilung von Mandaten.

Sie waren lange gegen eine Quote in Wirtschaft und Politik. Weshalb sind Sie nunmehr dafür?

Weil wir mit der sanften unverbindlichen Quote nicht weiter gekommen sind. Als ich Ministerin war, wurde gesagt, dass wir zur Umsetzung einer Quote in der Wirtschaft mindestens zehn Jahre benötigen würden. Das wäre 1995 oder 1997 der Fall gewesen. Wer auf Freiwilligkeit setzt, und ich spreche jetzt nur von meiner Partei, der muss noch 50 bis 100 Jahre warten, bis er den Anteil bekommt. Weil das nicht nur den Willen zur Parität voraussetzt, sondern auch der Schaffung von Bedingungen, dass Männer und Frauen in gleicher Weise am privaten und öffentlichen Leben beteiligt werden. Hier haben wir in Deutschland dringenden Nachholbedarf.

Haben Sie keine verfassungsrechtlichen Bedenken bei der Umsetzung?

Die Männer haben ja auch nie einen Verfassungsbruch darin gesehen, dass in der Wirtschaft ein Anteil von 80 Prozent Männern und 20 Prozent Frauen, oder bei den Mandaten in den Parlamenten ein Anteil von 70 Prozent Männer und 30 Prozent Frauen existiert. Ich frage mich, weshalb wir nicht gemeinsam auf gleiche Anteile drängen. Dieser Satz, dass sich Frauen nicht für Politik interessieren, hat entscheidend damit zu tun, dass die Bedingungen in der Arbeitsteilung immens erschwert sind, sodass Frauen in der Zeit, in der Kinder oder auch Pflegebedürftige sie brauchen, sich weniger politisch engagieren können. Sicher, einige können dies, mit Hilfe von Familie, Eltern oder Freunden schaffen. Aber wir müssen doch Bedingungen schaffen, die möglichst vielen Interessierten die Möglichkeit geben, politisches Interesse in Aktivität umzusetzen Das haben andere europäische und außereuropäische Länder bereits geschafft. Wir wollen nach vorn und nicht zurück, so wie die neuen rechten Gruppierungen es verfolgen.

Sie haben es eben schon selbst gesagt, wir haben heute in der Gesellschaft im Allgemeinen oder an Hochschulen im Besonderen mehr Frauen als Männer und dennoch eine miserable Präsenz im Parlament. Sie sagten einmal, dass Politik Kampf bedeutet. Kämpfen Frauen weniger als Männer?

Frauen kämpfen nicht primär um Macht, sondern um die Sache. Tatsache ist, dass ein Teil unserer Frauen erhebliche Schwierigkeiten mit dem Wort Macht hat.

Da muss man ihnen immer wieder erklären, dass sie ohne Macht wenig bewirken können. Und sie Macht nicht als Einflussnahme, sondern primär als Machtmissbrauch verstehen.

Warum besetzen wir den Begriff der Macht nicht positiv? Um das zu verändern, was wir zum Besseren verändern wollen, dafür braucht jeder auch Einfluss (Macht). Wenn ich niemanden im Ausschuss habe, um Veränderungen durchzusetzen, da 90 Prozent der Mitglieder männlich sind, dann werden die auch überwiegend ihre Interessen durchsetzen.

Wobei ich positiv ergänzen muss, dass ich heute viele junge Männer und Väter erlebe, die durchaus Interesse haben, auch für sich diese beiden Bereiche so zu verbinden, dass sie mehr Erfahrung mit Kindern machen können, dass es partnerschaftlich ausgeübt wird und zwar nicht mehr nur als Ideal, sondern als eine Realität, für die sie selbst Regelungen brauchen.

Besteht nicht auch ein Problem darin, dass die Frauen zwischen den Parteien zu wenig zusammenarbeiten?

