CORONA – Filmbrancheninfos #8

wer wird das Gesicht von corona?

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Ab heute gilt ein Tarifvertrag zur Kurzarbeit, und er wirft auf allen Seiten neue Fragen auf. Wir verweisen auf erste Einschätzungen und Reaktionen und zeigen nützliche Links zu Antworten zum Arbeitsrecht.

Vorab ein Nachtrag: Schon vorige Woche hatte der Bundesverband Herstellungs- und Produktionsleitung (HBU) beim Kreisverwaltungsreferat (KVR) München nachgefragt, wie das Verbot von Dreharbeiten genau zu verstehen sei. Generell, lautet kurzgefasst die Antwort, die uns vorliegt: „Mit Blick auf die Intention der Allgemeinverfügung ist es hierbei unerheblich, ob die Drehaufnahmen auf öffentlichem Verkehrsgrund oder auf Privatgrund stattfinden. (…) Entsprechend sehen wir auch die Durchführung von Drehaufnahmen auf Privatgrund im Freien sowie die Durchführung von reinen Innendrehs bis zum 19. April 2020 nach Maßgabe der Allgemeinverfügung als nicht erlaubt und nicht erlaubnisfähig an. Es würde explizit dem Sinn der Allgemeinverfügung entgegenlaufen, (gewerbliche) Aktivitäten vom öffentlichen Grund auf Privatgrund bzw. Indoor zu verlegen. Zudem ist aus Sicht des Infektionsschutzgesetzes zu beachten, dass die Gefahr einer Verbreitung des Virus in geschlossenen Räumen viel höher ist als im Freien.“ 
Ob oder wie etwaige Verstöße dieser Art kontrolliert werden, teilt das KVR nicht mit. Nach Auskünften aus Gewerkschaftskreisen richten sich die Behörden in Bayern weitestgehend nach der Aussage des Filmbüros des KVR München: „Die Behörden haben aber erst einmal keine Handhabe, weil sie ja nur Genehmigungsstellen sind. Zuständig für den Vollzug auf Privatgrund ist die Polizei.“

„Die Dreharbeiten müssen aufhören, jetzt!“ berichtete gestern die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Es ist unklar, ob sie arbeiten dürfen und wer ihre Ausfälle zahlt. So ergeht ein dramatischer Appell an Politik, Verwaltung und Sender.“ Seit heute fordert eine Petition ein einheitliches Verbot von Dreharbeiten für fiktionale Kino- und TV-Produktionen. Absender sind Produzentenverband und acht weitere Berufsverbände und Organisationen.

Wie geht’s weiter nach der Krise? Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat vier Szenarien entworfen. Das optimistischste zeichnet eine neue, aber überwiegend positivere Welt mit veränderten Werten. Anschaulich schildert er es in einem Rückblick: Wie wir in einem halben Jahr auf die Krise und das Virus blicken werden. Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski sieht das übrigens ähnlich optimistisch: „Jetzt bildet sich eine Selbsthilfegesellschaft aus der Einsicht, aufeinander angewiesen zu sein.“

Die Kinos haben geschlossen. Alle Dreharbeiten sind unterbrochen. Und was passiert mit den neuen Filmen und dem deutschen Filmpreis? Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat sich gestern in der Branche umgehört.

Die britische Arthaus-Kinokette Curzon zeigt schon seit Jahren ausgewählte Filme auch als Stream über ihre eigene Plattform. Ab Freitag sollen hier Filme laufen, die plötzlich nicht mehr ins Kino können. Diesen Freitag startet die Reihe um 18:45 Uhr mit Nora Fingscheidts „Systemsprenger“, gefolgt von einer Live-Diskussion mit der Regisseurin ab 21 Uhr.

Noch eine Möglichkeit, den Kinos zu helfen: Freiwillig einen kurzen Spot schauen, und schon zahlen die Werbepartner Geld an das entsprechende Kino. Das Kino der Gunst kann jede*r vorher selbst bestimmen.

