„Ein verjagter Dichter, einer der besten…“ Oskar Maria Graf, Mirjam Sachs und die New Yorker Zeitschrift „AUFBAU“

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Meinem Mentor Ulrich Dittmann

Exil: Wien, Brünn 

Der bayrische Volksschriftsteller Oskar Maria Graf (1894-1967) war Pazifist und Rebell. Niemals gehörte er einer politischen Partei an. Man hat ihn einen „Gefühlssozialisten“ genannt, dem  –  wie auch Gorki – schon „von Kind an“ der „Sozialismus auf den Rücken geprügelt worden war.“ (**An manchen Tagen, S. 16)

Kurz vor dem Reichstagsbrand, im Februar 1933, verließ der Schriftsteller Deutschland. Österreichische Freunde, Sozialdemokraten, hatten – wohl um ihn zu schützen – eine Lesereise organisiert. Es sollte der Beginn seines Exils werden: Erst 25 (!) Jahre später hat er wieder deutschen Boden betreten – besuchsweise.

Grafs Partnerin Mirjam Sachs, eine Nichte der 1966 mit dem Nobelpreis geehrten Schriftstellerin Nelly Sachs, wollte als Jüdin bei den Wahlen am 5. März 1933 noch ihre Stimme gegen die Nazis abgeben. Wenige Tage später gab es in Wien ein Wiedersehen. Grafs große  autobiografischen Bücher „Wir sind Gefangene“ (1927) und „Gelächter von außen“ (1965) kulminieren jeweils in einer Liebeserklärung für Mirjam Sachs, für sein „schwarzes Fräulein“.

In der „Wiener-Arbeiterzeitung“ stand am Tag nach der Berliner Bücherverbrennung vom Mai 1933 Grafs weltberühmter Text, der offene Brief „Verbrennt mich!“. Die Faschisten hatten „vergessen“, auch seine Bücher den Flammen zu übergeben. Diese „Unehre“ habe er nicht verdient, heißt es in dem ersten Protestschreiben eines deutschen Dichters nach der Büchervernichtung.

Kein Geringerer als Bertolt Brecht hat Grafs Protest zu würdigen gewusst:

Die Bücherverbrennung

Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem Wissen

Öffentlich zu verbrennen, und allenthalben

Ochsen gezwungen wurden, Karren mit Büchern

Zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte

Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der

Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine

Bücher vergessen waren. Er eilte zum Schreibtisch

Zornbeflügelt, und schrieb einen Brief an die Machthaber.

         Verbrennt mich! Schrieb er mit fliegender Feder, verbrennt mich!

         Tut mir das nicht an! laßt mich nicht übrig! Habe ich nicht

         Immer die Wahrheit berichtet in meinen Büchern? Und jetzt

         Werd ich von euch wie ein Lügner behandelt? Ich befehle euch:

         Verbrennt mich!“ (**Brecht, Werke 3,290) 

In den siebziger Jahren habe ich im Berliner Brecht-Archiv die Druckfassung mit der maschinenschriftlichen Urfassung verglichen. Mehrere Änderungen zeigen, wie der Lyriker seine Aussage – Grafs Protestgestus aufnehmend – verstärkt hatte. Wesentlich ist, dass Brecht in Verszeile 5 das Mittelstück handschriftlich ergänzte hatte:

Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der… 

Im Jahre 1944 war Graf hocherfreut, als Brecht ihm das Gedicht zum 50. Geburtstag zusandte. Er konnte nicht wissen, dass der Text in den „Svendborger Gedichten“ (Kapitel V. „Deutsche Satiren“) bereits erschienen war – 1939 in Dänemark.

Über Wien und Prag verschlug es die Grafs für vier Jahre in die mährische Hauptstadt Brünn. Hier, im Lande des Präsidenten Thomas G. Masaryk – den Graf verehrte und dem er eine Totenrede schrieb –  konnte er in Ruhe arbeiten, fand er Freunde. In Brünn entstand der in Österreich angesiedelte Roman „Der Abgrund“, der 1936 in der Sowjetunion herauskam. Hier schrieb er auch die Kleinbürgersatire „Anton Sittinger“, die im Jahr darauf unter der Deckadresse „Malik-Verlag London“ in deutscher Sprache erscheinen konnte. Die Brünner Jahre waren für Graf die glücklichsten.