In und zwischen den Parteien arbeiten wir häufig zusammen, wo es das demokratische Grundverständnis und das Problem erfordern. Ohne parteiübergreifende Zusammenarbeit können oft schwierigste Probleme nicht gelöst werden. Die üblichen Vorurteile, dass Frauen nicht zusammenarbeiten können, treffen nicht zu. Natürlich können sie das. In der Politik, wo es so wenige waren, und immer noch sind, wie die fallende Zahl zeigt, müssten wir Frauen uns noch viel mehr bewegen. Ich erlebe jetzt eine solche positive Kraft zur Veränderung. Ob die wieder gedrosselt wird, kann ich zurzeit noch nicht sagen. Aber die Energie, die heute in Frauen steckt und zur Bewältigung der Probleme unseres Landes und weltweit auch benötigt wird, die spüren wir jetzt.

Die Zeiten, dass ein Bundeskanzler sagt „Familie und sonstiges Gedöns“, und damit berief sich Gerhard Schröder auf die Ministerien für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, sollten doch sind vorbei sein, oder?

Das sehe ich so, trotzdem haben andere Ressorts lange Zeit eine höhere Bewertung und Stellenwert gehabt. Wir Frauen waren für die weichen Themen zuständig: Familie, Kunst, Kultur und Bildung, während Finanz-, Außen-, Innen-, und Wirtschaftspolitik ausgesprochene Männerressorts waren. Und da haben wir in Europa eine andere Entwicklung. Andere Länder haben immer schon Frauen in diese Ämter gebracht, die dort mitwirken konnten. Insofern sage ich grundsätzlich gesprochen, dass die Zeiten, in denen Frauen für das „weiche Geschäft“, Männer für das „harte Geschäft“ zuständig waren, vorbei sind. Denn wir brauchen auch in der Verteidigungspolitik nicht nur Aufrüstung sondern viele qualifizierte politische Diplomaten/innen, die den Frieden verhandeln. Auch Deutschland wäre dahin nicht gekommen ohne Persönlichkeiten denen bewusst ist, dass Gewalt und Krieg zerstören. Wir wollen aufbauen und Krieg vermeiden.

Sie haben in Ihrer Partei die Frauenpolitik stark geprägt und auf diesem Weg von mildem Spott und offener Wut gesprochen, die Ihnen da entgegenkamen. Was von beidem war schlimmer?

Am meisten haben mir die Demütigungen zu schaffen gemacht wie z.B. Frauen könnten nicht logisch denken, hätten nicht die richtige Stimmqualität, seien insgesamt zu leise, zu emotional oder kennen sich in den politischen Interessen nicht aus. Ich habe dann oft in der Debatte gefragt, weshalb die Männer, bei all der Kritik, die sie hier vortragen, eigentlich den Frauen die Kinder anvertrauen? Denn das kann ja nur einen negativen Einfluss haben, der da von uns Frauen ausgeht. Die Männer waren dann immer baff und fragten, wie ich denn darauf käme. Ich entgegnete dann, weil dass der Widerspruch ist, mit dem sie ständig umgehen. In vielen Ländern in Europa wird das anders gesehen und man ist vor allem schneller vorangekommen. Aber bei uns ist es jetzt überfällig. Ich erlebe bei Auftritten mit Frauen, dass da ein neuer Geist entstanden ist. Jetzt ist der Moment aber auch da, wir wollen Veränderung.

Frauenpolitik war immer Ihr großes Thema in der Politik…

Ja, aber nicht nur isoliert die Frauen. Mein Thema in der Politik war immer: Vermeidet Ausgrenzung, schafft nicht Parallelgesellschaften, sondern versucht so viel Integration, wie eben möglich. Das merken sie an der Migranten- vor allem der Flüchtlingsfrage, aber auch beim Thema Homosexualität. Sie galten als abartige, kranke Menschen. Wie lange haben wir gebraucht, und haben immer noch damit zu tun, Andersartigkeit anzuerkennen. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch bei, den Armen und den Benachteiligen dafür sorgen, dass sie nicht an den Rand gedrängt werden, sondern aus der Schwäche Stärke wird. Das heißt aber auch, diejenigen zu unterstützen, die wirtschaftlich, sozial oder emotional ohne staatliche und zivilgesellschaftliche Hilfen nicht menschlich existieren können.

In Brandenburg wurde ein Paritätsgesetzt beschlossen. Brauchen wir ein solches Gesetz, um die von Ihnen geforderte Parität zu erreichen?