Immer mehr Dreharbeiten wurden inzwischen eingestellt, immer mehr Fragen erreichen uns dieser Art: „Was ist mit Filmschaffenden, die jetzt schon vom Arbeitslosengeld leben müssen – die Projekte vor sich hatten, aber noch keine Verträge? Müssen die jetzt alle zur Agentur für Arbeit und ihre hart verdienten Arbeitslosengeldtage aufbrauchen und danach in die Hartz-IV-Röhre schauen?“
Darauf zielt seit Montag eine Petition für eine Art außerordentliches Arbeitslosengeld an die Bundesregierung. „Das System, mit dem wir uns die letzten Jahre zurecht gefunden haben, scheint nun unter Corona komplett zusammenzubrechen“, heißt es in der Petition, die bereits 941 Filmschaffende quer durch alle Berufe unterzeichnet haben. „Wir sind zwangsläufig kurzzeitig befristet Angestellte. (…) Den meisten von uns wurde gekündigt oder geplante, mündlich besprochene Projekte wurden einfach abgesagt. Die Lösung die gefordert wird: Der Anspruch auf Arbeitslosengeld wird eingefroren, die Zeit des „Social Distancing“ nicht angerechnet und soll auch in zukünftigen Berechnungen nicht berücksichtigt werden.

Einen sehr guten Überblick aller Sofort-Nothilfen von Bund und Ländern mit Kurzerklärung bietet das „Gründerlexikon“. Das liefert in einem laufend aktualisierten Überblick weitere Tipps und die Einladung zur Facebook-Gruppe, wo erste Erfahrungen mit den Hilfsprogramme in der Praxis besprochen werden.

Informationen zu Arbeitsrecht und staatlichen Hilfen gibt auch die Kanzlei Brehm & v. Moers.

Arbeitsrechtliche Fragen beantwortet die Anwaltskanzlei SKW Schwarz auf ihrer Website im Q&A.

Mit der allgemeinen Solidarität der Branche hapert es an manchen Stellen noch. Die Filmunion in Verdi verschickte gestern einen Sonder-Newsletter, „wie Filmschaffende finanziell die Corona-Krise überstehen können“. Darin die Warnung: „Offenbar versucht ein in der Szene allseits bekannter Anwalt, die Verunsicherung in der Szene auszunutzen und fordert von jedem Mitglied eines Filmteams ihm 100 Euro zu zahlen, damit er sie vertritt. Das Instrument der Kurzarbeit liegt nun dank des Tarifvertrages zur Kurzarbeit bereit – und es ließ und lässt sich tariflich auch für nicht tarifgebundene Filmproduktionen zugunsten der Beschäftigten schärfen. Ein Anwalt, der zu Klagen (mit ungewissem Ausgang) rät, um Mandanten und vor allem erstmal eigene Honorare zu gewinnen, ist aus unserer Sicht nicht nur standesrechtlich fragwürdig, sondern mit falschen Versprechungen auch unseriös. Solltet ihr mit solchen Praktiken in Kontakt kommen, meldet euch bei Verdi, wir helfen euch bei der Einschätzung solcher anwaltlichen Angebote.“