Im Spätsommer 1938 flohen Mirjam Sachs und O.M. Graf vor den Nationalsozialisten über Rotterdam  nach New York. Da sie nicht verheiratet waren, reisten sie sicherheitshalber auf verschiedenen Schlafkabinen Dampfschiffen in die USA.

Nächste Station: 29 Jahre in New York

Im Folgenden ist von Grafs amerikanischer Exilzeit nach 1938 die Rede sein. Einen  Schwerpunkt wird dabei die deutschsprachige, jüdische  Zeitung „Aufbau“ bilden, die sich zu einer Exilzeitschrift von Rang entwickelt hatte.

Graf ist der seltene Fall eines deutschen Autors, der nach 1945 nicht in den deutschsprachigen Kulturraum zurückkehrte, sondern in der „Diaspora“ verrblieb, zu der sich für ihn das Exil entwickelt hatte. Einer von vielen Gründen war, dass Mirjam Sachs viele jüdische Familienmitglieder verloren hatte. Zudem galt Graf für zwei Jahrzehnte als „Staatenloser“, d. h., als passloser Emigrant hätte er nach einer Ausreise nicht in die USA zurückkehren können. Er hatte es als Pazifist abgelehnt zu schwören, die USA mit der Waffe zu verteidigen.

Der FBI stufte Graf  zu Recht als Linken ein. Man legte eine Graf-Akte an und durchsuchte 1943 erfolglos seine Wohnung. Auch nach dem Hitler-Stalin-Pakt war die UdSSR, waren die Kommunisten für ihn eine Hoffnung im Kampf gegen den Hitler-Faschismus.

Am Ende des ersten Jahres im amerikanischen Exil wurde Graf Präsident der German American Writers Association (GAWA). Als Ehrenvorpräsident fungierte Thomas Mann. Unermüdlich versuchte Graf, Autoren zu helfen, die in Notlagen waren. Graf und seinen Mitstreitern gelang es, für Kollegen Reisepapiere zu besorgen. Mancher Autor hätte von dem solidarischen Graf, der selbst in Nöten war, mehr Hilfe erwartet. Mirjam Sachs schrieb am 11. Februar 1941 an Grafs späteren Freund Harry Asher: „Um die Lage zu illustrieren kann ich Dir sagen, dass Oskar von ungefaehr 100 Kurzgeschichten eine einzige verkauft hat.“ (** Collection Asher)

Ziel dieser Zweckgemeinschaft war es zudem, oppositionelle Schriftsteller im Deutschen Reich und die Autoren im Exil im Geiste zu einen. Graf stritt dafür, dass die exilierten Autoren zur Hitlerzeit in der Welt zur Geltung kamen. Die GAWA kämpfte gegen das NS-Schrifttum, welches der Hitler-Staat unentgeltlich in andere Länder sandte. Zwischen dem deutschen Volk und dem Nazi-Staat, meinte Graf, sollte man  unterscheiden. Es gelte, sich nicht prinzipiell „antideutsch“ zu orientieren. (** Schoeller, S. 333)

Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 hat selbstredend die Arbeit der GAWA erheblich gestört, fast unmöglich gemacht. Zwei Jahre hat Graf, der seine schriftstellerische Arbeit zwischenzeitlich einstellen musste – letztlich vergebens – versucht, die GAWA zusammen zu halten.

Ein Stipendium machte es 1940 möglich, dass der Erzähler Graf sein Hauptwerk „Das Leben meiner Mutter“ zu Ende bringen konnte. Noch 1940 ist „The Life of  My Mother“ in Amerika erschienen. Der Name des Übersetzers ist im Buch nicht genannt. In Helmut F. Pfanners Graf -Bibliographie wird Professor van Gerden als Übersetzer genannt. (**, S. 75) Mehrfach wurde die Qualität der Übertragung infrage gestellt. Es erwies sich als Nachteil, dass Graf – im Unterschied zu seiner Frau – des Englischen nicht mächtig war. Es war für den Erzähler nicht einfach, dass das „Mutter“- Buch zunächst nicht in seiner Muttersprache, sondern in einer Übersetzung  gedruckt wurde.