Ja, ein Paritätsgesetz, das den Ansprüchen unserer Rechtsnormen gerecht wird. Sie können auch einen ersten Schritt über ein Parteiengesetz vornehmen. Das haben SPD, Grüne und Linke schon vorgemacht. Das wird sich in der Auseinandersetzung, je nachdem wie heftig sie wird, entscheiden. Aber ein Ziel dürfen wir nicht bejahen: Wieder Trippelschritte. Wieder Vertrösten auf Später.

Wir haben heute in einer globalisierten Welt, wo andere Weltregionen beispielsweise China uns vormacht, dass die Zeit drängt, das Neue schneller zu lernen (die digitale Welt). Aber es wird uns auch bewusst, welchen hohen Stellenwert Menschenrechte, Aufbau und Erhalt der Demokratie haben. Das erfordert unseren tatkräftigen Einsatz, gerade für elementare Menschenrechte, gegen Unterdrückung und Gewalt und die freiheitlich ideenreiche Entwicklung mit den Frauen in aller Welt.

Angela Merkel galt vielen Konservativen in Ihrer Partei als Betriebsunfall. Nunmehr wurde mit Annegret Kramp-Karrenbauer eine zweite Frau als Vorsitzende der CDU gewählt. Da zeigt sich doch, dass Frauen in der Politik alle Chancen haben.

Ich muss Sie korrigieren, sie haben nicht alle Chancen. Allein die Tatsache, dass wir das als Betriebsunfall bezeichnen, spricht ja Bände: Eigentlich hätte es nicht vorkommen dürfen, jetzt kommt es schon das zweite Mal vor. Da habe ich eine andere Interpretation. Es zeigt sich nicht als Betriebsunfall, sondern es zeigt sich, was Frauen können, wenn wir sie lassen statt ihnen nur verbal die Möglichkeit zu geben, sie dann aber nur auf Listenplätzen positionieren, die nicht zu gewinnen sind. Ich freue mich, dass unsere Gesellschaft soweit ist, dass Frauen in Spitzenpositionen eben selbstverständlich sind.

Die Listenplätze sind das eine, die Sachsen CDU hat beispielsweise zur Landtagswahl ein Reißverschlussverfahren bei der Besetzung der Liste eingesetzt. Das andere sind die Direktwahlkreise, hier treten beispielsweise bei der CDU Sachsen nur in zwölf Prozent der Walkreise Frauen an.

Meines Erachtens müssen wir beides verfolgen. Wir brauchen das Reißverschlussverfahren und aussichtsreiche Wahlkreise für Frauen. Und wir dürfen nicht nur von oben nach unten denken. Die Kommune ist für mich der wichtigste Lernort für Demokratie. In einer überschaubaren Welt zu erfahren, was da mein Platz ist, was ich bewirken kann. Daher ist die Aufstellung in den Wahlkreisen entscheidend. Welche Regeln geben wir uns und wie verbindlich halten wir uns daran? Wenn wir uns Regeln geben, die wir danach doch nicht einhalten, dann sind es keine verbindlichen Regeln.

Der ehemalige CSU Parteivorsitzende Horst Seehofer hatte sich ursprünglich für die Förderung von Frauen stark gemacht. Bei seinem Abtritt hat er sein Scheitern eingestanden. Sein Nachfolger Markus Söder hat nun das gleiche Ziel gesetzt. Trauen Sie ihm an der Stelle mehr zu?

Jeder Mensch kann lernen, sich verändern, Neues denken und in Handeln umsetzen. Das können auch die Frauen.

Wir erleben in den verschiedensten Gebieten, dass Frauen zeigen, welche Fähigkeiten sie haben und wie hilfreich es ist, Frauen und Männer angesichts der heutigen Probleme gemeinsam daran zu setzen, Lösungen zu finden. Frauen haben oft eine unterschiedliche Blickrichtung. Wir sind nicht die besseren Menschen, aber beide Geschlechter zusammen verfügen über unterschiedliche Erfahrungen und diese gemeinsam einzusetzen ist doch ein Vorteil. Ich sehe es auch bei vielen Migranten, die mit ihren kulturellen Fähigkeiten und kulturellen Merkmalen eine Menge bewirken, wie sie das schon immer in der Welt getan haben. In der Welt der Astronomie, der Stern- und Erdkunde, im Ackerbau, der Landwirtschaft, und all die anderen Bereiche. Das ist ein Weg, der sich in den Möglichkeiten verbreitert und nicht nur in Benachteiligung mündet.