Umgehend erhielten wir Antwort von einem Mitglied: „Auch mir ist dieser Rechtsanwalt gut bekannt, daher möchte ich nach Rücksprache mit ihm ein paar Punkte richtigstellen: Er fordert nicht von jedem Mitglied eines Filmteams 100 Euro für eine Vertretung, sondern er bietet lediglich den Mitgliedern eines einzelnen Filmteams, in dem sich viele Teammitglieder zusammengetan und ihn um Vertretung gebeten haben, entgegenkommenderweise an, sie zu ermäßigten Konditionen zu vertreten. Bei außergerichtlichen Angelegenheiten darf man, anders als in Gerichtsverfahren, in dieser Weise von den Regelsätzen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) abweichen.
Das Instrument der Kurzarbeit liegt nicht dank des Verdi-Tarifvertrags bereit, sondern weil die Bundesregierung kurzfristig die seit langer Zeit bestehenden Regelungen der Situation angepasst hat. Nach meiner Kenntnis war besagter Rechtsanwalt sogar derjenige, der als Erster vorgeschlagen hat, dieses Instrument auch in unserer Branche zur Anwendung zu bringen. Ver.di hat mit dem neuen Tarifvertrag die Aufstockung geregelt, was in Tarifverträgen anderer Branchen ebenfalls verbreitet ist. Wie viel und vor allem wie lange das den Filmschaffenden in der Praxis tatsächlich etwas bringen wird, bleibt abzuwarten, große Skepsis ist aus mehreren Gründen angebracht.
Er rät auch keineswegs zu Klagen, und hat die Mandate bislang ausdrücklich nur für die außergerichtliche Vertretung angenommen, um eine gütliche Einigung zu erreichen. Er verhandelt gemeinsam mit einer Verhandlungsgruppe des Teams mit der Geschäftsführung der Produktionsfirma an einer Regelung, um eben nach drei Wochen notwendig werdende Klagen zu vermeiden.
Diese Firma ist im Übrigen nicht Mitglied in der Produzentenallianz, so daß der Tarifvertrag, selbst wenn er gut wäre, dort schon deshalb wohl nicht zur Anwendung käme. Auch Versprechungen (welche?) hat er in diesem Zusammenhang nach eigener Aussage nicht gemacht. Und zum Vorwurf, er wolle sich die Verunsicherung zum eigenen Vorteil zunutze machen, ist zu sagen, dass er am Montag bereits zum wiederholten Mal mit einer Sonderausgabe seines Newsletters sehr wertvolle Hinweise gegeben hat, die für Viele von uns nicht nur viel bares Geld wert sind, sondern Manchem auch die Existenz retten können. Er hat diese Hinweise in Nachtarbeit zusammen- und unentgeltlich zur Verfügung gestellt.
Bitte nehmt diesbezüglich keinen Kontakt zur Verdi auf! Wer es nötig hat, in dieser geschmacklosen Weise genau denjenigen zu diffamieren, der im Gegensatz zur Gewerkschaft (deren Aufgabe das eigentlich wäre) tatsächlich hilfreiche Hilfestellung gibt, statt Scheinlösungen pompös zu feiern, dem sollte man nicht glauben oder folgen. Und bitte erst recht nicht vertrauen.

Eine erste Einschätzung des Kurzarbeits-Tarifvertrags gab heute der Fachanwalt für Arbeitsrecht, Marcus Sonnenschein auf „Blickpunkt:Film“. Er sieht einiges „sehr problematisch“. Allerdings habe das Ergebnis „ein Zeichen gesetzt“, dass die Krise „nur miteinander und nicht gegeneinander“ durchzustehen sei.