Im deutschen Viertel in New York, das mancher das „Vierte Reich“ nannte, war Graf seit 1943 Mittelpunkt und Organisator eines Stammtisches, der in verschiedenen Lokalen zusammen kam. Sein „Mister Stellvertreter“ war Harry Asher. Der bayrische Stegreiferzähler liebte die Geselligkeit, den Gerstensaft ohnehin. Sein berühmtester Gast dürfte 1943 Bert Brecht gewesen sein, dem unser Aufsatz den Zitattitel verdankt. (***Kfm 1993 BILD ??) Über Jahrzehnte hatte Graf in Wirtshäusern literarische Stoffe für seine Erzählwerke gefunden. Am Ende des Abends trug er nicht selten eigene oder die Texte anderer Dichter vor – oft waren dies Gedichte.

Der Stammtisch war auch ein Ort der Solidarität. Nach Kriegsende wurden Hilfsaktionen für notleidende Freunde in Deutschland organisiert. Menschen, die gegen das besiegte Regime standen, wurden unterstützt. Unzählige Care-Pakete hat Graf selbst verschickt. Kurt Pinthus hat den New Yorker Stammtisch wunderbar beschrieben. (** Schoeller, 353 f.) Nach Grafs Tod 1967 existierte „seine“ Stammrunde weiter. Die 1992 in München gegründete Graf-Gesellschaft führt diese Tradition bis heute monatlich fort.

Zu Grafs 50. Geburtstag 1944 schrieb Wieland Herzfelde, sein jahrzehntelanger Freund und Verleger: „Würde man unter Deutsch-Amerikanern eine Rundfrage veranstalten, welche lebenden deutschen Schriftsteller sie gelesen haben und welche sie am liebsten lesen, so würde der Name Oskar Maria Graf an der Spitze stehen.“ (** Herzfelde, Zur Sache, S.179)

In seinem Geburtstagstext spricht Herzfelde 1944 auch davon, dass die deutsch-amerikanischen Autoren in den USA keinen deutschsprachigen Verlag hatten. Der vormalige Malik-Verleger war bereits dabei, dies zu verändern. Er schuf den Aurora Verlag und holte seine Autoren als Gründer und Inhaber mit ins Boot: Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Ferdinand Bruckner, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, O.M. Graf, Wieland Herzfelde, Heinrich Mann, Bertold Viertel, Ernst Waldinger und F.C. Weiskopf. (** Aufbau 85) Die ersten Bücher erschienen 1945 – zur gleichen Zeit, als der Ostberliner Aufbau-Verlag seine Arbeit aufnahm. Seit 1948 wurden die Bücher aus Herzfeldes Verlag Bestandteil des Aufbau-Verlages. Sie erschienen dort in der Reihe „Aurora Bücher“. Im Übrigen war Graf der einzige Autor, der in Herzfeldes New-York-Projekt mit zwei Titeln vertreten war: „Der Quasterl und andere Erzählungen“ (1945) sowie, zwei Jahre später mit dem Roman „Unruhe um einen Friedfertigen“.

Wo immer Graf lebte, ergaben sich schnell Verbindungen zu „einfachen“ Menschen. In New York hatte er einen Freundeskreis, der nicht zuletzt aus Handwerkern bestand. So baute der Schreiner Hein Kirchmeier für Grafs kleine Wohnung in der Hillside Avenue einen Schreibtisch, den man noch heute in der Monacensia, dem „literarischen Gedächtnis“ der Stadt München, bestaunen kann. Kirchmeier war das Urbild für den  Protagonisten in Grafs volkstümlichen Exilroman „Er nannte sich Banscho“. Dieser erschien erstmals 1964 ­ – in der DDR und erst 1982 in der Bundesrepublik.

Die Zeitschrift „Aufbau“

Der 1934 gegründete „Aufbau“ war zunächst das Publikationsorgan des „German Jewish Club New York“. Es lebte vom Geld seiner Leser, von den über die ganze Welt Versprengten und Vertriebenen. Ziel des Clubs und der Zeitung war es, die „Amerikanisierung der Immigranten zu fördern.“  (** Reclam, S.132 ff.) Zunächst war der „Aufbau“ ein Monatsblatt von 12 Seiten.  Der Club als „Eigentümer und Herausgeber“ stand der Redaktion zur Seite. Bis zu einem finanziellen Engpass im Jahre 1936 wurde der „Aufbau“ kostenfrei verschickt.