Trauen Sie es Söder zu?

Wenn er es will, kann er es auch.

Wenn Sie sich einmal überlegen, was die Frauen im ersten und zweiten Weltkrieg geleistet haben, als Verbote übertreten werden mussten. Frauen sollten damals nirgendwo in den Berufsstand, weder als Ärztinnen noch als Juristinnen, Naturwissenschaftlerinnen, schon gar nicht in politische Ämter. Und was wurde dann notwendig? Die Männer waren im Krieg und plötzlich mussten die Frauen alles können. Und sie haben gezeigt, dass sie es auch können.

Natürlich gibt es auch Risiken, zum Beispiel sich zu überfordern. Das beginnt mit der Eigen- und Fremderwartung gleichzeitig Kinder, Erwerbsberuf und eine ehrenamtliche Tätigkeit zu haben. Aber schaut doch zunächst, was sie geschafft haben und nicht, was sie alles nicht können. Ich bin ein Mensch, der auf das Potential von Menschen setzt, auch derer, die zunächst einmal keine Schulausbildung erfolgreich abgeschlossen haben. Wir sind lernfähig, wir sind zu motivieren und wir leben jetzt in einer Zeit, wo wir auch wieder mehr leisten müssen, um den Anschluss an die Welt nicht zu verlieren. Und das in einer menschlichen Weise.

Wieso steht das Thema derzeit so stark auf der Tagesordnung?

Es ist zum einen, weil wir globaler werden, älter werden, weniger junge Menschen haben, daher sind wir dringend mit all unseren Talenten gebraucht. Unser Gehirn bietet noch viel Platz Neues und Kompliziertes zu lernen.

 Ich bin immer wieder begeistert, wie viele junge Menschen es gibt mit neuen Ideen, in der Umwelt-, Verkehrs-, Energie- und Wohnungspolitik. Wir sind nicht am Ende, sondern müssen bereit sein, unser bisheriges Können für die heutigen Fragen einzusetzen.

Jetzt liegt der Fokus bei Ihnen sehr stark auf Frauen….

Mein Fokus liegt stark auf Veränderung der gesellschaftlichen Relation Frauen – Männer. Aber ich bin nicht jemand, der sagt: das machen zukünftig Frauen und vergesst die Männer. Nein, wir sollten endlich alle lernen, Partnerschaft nicht bloß als Vokabel im Mund zuführen, sondern partnerschaftlich zu leben. Wir leben in einer Welt, in der die Ängstlichen in alte Verhältnisse mit ihren Rollenklischees zurückwollen. Das will die Mehrheit der Frauen weltweit nicht mehr.

Wenn wir uns die Repräsentanz im Parlament anschauen, dann könnten auch andere Gruppen als Frauen darauf verweisen, nicht in Vergessenheit zu geraten: Die Jungen, oder Vertreter ethnischer Minderheiten.

Das ist eine Binsenweisheit.

Da sind wir alle, gerade auch wir Frauen gefordert. Wir lassen uns treiben von Angst, nicht von unserem Selbstbewusstsein und Stärken, dem Wissen um unsere Potentiale. Wir waren schon mal offener und mutiger.

Woran liegt das?

Da wir zurzeit weniger vom Gedanken der Integration bestimmt sind, sondern davon, wie wir uns vor Migranten schützen und sie abwehren. Und da kommen wir in eine erhebliche Zahl von Widersprüchen.

Ich nenne Ihnen mal einen der Hauptwidersprüche, formuliert mit den Worten des früheren Schweizer Literaten Max Frisch „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“

Dabei gilt der Satz immer noch: gekommen sind Menschen. Wir müssen wieder zurückkehren zu diesem Satz, es geht nicht primär um Flüchtlinge und Arbeitskräfte, um Minderheiten, sondern um Menschen.

Aljoscha Kertesz

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