Mehrere Berufsverbände prüfen die Vereinbarungen zur Kurzarbeit noch. Und auch für Produzent*innen ergeben sich neue Fragen. Jan Philip Lange von Junifilm schildert uns die Problematik eines kleinen, nicht tarifgebundenen Produktionsunternehmens: 
„Wie soll dieser eigentlich gute Ansatz funktionieren? Wir haben am 13. März beschlossen, die Vorbereitungen zu einem Low-Budget-Debütprojekt wegen der Corona-Pandemie abzubrechen. In der Vorbereitungsphase, ohne, dass auch nur eine Förderrate geflossen ist. Um unsere Crew und das Projekt zu schützen. Ein Teil der Crew hat sich arbeitslos gemeldet, für einen anderen Teil beantragen wir Kurzarbeit (Arbeitszeit 0 Prozent). Wir müssen und wollen nun die Gagen für die geleisteten Arbeitstage zahlen, im Anschluss daran Kurzarbeitergeld, aber nur 60 Prozent – also den Teil, den wir (hoffentlich) von der Agentur für Arbeit erstattet bekommen. Das allein ist schon wahnsinnig schwierig, denn wir haben keine liquiden Mittel. Freundlicherweise zahlen uns Nordmedia und das Kuratorium nun ihre erste Förderrate aus, davon können wir gerade so die angelaufenen Kosten decken. Die Vorauszahlungen des 60-Prozent-Kurzarbeitergelds für den nächsten Monat werden schon schwierig. DFFF und BKM weigern sich zurzeit, ihre ersten Raten auszuzahlen, mit Hinweis darauf, dass dazu der 1. Drehtag absolviert sein müsse. Auch das ZDF zeigt sich bisher wenig pragmatisch, Auszahlung eines Anteils der 1. Rate: Fehlanzeige. Nun frage ich mich: Wie sollte eine kleine Produktionsfirma auch noch über Monate eine Aufstockung von 60 auf 100 Prozent der Gagen im Fall von Kurzarbeit bezahlen? Woher soll dieses Geld kommen, so lange völlig unklar ist, woher finanzielle Hilfen in diesem Ausmaß für Produzenten kommen sollen – und vor allem, wann? Was nützt einem Team diese in Aussicht gestellte Aufstockung, wenn der Arbeitgeber dadurch insolvent wird?
Wir erleben gerade ein Berufen der Förderer auf ihre Richtlinien, was nun nicht der allgemein ausgerufenen Hilfe entspricht, während wir als kleine Produzenten versuchen, das Beste zu ermöglichen und dabei sehr schnell an unsere finanziellen Grenzen stoßen. Man kann hier eben nicht alle Produktionsfirmen über denselben Kamm scheren, Junifilm ist nicht die Ufa – zum Beispiel.“

Nicht überall muss Stillstand herrschen, „zumindest Drehbuch- und Projektentwicklung können in jedem Fall auch im Home Office fortgeführt werden“, meinen die Berufsverbände Regie (BVR), Drehbuch (VDD) und die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG Dok). Sie appellierten gestern an die Filmförderungsanstalt (FFA) und die Filmförderinstitutionen von Bund und Ländern ihre Förderentscheide in Zeiten der Krise nicht zu verschieben. Das schaffe Sicherheit und sei eine ”einfache, aber wirksame Unterstützung.“ Eine Verschiebung, wie sie aktuell die FFA praktiziere, bringe „unweigerlich mit sich, dass die eingereichten Projekte zum Stillstand kommen.“

Jetzt an die Zukunft denken, rät der Bundesverband Casting (BVC). Schauspieler*innen (wie eigentlich alle Filmschaffenden) sollten die unfreiwillig freie Zeit nutzen, um ihr Material auf allen Datenbanken zu kontrollieren und auch die übrigen Einträge aktualisieren: „Die Caster haben jetzt mehr Zeit, um Showreels und Viten zu sichten“, so der BVC. „So kein aktuelles Material für die Showreels vorliegt, nehmt einfach zu Hause ein ,About Me-Video’ auf, denn nach Corona wird sicher mit Hochdruck gedreht.“

Auch der Vorstand des Verbandes der Agenturen für Film, Fernsehen und Theater (VdA) bittet um Hilfe. Künstleragenturen müssten als kleine Unternehmen und Solo-Selbstständige erhebliche Ausfälle fürchten, schreibt der Verband an Kulturstaatsministern Monika Grütters. Sie seien von den Einnahmen ihrer Klient*innen abhängig. „Diese Einnahmen fehlen, unter anderem durch Absagen von Theateraufführungen oder die Einstellung von Dreharbeiten, auf unabsehbare Zeit“, sagt Ulla Skoglund, Vorsitzende des Vorstands des VdA.

Was macht Covid-19 mit der Filmbranche? Fragt die Deutsche Filmakademiezurzeit ihre Mitglieder. In einer Sonderstaffel von „Close Up“ sollen „verschiedenste Branchenteilnehmer*innen“ berichten, wie sie mit der Krise umgehen und was ihr Erfahrungen und Hoffnungen sind.

