In seinem neuen Roman „Die Ausweichschule“ thematisiert Kaleb Erdmann das Massaker am Erfurter Gutenberggymnasium im April 2002 – das er als Sextaner knapp überlebt hat. Das Buch stand 2025 auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Von Benedikt Vallendar.
Ob es tatsächlich ein Roman ist? Der Leser erfährt es nicht, auch wenn die Bezeichnung das Buchcover ziert und Fiktives in diesem Buch mal dominiert und dann wieder eine Randerscheinung bleibt. Und wahrscheinlich wären für Kaleb Erdmanns neuestes Buch „Die Ausweichschule“ (Ullstein Verlag 2025) Bezeichnungen wie „Psychogramm“, „Meine Zeit nach dem Amoklauf“ oder „Wie ich mir mein Leben zurückholte“ die passenderen Untertitel gewesen.
Mit dem für die Shortlist des deutschen Buchpreises nominierten Titel entführt uns der 1991 geborene Autor, einst Schüler am Erfurter Gutenberggymnasium in die Zeit nach dem Massaker an seiner Schule im April 2002, will sagen: wahrscheinlich in sein eigenes Erleben, Staunen und Lernen, nachdem er das Abitur wohl an einer anderen Schule abgelegt hatte, was ebenfalls im Dunkeln bleibt. Und allein daraus abgeleitet werden kann, dass Erdmann angibt, später Politische Theorie studiert zu haben.
Die enge Verflechtung von Realem und Fiktiven und das wilde Draufloserzählen des Erlebens in den Jahren nach dem Amoklauf am Erfurter Gutenberggymnasium lässt das Buch zu einer unpolitischen Streitschrift mutieren, in der der Autor leise laut um Hilfe schreit; nicht imstande ist, loszulassen von den Erfurter Ereignissen im April 2002, indem er uns konfrontiert mit wilden Geschichten; die begannen, als ein Alptraum Heranwachsende ins Wachkoma stürzte, aus dem sie bis heute nicht erwacht sind.
Das Buch arbeitet mit Rückblenden, leider auf Kosten der Spannung, da Einzelheiten und Vorgeschichte zum Amoklauf wie Inselwissen nacherzählt und nur fragmentarisch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Passagenweise wirkt das Buch wie ein Sachtext, dessen Narrative mal konkret sind und dann wieder unverhofft ins Nebulöse, will sagen: ins unverbindlich Erzählende abgleiten; ein Phänomen, das bekannt ist v.a. aus psychiatrischen Kliniken, wo Patienten ihre Therapeuten oft gern mit Rationalem und Irrationalem zugleich konfrontieren und damit das Arbeiten dort zu einer echten, auch persönlichen Herausforderung machen.
Im April 2002 waren am Erfurter Gutenberggymnasium binnen weniger Minuten 17 Schüler und Lehrer, darunter der Täter mit Schusswaffen vom Leben zum Tode befördert worden. Der normale Unterrichtsbetrieb geht im Roman relativ zügig weiter, da die Schüler kurzerhand an eine andere, eine „Ausweichschule“ verfrachtet werden. Und dort nur ansatzweise jene psychologische Hilfe bekommen, die eigentlich notwendig gewesen wäre. Auch hier fehlen die Bezüge zur Realität, die erzählt zu bekommen, der Leser erwartet, aber nicht erwarten darf, da es sich ja wie gesagt nur um einen „Roman“ handelt.
Frust über schulisches Scheitern sei das Motiv des Täters gewesen, wird bis heute spekuliert. Doch offenkundig war das für den in Westdeutschland geborenen und in Ostdeutschland sozialisierten Autor nur nebensächlich, da ihm das eigene Ego näher zu stehen schien als die vermeintlich richtige oder falsche Genese des in der deutschen Schulgeschichte wohl einmaligen Verbrechens. Der Text lässt die Grenzen zwischen Erlebtem und vermeintlich Fiktiven ebenso verschwimmen wie die Frage, wer hier eigentlich auf Tuchfühlung zum Leser geht, der Autor, sein literarisches Ich oder eine gänzlich erfundene Figur, die Kaleb Erdmann die Ereignisse in und außerhalb Erfurts nach dem Amoklauf schildern und analysieren lässt
„Analysieren“ ist eigentlich schon zu viel gesagt. Denn in der Gesamtschau gleicht das Werk einer Reise ins eigene Ich, einem inneren Monolog, den als Erzählform einst Arthur Schnitzler in die deutsche Literatur eingeführt hat; und auf dessen Klaviatur der Autor Erdmann die Ereignisse rund um das Massaker am Gutenberggymnasium Revue passieren lässt.
Das vermeintlich Chaotische, das dieses Werk auszeichnet, ist jedoch zugleich auch seine Stärke. Da es dem Leser in unverhohlener Weise vor Augen führt, welche Verheerungen der Mörder hinterlassen hat; auch bei jenen, die das Gemetzel überlebt haben. Und nur der Zufall oder Gott wollten, dass sie das Buch des Kaleb Erdmann heute lesen können.
