Auschwitz war absehbar

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Schon vor Kriegsausbruch gelang es dem polnischen Geheimdienst, in Hitlers konspirative Nachrichtennetze einzudringen – engagierte Katholiken aus Deutschland leisteten wertvolle Hilfe.

Kaum einer kennt ihn. Und doch war er es, der Hitlers Traum vom „Endsieg“ ein vorzeitiges Ende bereitete: Marian Rejewski, 1905 im damals deutschen, heute polnischen Bromberg geboren, von Beruf Mathematiker. Von frühester Jugend an war Rejewski mit deutscher Kultur und Sprache vertraut, und:  Er war Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes. Im Jahr vor der Machtergreifung Hitlers drangen er und ein paar Kollegen ins Innenleben der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma I, im Folgenden nur Enigma genannt, ein. Mit der Folge, dass die polnische Regierung schon lange vor dem deutschen Überfall im September 1939 über vieles informiert war, was sich an ihrer Westgrenze zusammenbraute – allerdings ohne etwas dagegen zu unternehmen, worin die Tragik des 20. Jahrhunderts und wohl vieler Geheimdienste besteht. „Dass Auschwitz schon 1933 absehbar war“, schlussfolgert der Berliner Publizist und Historiker Sven Felix Kellerhoff, der sich intensiv mit Hitlers Buch „Mein Kampf“ beschäftigt hat. Und dass das Grauen der Judenvernichtung womöglich hätte verhindert werden können.

Im Sommer 1929 hatte Marian Rejewski, mit einem legendierten Stipendium des polnischen Geheimdienstes ausgestattet, einige Monate in Göttingen verbracht, dort unverdächtigerweise „Versicherungsmathematik“ studiert und über die katholische Studentenverbindung Palatia Kontakte in akademische Kreise geknüpft. Bei Kriegsausbruch 1939 waren es dann die katholischen Seilschaften aus Göttingen, die mit dafür sorgten, dass Rejewski und Kollegen unbehelligt vor der einrückenden Wehrmacht nach England gelangten, etwa indem sie in Rumänien und Frankreich Unterschlupf in Klöstern und Pfarrhäusern fanden, wie Rejewskis Tochter später berichtete.

Operation Posen

Ab 1930 hatte Rejewski an der Universität Posen Mathematik gelehrt und erfolgreich einen vom polnischen Innenministerium organisierten Dechiffrierkur absolviert. Anschließend wechselte er als hauptamtlicher Geheimdienstmitarbeiter ins Referat BS4, der für Deutschland zuständigen Abteilung. Posen, das von 1793 bis 1918 unter deutscher Verwaltung gestanden hatte, bot gute Möglichkeiten, Deutsch sprechende Agenten anzuwerben, was später kriegsentscheidend wurde. Unweit der Universität erinnert heute eine 2007 feierlich enthüllte Stele an den 1980 verstorbenen Marian Rejewski, dessen Leistungen in Polen erst in jüngerer Zeit gewürdigt werden, auch in seiner Heimatstadt Bromberg, wo er sich als Statue auf einer Bank Notizen macht und neben ihm eine in Bronze gegossene Enigma liegt.

Walzen und Drähte

Die Enigma, aus dem Griechischen kommend „Rätsel“ bedeutend, war 1923 von Arthur Scherbius entwickelt und von deutschen Militärs schnell als nützlich erkannt worden, so dass sie bald wieder vom Markt verschwand. Kurz zuvor war der polnische Geheimdienst noch in den Besitz einer solchen gekommen. Was ihm jedoch nur wenig nützte, da sich die militärischen Modelle deutlich von den frei verfügbaren unterschieden. „Bis Rejewski Ende 1932 der Durchbruch gelang und auch die im deutschen Sicherheitsapparat verwendeten Enigmen entschlüsselt wurden“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin.  Enigmen, mit der Behörden, Botschaften und Armeeeinheiten schon zu Zeiten der Weimarer Republik (1919 – 1933) kommunizierten und die heute in den Vitrinen des Heinz-Nixdorf-Museums in Paderborn auf interessierte Besucher warten, bestanden im Wesentlichen aus drei Komponenten, die miteinander verdrahtet waren: einer Tastatur für die Eingabe der Klartextbuchstaben, einer Verschlüsselungseinheit und einem Lampenfeld, das die Geheimbuchstaben anzeigte. Die aus Walzen bestehende Verschlüsselungseinheit war von Drähten durchzogen, wobei die innere Verdrahtung das Entscheidende war, da sie darüber bestimmte, wie die Buchstaben verschlüsselt wurden.