Zukunft und Solidarität hat auch ein Vorschlag in der Facebook-Gruppe „Zukunft Filmproduktion“ im Blick: 
„Sobald sich ein Ende der Krise abzeichnet, werden wahrscheinlich zunächst die verschobenen und abgebrochenen Produktionen wieder ihre Arbeit aufnehmen. Neue Projekte werden wahrscheinlich ebenfalls zur selben Zeit händeringend nach Fachpersonal Ausschau halten. Das könnte eine gute Ausgangsposition für gerechte Gagen-Verhandlungen sein. Andererseits sind dann auch nahezu alle Filmschaffenden mittlerweile an ihren finanziellen Grenzen angekommen und motiviert, wieder zu arbeiten.
Wir sind dann alle gleichzeitig zum selben Zeitpunkt bereit, zu arbeiten. Es würde mich nicht wundern, wenn die ein oder andere Produktionsgesellschaft versucht einen ,Corona- Bonus’ geltend zu machen, um die Gagen zu drücken – mit der Aussage „Alle suchen gerade Job …“ Ich hoffe, es bleibt bei einem fairen Gagengefüge, und weiß für mich, das ich meine erarbeitete Gagen-Untergrenze nicht unterschreiten werde.“

Für die Pause im Home Office oder den Feierabend alleine: Viele digitale Anbieter bieten jetzt kostenlose Software für Arbeit und Freizeit an. Eine Auswahl finden Sie hier.

Auch das diesjährige Spotlight-Festival machte eine Vollbremsung – und setzte statt Wettbewerb im Stuttgarter Hospitalhof auf Online-Votings für Fachjury und Publikum. Sechs Tage blieben von dieser Entscheidung bis zum Start. Dafür war die Publikumsabstimmung online höher, als analog im Saal möglich gewesen wäre. Sämtliche Gewinnerspots sind bereits auf der Homepage des Festivals zu sehen.

Soviel für heute – es folgt unser Blog:

Wer wird das Gesicht von Corona?

Das Brausen und Tosen der Welt: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 03. Von Rüdiger Suchsland

„Dann werden die also nichts tun gegen diesen Wahnsinn?“
„Die sind dieser Wahnsinn.“

Aus der ZDF-Serie „Unterleuten“

„Auch wenn ich es schon oft gesagt habe, ich bleibe dabei: Statt in den Köpfen und Herzen der Menschen würde ich lieber in meiner Wohnung weiterleben.“
Der Filmemacher Woody Allen, 84, am Ende seiner Autobiografie.

Heute ist „Ganz nebenbei“ erschienen, die Autobiographie von Woody Allen. Im Vorfeld hatte es in Amerika Proteste gegeben, und in Deutschland eine Feuilleton-Debatte um Fragen der Meinungsfreiheit und der Freiheit von Verlagen, das zu veröffentlichen, was sie für richtig halten. Nun hat der Rowohlt-Verlag sich von der Kampagne einer selbsternannten Bürgerwehr nicht beeindrucken lassen, das Buch sogar um eine Woche vorgezogen veröffentlicht, und ab heute kann sich jeder selbst ein Bild machen: Das Buch, das 448 Seiten umfasst, dreht sich nur zum geringsten Teil um den schmutzigen Trennungsstreit mit Mia Farrow und die in diesem Zusammenhang erhobenen, bis heute unbelegten und sachlich sehr umstrittenen Vorwürfe, Allen habe seine Adoptivtochter missbraucht. Zum größten Teil ist „Ganz nebenbei“ eine spannende, facettenreiche und sehr unterhaltsame Reise durch mehr als 70 Jahre Filmgeschichte, durch das linksliberale Amerika und die jüdisch-amerikanische Kultur – cinephile Filmeflexionen wechseln sich ab mit Klatsch (eine etwas ausführlichere Besprechung folgt).