Immer wieder stritt man über das politische Profil des Blattes. Als Mitte der dreißiger Jahre die antifaschistischen Akzente wesentlich stärker formuliert wurden, kam es in Nazi-Deutschland zum Verbot der Zeitung.

1937 gelang es Dr. Rudolf Brandl, eine Auflagenhöhe von 7000 zu erreichen. Seiner antikommunistischen Gesinnung wegen war Brandl umstritten. So schrieb Brandl am 24. September 1940 einen denunzierenden Brief an  die Apt. A 53 (75 Wadsworth, New York City),  in dem er „auf das Treiben der hiesigen Kommunisten deutscher Zunge“ verweist. Diese gelte es „nach Gebühr zu beleuchten. Ein nicht alltägliche Verkettung hat mir unlängst einen positiven Beweis dafür beschert, dass die O.M.Graf, Manfred George und Konsorten eifrigst daran arbeiten, Sie auf amerikanischem Boden – zum mindesten moralisch und materiell – zur Strecke zu bringen.“ (**Leo Baeck Institut, Sammlung Asher)

Die Redaktion des „Aufbau“ übernahm im April 1939 Manfred Georg (1893-1965), der sich später George nannte. Bis zu seinem Tode stand er an der Spitze des Blattes. Seine Sporen als Publizist hatte sich der Emigrant in den Häusern Ullstein und Mosse sowie – von Prag aus – als Auslandskorrespondent verdient. Auch war er Leiter der in Prag ansässigen „Jüdischen Revue“. Unter der Regie des „Mister Aufbau“, der vielfältige Kontakte zur Wirtschaft zu knüpfen verstand, hatte das Journal im Jahre 1944 eine Auflage von 30 000. Man schätzt, dass die Zeitschrift, die es seit 1939 auch im Straßenverkauf gab, um 1944 ca. eine Viertel Million Leser erreichte.

Ein nominell stark besetztes Gremium („Advisory Board“), zu dem unter anderem die Exilanten Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann und Franz Werfel gehörten, unterstützte das Blatt aktiv, welches nunmehr wöchentlich erschien. Der „Aufbau“ hatte indessen einen Umfang von 40 Seiten, mit einem abschließenden Werbeblock. Nicht allein politische und kulturelle Themen prägten die Zeitschrift. Der „Aufbau“ „ging allen Fragen nach, die den Status der Immigranten in Friedens- und Kriegszeiten betrafen, ob es sich um die Beantragung einer Bürgerschaft handelte, um Affidavits, Einreisegenehmigungen und vieles mehr…“ (** Reclam, S.136)

Der Zeitschrift, die sich jüdischen und nichtjüdischen Lesern Weise zuwandte, stand immer an der Seite der Antihitlerkoalition. Dies schloss einen verständnisvollen und freundschaftlichen Umgang mit der Sowjetunion ein. „Zur selben Zeit, als der Kampf gegen den Faschismus seinen Höhepunkt erreicht hatte und in ein neues Stadium trat, befand sich auch der ‚Aufbau‘ auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung und leistete seinen Beitrag zum antifaschistischen Kampf: indem er warnte und aufklärte, indem er Bereitschaft zur Solidarität weckte und die Stärkung der eigenen Reihen forderte.“ (** Reclam, S.142)

In der Hitlerzeit mischte sich der „Aufbau“ kaum in die deutsche Exilpolitik ein. Als sich nach der Erklärung von Jalta indessen Möglichkeiten für ein anderes Deutschland auftaten, war es Manfred George, der am 15. Juni 1945 in die Zukunft blickte: Die deutsche Wirtschaftsstruktur müsse verändert werden. Die „Junker“ und „IG-Farbendirektoren“ gehörten abgesetzt. Auf der Grundlage seiner „Arbeiter und Bauern“ könne „ein neues deutsches  Volk heranwachsen.“ (**Reclam, S.137)

Durch Vermittlung des „German Jewisch Club“ war es dem „Aufbau“ möglich, wöchentlich Sendezeiten im Rundfunk zu bekommen. So konnte in der „Aufbau-Radiostunde“ der Literatur, Schauspielkunst und Kunstkritik eine Bühne geboten werden. Gerade für die deutschen Schriftsteller, die in den USA, wie erwähn, über lange Zeit keinen Verlag hatten, der ihre Bücher zu den deutsch-amerikanischen Lesern brachte, waren diese  Möglichkeiten des Rundfunks von größter Bedeutung.

