Notizen über Alexander Saechtigs Buch „Jenseits von Moskau. Literatur und Literaturwissenschaft im Sozialismus auf eigenen Wegen“. Dargestellt am Beispiel China, der DDR, Polens und Vietnams. Von Axel Reitel.
Man kann über Schuld schreiben. Man kann über Scham schweigen. Aber was passiert, wenn Sprache selbst zum Zeugen wird – gegen das Schweigen und als Widerstand? Willkommen. Dieses Buch betritt diesen Zwischenraum: Es verhandelt Schuld nicht als juristisches Konzept, sondern als literarische Erfahrung – in Fragmenten, Wiederholungen und Störungen.
So steht im Zentrum von „Jenseits von Moskau“ der geografische Raum auch als ein epistemologischer: mit Ländern, in denen Schuld verdrängt, darüber zu sprechen verfolgt und dennoch mit bewunderungswürdigem Mut und Talent literarisch aufgearbeitet wird.
Es geht um Tabus wie die Kulturrevolution, moralische Doppelbindungen von Literatur und Staat, die Rolle von Archiven sowie agnostischer und religiöser Prägung. Die nationale Erzählung wird dekonstruiert, die Literatur als Mitspielerin im Gedächtnistheater sichtbar gemacht.
Der Autor Alexander Saechtig begibt sich hier auf eine interkulturelle Reise durch die literarischen Schulddiskurse – doch nicht als abstrakte Theorie, sondern als akribisch durchleuchtetes Gewebe in sechs Kapiteln: Textfragmente, Biografien und dokumentarische Schattenzonen.
„Jenseits von Moskau“ ist keine narrative Chronologie, sondern ein literarisches Archiv innerer und gesellschaftlicher Brüche, durchzogen von dokumentarischen Elementen, Porträts, Korrespondenzen und Bildern.
Dennoch gibt es, bei allen notwendigen Unterschieden, eine Übereinstimmung, nämlich in der Frage des Konzepts. So setzen all die bewunderungswürdigen Talente nicht auf Trends wie etwa den bestechenden magischen Realismus, sondern auf das Aufbegehren gegen das Widerspiegeln der Wirklichkeit, womit einer anderen fiktiven Form ein Boden geebnet wird, in dem auch Narbenskizzen etwa der chinesischen Erinnerungskultur und Störakkorde ohne ängstigenden Ballast verstanden und verarbeitet werden können.
Literatur zu schreiben gegen eine Macht, die jeden Widerspruch blutig verfolgt, ist eben etwas anderes, als in einer freiheitlichen Demokratie gefährlich zu tun.
Besonders eindrücklich sind aber auch jene Seiten, in denen biografische Schuld performativ verhandelt wird – etwa in der Darstellung von Marian Szyrocki als ambivalente Figur zwischen akademischer Autorität und politischer Verstrickung.
Insgesamt oszilliert der Text gekonnt zwischen dokumentarischer Evidenz und stilistischer Verdichtung. Gespräche mit Zeitzeugen, Fotografien, Briefe und literaturwissenschaftliche Kommentare werden zu einem mehrdimensionalen Erlebnisraum, in dem das Lesen selbst zur Form der Auseinandersetzung wird.
Kapitel I–III fokussieren auf osteuropäische Übergangsgesellschaften: von China, der DDR, über Polen bis ins Baltikum. Von Autoren wie Christa und Gerhard Wolf, über Uwe Kolbe, Utz Rachowski, Adam Zagajewski, Jarosław Iwaszkiewicz, bis Ma Yuan, Yu Hua.
Kapitel IV bringt mit Günter Grass eine überragende literarische Perspektive ins Spiel, die transnational Brücken schlägt.
Kapitel V erweitert den Horizont nach Asien – mit Blick auf Kommerzialisierung und Erinnerungspolitiken in China und Vietnam. In Gesprächen mit Zhang Jie oder Pietro Quaroni.
Kapitel VI zeigt sich unterschiedlichen Formen der Aufarbeitung der tabuisierten Themen im genannten Untersuchungsbereich – etwa bei Hei Mia oder Ba Jin.
Gesamteindruck
„Jenseits von Moskau“ ist ein kulturell vielstimmiges und literarisch komplexes Buch, das zeigt, wie sich Literatur jenseits von staatlicher Repräsentation entfalten konnte. Es ist ein Plädoyer für poetische Vielstimmigkeit, ethische Tiefenschärfe und den Wert kritischer Erinnerungskultur.
Diese Arbeit gehört zu jenen, die Literatur als kulturelle Verhandlung ernst nehmen – und dabei nicht nur historische Deutung liefern, sondern Zukunftsperspektiven für Literaturkritik und transnationales Denken eröffnen.
Jenseits von Moskau: Literatur und Literaturwissenschaft im Sozialismus auf eigenen Wegen (Germanistische Texte und Studien 106) Georg Olms Verlag, Baden-Baden, ISBN-13: 978-348742400-2, 240 Seiten, 54 Euro