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Das Bild von Helmut Schmidt als Innensenator in Hamburg bei der Sturmflut 1962 haben die Älteren noch im Kopf, und selbst wer, wie ich, damals noch gar nicht lebte, hat es irgendwo schon mal gesehen. Die Sturmflut und Schmidts beherzter Einsatz als Krisenmanager mit Mut zur Verantwortungsübernahme, machten ihn bundesweit bekannt, und begründeten seinen Ruf als „Macher“ und Pragmatiker.
Wer wird das Gesicht von Corona? Jens Spahn? Markus Söder? Oder doch der Virologe Christian Drosten? Seine täglichen Podcasts beim NDR sind schon jetzt ein unglaublicher Erfolg der öffentlich-rechtlichen Medien und ein früher Klassiker der Corona-Tage, an die wir uns für den Rest unseres Lebens erinnern werden. Denn Corona, da dürfen wir uns nichts vormachen, ist mindestens für unser aller Gedächtnis ein Einschnitt. Ob man das alles nun mit dem 11. September 2001 vergleichen muss, weiß ich nicht, zumal auch noch keineswegs entschieden ist, ob diese Monate eine ähnliche Epochenschwelle bedeuten werden – was manche wünschen, und manche fürchten. Vielleicht ist es treffender an das Sommermärchen 2006 zu erinnern, an die Zeit des Mauerfalls oder (für die Älteren) an das Ende der Sozialliberalen Koalition und die Wende von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl zwischen August und Oktober 1982, an den „Deutschen Herbst“ 1977 oder, für die ganz Alten, an den Mai 1968 (habe ich mir sagen lassen). Das war nicht ein Tag, sondern einige Woche und Monate, längere Zwischenzeiten, die merkwürdig traumwandelnd verliefen, wie aus der Zeit gefallen. Ich stelle mir vor, dass man über die Corona-Tage einst so ähnlich reden wird, und dass man Traumnovellen und Schlafwandlerromane schreiben wird, über diese merkwürdige surreale Zeit, ihre wattierte Melancholie, ihre Stille, hinter der die Welt braust und tost. 
Zurück zum Thema. Neulich habe ich irgendwo gelesen, Drosten hätte das Zeug zum Kanzler. Das möchte ich bezweifeln, denn genau das, was Drosten auszeichnet (seine gewissermaßen überparteiische, abwägende Haltung unideologischer Sachlichkeit, und die Fähigkeit, sich zu korrigieren), würde ihn als Politiker schnell scheitern lassen. Unter Wissenschaftlern will man keine Dogmatiker, Korrekturfähigkeit schafft Vertrauen. Denn wir alle stochern im Nebel, aber Drosten sieht trotzdem etwas und kann es uns erklären. Vom Politiker verlangt man dagegen, dass er einem im Nebel den Weg weist. Würde ein Politiker Unsicherheit zeigen, Irrtümer zugeben, sich fortwährend korrigieren, wäre das fatal. Es würde Unsicherheit ausstrahlen. Hören will man: „Wir schaffen das!“

