Der faszinierende Tyrann

Anne Wiazemsky, Jeune fille, Titel der Originalausgabe: Jeune fille, Aus dem Französischen von Judith Klein, Verlag C.H. Beck, München (Juli 2009), 206 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 340658389X, ISBN-13: 978- 3406583896, Preis: 18,90 EURO

Am 25. Mai 1966 hatte der Film „Au hasard Balthazar“ (deutsch: „Zum Beispiel Balthasar“) in Frankreich Premiere (deutscher Start am 01. November 1967). Es ist das überwältigend einfache und doch endlos komplizierte Meisterwerk des französischen Regisseurs Robert Bresson und gehört zu den besten und brillantesten Arbeiten des einzigartigen Filmemachers. Erzählt wird Geburt, Leiden und Sterben des Esels Balthasar: Das Tier, das kurz nach seiner Geburt von zwei Kindern, Marie und Jacques, aufgenommen und christlich getauft wurde, wird im Laufe seines Lebens zum Träger erniedrigender Arbeiten.
Robert Bresson, der eigentümlichste und unvergleichbarste Filmemacher in der Geschichte des Kinos, kreierte in seinen Filmen einen Stil der völligen Reinheit, Nüchternheit und augenscheinlichen Attraktions- und Emotionslosigkeit. Er verzichtete auf die heutzutage nicht mehr wegzudenkenden Effekte, Tricks und Experimente. Bresson schuf Filme, die abseits der breiten Öffentlichkeitsmeinung und Massenkunst des 20. Jahrhunderts noch pures „Kino“ waren. In einer Filmkritik ist zu lesen „Wer 'Au Hasard Balthazar' mit zwei wachen Augen anschaut, ihm mit der gegebenen Aufgeschlossenheit begegnet, der erfährt vielleicht den unsagbaren Reichtum dieses Films und kann in ihm wohlmöglich tatsächlich 'die Welt in anderthalb Stunden' [Zitat vonJean-Luc Godard] entdecken.“
Die Lebensgeschichte Balthasars kreuzt sich im Film immer wieder mit der von Marie. Die blutjunge Anne Wiazemsky, Enkelin des Literaturnobelpreisträgers François Mauriac, spielt darin die Hauptrolle. In ihrem Roman „Jeune fille“ berichtet und verarbeitet die französische Schaupielerin, Regisseurin und Schriftstellerin ihr Debüt und die Zusammenarbeit mit dem damals 64-jährigen Künstler. Blutjung und unschuldig wird sie dessen Muse, streift ihre Kindheit ab und reift im Laufe der Dreharbeiten zur jungen Frau heran. „In wenigen Wochen hatte ich begriffen, dass Robert Bresson viel besser als ich selbst wusste, was gut für mich war. Es war so beruhigend, mit jemandem zu tun zu haben, der zu wissen schien, wer ich war. (…) Es schien mir, dass ich in seiner Nähe lernte, zu sehen und zu hören.“

Behutsam verwobene, sehr persönliche Erinnerungen
Dieser autobiografische Roman ist zugleich eine große Hommage an den eleganten, liebevollen, ebenso jedoch auch besitzergreifenden und unerbittlichen Regisseur. Die Idee über Bressons „zutiefst rätselhafte Wesen“ zu schreiben, als das er ihr trotz aller Vertrautheit blieb, kam Wiazemsky bei dessen Beerdigung im Dezember 1999. „Damals kamen die Erinnerungen wieder hoch, all das, was ich ihm verdanke, und es entstand der Wunsch, über ihn zu schreiben, nur wusste ich lange nicht wie.“, berichtet sie in einem Interview. „Die Erinnerung ist ja trügerisch, mit Memoiren hätte ich mich, allein aus Respekt, einer Wahrheit verpflichtet, und so entschied ich mich für einen Roman, mit dem ich auch eine exemplarische Geschichte erzählen konnte: die eines Mädchens, das sich innerhalb eines Sommers von seiner Kindheit verabschiedet.“
Und so verwebt Wiazemsky ihre Erinnerungen behutsam zu einem Roman. Sie reflektiert wie der eifersüchtige Filmemacher versucht, seine „Lolita“ zu hüten und zu bezähmen, sie nach seinen Vorstellungen zu formen, aber vor allem ihre unschuldige Jugend zu bewahren. „Ich brauchte ihm nur zuhören und tun, was er von mir verlangte, auch wenn ich es nicht verstand. Ich musste mich willenlos ihm überlassen. Aus unerfindlichen Gründen hat mir das genau gepasst. Ich empfand sogar ein ausgesprochenes Vergnügen, ihm zu gehorchen. Später habe ich oft gehört, das sei eine mühselige und abstoßende Erfahrung gewesen, unter der viele gelitten hätten. Bei mir war das nie der Fall. (…) Die Tage, die ich mit den Dreharbeiten zu 'Balthazar' verbrachte, zählen auch heute noch zu den glücklichsten meines Lebens. Ich fühlte mich dort sofort heimisch, mit dem erhebenden Eindruck, meine wahre Familie gefunden zu haben, mich endlich entfalten zu können und das einzigartige Wesen zu werden, das Robert Bresson in mir zu sehen glaubte.“
Aber auch das junge Mädchen hat dem alternden Regisseur viel gegeben. „In Ihrer Nähe zu leben, hat mir unendlich viel bedeutet…Ihre Jugend hat mich jung gemacht…Oft hatte ich Ihr Alter…“, lässt sie Bresson am Ende des Buches erzählen und angesichts ihrer erstaunten Miene noch hinzufügen: „Später werden Sie verstehen…Später.“
Anne Wiazemsky hat verstanden. „Jeune fille“ ist ihre Antwort darauf.


Fazit:
„Jeune fille“ offenbart eine „unentwirrbare Mischung aus Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit“, die Anne Wiazemsky ihrem Entdecker entgegenbringt. Ein liebevoller, sehr persönlicher, autobiografischer Roman und eine Hommage an den großen französischen Regisseur Robert Bresson in unprätentiöser, klarer Sprache, von Judith Klein ausdrucksstark ins Deutsche übersetzt.

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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