Beweismittel in Nürnberg

Bei der Entschlüsselung half den Polen der französische Geheimdienst, der über einen deutschen Überläufer in den Besitz wichtiger Gebrauchsunterlagen zur Enigma gelangt war. Während Franzosen und Briten kaum Nutzen daraus zogen, waren die Dokumente des deutschen Überläufers für die  Codeknacker um Marian Rejewski Gold wert. Denn sie halfen, die Verdrahtung der Einigma-Schlüsselwalzen zu erschließen. „Die Polen entwickelten dazu ein spezielles Verfahren, einen so genannten `Zyklometer`, mit dem sie den Schlüssel maschinell herausfanden“, erklärt Historiker Puschner. Bis dieser ab 1938 durch individuelle Verschlüsselung jeder einzelnen Nachricht ersetzt wurde, was auf Hitlers Kriegsvorbereitungen hindeutete, aller Friedensrhetorik seiner Propaganda zum Trotz. Im Juni 1934 war es dem polnischen Geheimdienst noch gelungen, zeitgleich mit deutschen Dienststellen die Tötungsbefehle gegen SA-Chef Ernst Röhm und dessen Mitstreiter mitzuhören, worin Warschau ein deutliches Warnsignal für alles Kommende sah. 

Kurz vor Kriegsausbruch, Ende Juli 1939 übergab der polnische Geheimdienst seine Erkenntnisse zur Enigma bei einem Treffen im Kabaty-Wald von Pyry, südlich von Warschau an Briten und Franzosen, die aus dem Staunen nicht mehr herauskamen, als Rejewski vortrug und ihnen zudem noch einen Enigma-Nachbau überreichte. Mit Hilfe der polnischen Vorarbeiten gelang es den westlichen Alliierten ab etwa 1940, immer tiefer in die geheimen Kommunikationsnetze von Wehrmacht, Reichsmarine, Sicherheitsdienst (SD) und SS einzutauchen und vor allem den deutschen Luftkrieg über Großbritannien abzuwehren. Rund 2,5 Millionen deutsche Funksprüche konnten die Alliierten entschlüsseln, darunter viele, die auf Kriegs- und Menschheitsverbrechen hindeuteten. Auch die erfolgreiche Invasion der Alliierten im Juni 1944 in der Normandie wäre ohne Marian Rejewskis Arbeiten nicht möglich gewesen. „Der Krieg wäre anders und vor allem länger und noch blutiger verlaufen, hätte der polnische Geheimdienst nicht schon in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren klammheimlich an jenem Ast gesägt, von dem aus Hitlers Imperium eineinhalb Jahrzehnte später in den Abgrund stürzte“, ist Sven Felix Kellerhoff überzeugt.

Bei Kriegsausbruch flohen Marian Rejewski und seine Kollegen über Rumänien, Frankreich, und Algerien nach London, wo sie – wohl aus Sicherheitsgründen – nicht in die Spionageabwehr eingebunden wurden und sich stattdessen weiter wissenschaftlich betätigten. Was in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Polen wusste weit mehr von Hitlers Kriegsplänen als manche deutschen Militärs und Politiker, die nur selten in alles eingeweiht waren, darunter auch Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, den US-Ankläger 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess spöttisch einen „Errant Boy“, als Hitlers Reiseboten bezeichneten. Und von dem auch Herrmann Göring, immerhin Hitlers Stellvertreter, behauptete, dass er „nichts zu sagen gehabt“ habe. Die von den Alliierten entschlüsselten Funksprüche der deutschen Enigmem waren in Nürnberg wichtige Beweismittel für die als geheim geglaubten Vernichtungsbefehle Hitlers und seiner Adlaten. Da half dann auch kein Leugnen und Abstreiten mehr, um der drohenden Todesstrafe zu entgehen, die am Ende in zwölf Fällen vollstreckt wurde.

Über Benedikt Vallendar 77 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.