Das Absolute und das Relative

Früher dienten die Religionen nicht nur ihrem eigentlichen Zweck, dem Einzelnen eine feste Bindung und eine absolute Orientierung für sein Leben zu verschaffen. In vor-wissenschaftlichen Zeiten wurden sie oft so verstanden, als wollten sie die Erscheinungen der Natur erklären. Mehrere Jahrtausende wurden sie auch dazu verwendet, den politischen Zusammenhalt menschlicher Gesellschaften zu garantieren: „Ein Gott, ein König, ein Volk“.
Inzwischen haben die Religionen die Funktion der Welterklärung an die Wissenschaften verloren. Wir betrachten unseren Planeten Erde nicht mehr als eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht. Als die Bibel geschrieben wurde, ging sie natürlich von dem Weltbild aus, das damals in Geltung stand. Aber sie wollte niemals ein „Lehrbuch der Naturwissenschaft“ sein, sondern enthielt eine Botschaft, die über ihr zeitgebundenes Weltbild hinausging.
Und nach Jahrtausenden, in denen die Einheit der politischen Systeme durch die Einheit einer Religion gesichert werden sollte, haben Religionen diese frühere politische Funktion an eine demokratische Willensbildung verloren. Blutige und grausame Religionskriege haben diesen Rückzug der Religionen auf ihren eigentlichen religiösen Bereich erzwungen. Die Religionen mussten lernen, friedensfähig zu werden, was von ihrem Absolutsheitsanspruch aus nicht einfach war und ist.
Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung müssen lernen, miteinander auszukommen. Es ist heute die Aufgabe des politischen Systems, die Koexistenz unterschiedlicher Orientierungssysteme zu verbürgen. Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit unter gleichzeitiger Sicherung des Rechts der Minderheiten. Deshalb muss Demokratie notwendigerweise einen „relativen“ Charakter tragen.
Aber „Relativismus“ als solcher ist kein ausreichendes Orientierungssystem. Auch die Wissenschaften verschaffen keine absolute Orientierung. Ihre Sätze sind immer nur vorläufige Hypothesen. Wir arbeiten mit ihnen, solange sie noch nicht widerlegt sind. Orientierungssysteme aber müssen für den Einzelnen einen absoluten Charakter tragen, weil wir unser endgültiges Leben nicht auf eine vorläufige Hypothese einrichten können. Für seine Überzeugungen muss man wirklich einstehen können, manchmal sogar unter Einsatz des Lebens. Insofern ist der Satz richtig: „Man glaubt mehr, als man denkt“.
Aus diesem Grunde hat sogar der große Philosoph des Aufklärungszeitalter, Immanuel Kant, der die alten philosophischen Gottesbeweise zertrümmert hat, der Religion eine unersetzliche Rolle zugeschrieben. Er hat einmal ein Gedicht verfasst, um zu erklären, wie das Relative und das Absolute zusammenhängen.
„Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis. Was uns zu tun gebührt, nur des sind wir gewiss. Dem kann kein Missgeschick, kein Tod die Hoffnung rauben, Der glaubt, um recht zu tun, recht tut, um froh zu glauben.“
Auch wer keiner religiösen Konfession angehört, kann sich für seine „humanistische Weltanschauung“ nicht einfach auf „die Wissenschaft“ berufen, die ja nur Hypothesen kennt. Um von seiner Wertorientierung absolut überzeugt zu sein, muss er über das reine Wissen hinausgehen. Auch „Humanisten“ müssen mehr glauben, als sie denken. Ebenso muss es für die Anhänger einer religiösen Konfession kein Widerspruch mehr sein, Glauben und Wissen miteinander zu vereinbaren. Die Heiligen Schriften verlieren für den Gläubigen nicht ihre Bedeutung, wenn er sie nicht als „Lehrbuch der Naturwissenschaften“ missversteht. Für die katholische Kirche, die noch im letzten Jahrhundert gegen das moderne Denken gewütet hatte, ist der religiöse Glaube mit allen Erkenntnissen der Wissenschaft prinzipiell vereinbar.
Das öffentliche Gemeinwesen, das von allen Kindern verlangt, zur Schule zu gehen, muss sich darauf beschränken, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Mehrheiten und Minderheiten friedlich zusammenleben können. Gerade um zu gewährleisten, dass Menschen in ihren vergemeinschafteten Gruppen unbehindert nach absoluter Orientierung suchen, sollten eigentlich alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften von sich aus verlangen, dass sich unter den Bedingungen des allgemeinen Schulzwangs niemand von dem für alle geltenden, dann aber notwendig relativen Ethikunterricht abmelden darf.

Christoph Müller: Das Absolute und das Relative

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Über Müller Christoph 1 Artikel
Prof. Dr. Christoph Müller war Professor für Staatsrecht und Politikan der Freien Universität Berlin,Fachbereich Rechtswissenschaft.

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