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Die Frage nach dem Gesicht von Corona ist keineswegs zynisch oder so medien-abgefucktes Berlin-Mitte-Gerede. Es ist der Versuch, das Aufscheinen der Zukunft in der Gegenwart zu fassen, die zukünftige Gegenwart im heute Gegebenen schon zu ahnen. 
Insofern ist das Ganze, was wir gerade erleben, eine unheimlich große und schnelle, darum auch enorm anspruchsvolle Lektion im Mediengebrauch. Wir alle befinden uns hier in einem Lernprozess, nicht in Virologie, sondern in Medienkunde. 
Mir scheint, wir alle müssen lernen, bestimmte Dinge mitzudenken, von unseren Gefühlen und unserem unmittelbaren Jetzt, ja überhaupt von uns selbst zu abstrahieren, und das Ganze zu sehen: Die ganze Welt und die ganze Zeit. Die ganze Welt haben wir zum Beispiel bei der berühmten Welt-Karte der Johns-Hopkins-Universität im Blick, die sich langsam etwas überlegen muss, damit sie nicht in ein paar Tagen komplett rot ist.
Die ganze Zeit würde also bedeuten, auch in die Zukunft zu denken, und für uns zu beantworten: Was bedeutet dieses oder jenes? Wir tun das alle, wenn es zum Beispiel um Fragen geht, wie: Was passiert in vier Wochen? Wie sieht es aus, wenn der Ausnahmezustand aufgehoben wird? Darüber denken wir nach. Wir sollten aber auch darüber nachdenken: Was bedeutet Corona für Jens Spahn? Was folgt aus der gerade veränderten Mediennutzung für unsere Ansichten über öffentlich-rechtliche Sender? 
Solches Nachdenken sensibilisiert nicht nur für das, was sich hinter den Effekten des Augenblicks an längerfristigen Entwicklungslinien zeigt oder auch zu verstecken versucht. Es sensibilisiert auch dafür, die Konsequenzen von politischen Entscheidungen mitzudenken.
So zum Beispiel ist jede Krise die Stunde der Exekutive – eben Helmut Schmidt zum Beispiel. Risikobereitschaft und Entscheidungsmut ist gefordert, Bereitschaft zum taktischen Handeln, zum „Fahren auf Sicht“, zum Verzicht auf allzu langes Nachdenken, und Handeln nach ausgefeilter Strategie. 
Das ist in Ordnung. Niemand könnte es grundsätzlich besser machen, allenfalls anders. Das bedeutet aber nicht, dass man getroffene Entscheidungen nicht prüfen muss und nicht kritisieren darf. Im Gegenteil. Vergessen sollten wir nicht, dass solches rein exekutives Handeln, schnelle Gesetze, die in drei Lesungen und ohne Gegenstimmen der Opposition durch ein Parlament gepeitscht werden, wie am Mittwoch Nachmittag im Bundestag, eigentlich keiner Demokratie gut anstehen und ihren Gepflogenheiten widersprechen. Aus gutem Grund. 
Die die jetzt den Mut haben, zu widersprechen, machen es sich nicht einfach, sondern schwer. Die Stunde der Exekutive ist die Nacht der Gewaltenteilung. Und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

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Zum Abschluss noch etwas ganz anderes, à propos Berlin-Mitte: Gestern haben wir am späteren Abend dann nicht Diagonale geguckt, und auch nicht Netflix, sondern in der guten alten ZDF-Mediathek „Unterleuten“ gesehen, die Miniserie nach Juli Zehs Roman
Im Gegensatz zu vielem eine ziemlich gelungene Adaption und eine gute Serie. Dies ist nicht zuletzt eine Satire über selbstgerechte Moralisten, Öko-Spinner, Provinz-Dumpfheit und neoliberale Heuschrecken, also eigentlich gegen Berlin-Mitte gerichtet. Alles ist Klischee, aber das macht nichts. Keine der Figuren ist richtig sympathisch, aber auch keine komplett unsympathisch oder gar unverständlich.
Alles ist angenehm ruhig erzählt, nicht so hektisch, wie es andere Serien oft nötig haben. Am besten ist allerdings auch die erste der drei Folgen, danach wird dem Vorantreiben der Handlung ein bisschen das Atmosphärische geopfert und die überflüssigen Nebenbeimomente. Die Regie führte Matti Geschonnek. Vor allem sind die Schauspieler alle sehr gut: Endlich mal wieder Dagmar Manzel, Alexander Held, in ungewohnter Rolle Charly Hübner, überraschend Miriam Stein und Sarina Radomski. Und alles überragend der schlechthin großartige Thomas Thieme, an dem man sich nicht sattsehen kann. 

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Irgendwann im ersten Teil sagt Frau Pilz, die von Mina Tander witzig gespielte kluge, gewiefte, absolut gesinnungslose Vertreterin eines Windmühlen-Start-ups: „Mit Resignation kann man arbeiten.“
Sie hat recht, und den Satz merken wir uns einfach mal für die Zeit nach dem Ausnahmezustand.

Bleibt gesund und bis morgen 
Euer Crew United Team

Brancheninfo von crew-united und cinearte, erschienen auf out-takes

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