Der „Aufbau“ wurde zum Sammelpunkt der progressiven Künstler des Exils. „In der Vielfalt der erörterten Kunstgenres und der Weite der darin angeschnittenen Themen lag begründet, daß sich der ,Aufbau‘ als eine Exilzeitschrift von internationalem Rang profilieren konnte.“ (**Reclam, S. 138)

Nicht selten hat sich Graf über die schlechte Bezahlung der Mitarbeiter und Autoren des „Aufbau“ beklagt. 1948 charakterisiert er die Zeitschrift als Insider etwas spöttisch: „…sie sei eine Mischung von ehemaliger BZ und Weltbühne und jüdischen Gemeindenachrichten aus aller Welt. Jeder liest sie, jeder schimpft drüber, aber wehe, wenn sie einen Tag nicht rauskommt!“  (** Graf, an Scherpenbach, 21.1.49)

Ideen der New Yorker Zeitschrift sowie die Aufbau-Metapher lebten nach Kriegsende im Osten Deutschlands – zunächst in der SBZ – weiter. Als erste Publikation des Ostberliner Aufbau-Verlages überhaupt erschien im September 1945 das Debüt-Heft der Monatszeitschrift „Aufbau“. Im Geleitwort heißt es dort programmatisch, „daß die Erweckung und Sammlung aller aufbauenden Kräfte auf weltanschaulich-kulturellem Gebiet die große nationale Aufgabe unseres Volkes  wesentlich fördern wird.“

Der „Aufbau“ war eine „kulturpolitische Zeitschrift mit literarischen Beiträgen“. Als Herausgeber fungierte der „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“, der später nur „Kulturbund“ hieß. Drei Jahre lang war der Antifaschist, kommunistische Frankreich-Emigrant und Mitbegründer des Kulturbundes Klaus Gysi, der Vater des späteren Politikers Gregor Gysi, Chefredakteur der Zeitschrift. In den ersten beiden Jahrgängen gab es zwischen den Autoren des Exils und den Vertretern der inneren Emigration eine faire Diskussion über die Nazizeit. Erst der Beitrag von Alexander Abusch „Die innere und äußere Emigration in der deutschen Literatur“ (im Heft 10/ 1947) führte dazu, dass sich nicht sozialistische Mitarbeiter zurückzogen. Unter dem wachsenden ideologischen Druck im Vorfeld der Bildung zweier deutscher Staaten „zerriß auch das Integrationsprinzip des ‚Aufbau‘ “  (**Erhard Schütz u.a., S.18)

Gysis Arbeit setzte der moderate, aus Mexiko zurückgekehrte Schriftsteller Bodo Uhse von 1949 bis 1958 fort. Unter seiner Leitung waren unter den neuen Gegebenheiten streitbare Dialoge zur Friedensfrage möglich, die bis 1951 als „Deutsches Gespräch“ geführt wurden. In den fünfziger Jahren kamen mit Ernst Bloch, Alfred Kantorowicz, Hans Mayer und Joachim Müller auch systemkritische Gelehrte zu Wort.

Der Berliner „Aufbau“ war keine reine Literaturzeitschrift, sondern es galt, die  die Entwicklung der Kultur und Kunst in ihrer ganzen Breite und Vielfalt abzubilden. Da das Tauwetter nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 nicht lange anhielt und der Chef des Aufbau-Verlages Walter Janka, der Philosoph Wolfgang Harich und andere hinter Gitter kamen, wurde mit dem 7. Heft 1958 die Zeitschrift eingestellt.

Oskar Maria – und Mirjam Graf: Gemeinsame Arbeit für den „Aufbau“

Einer der besten Kenner der New Yorker „Aufbau“- Geschichte war Will Schaber (1905-1996), der 1972 den Band „Aufbau Reconstruction – Dokumente einer Kultur im Exil“ vorlegte. Zwei Jahrzehnte später Jahre wurde Schaber – der für einige Jahre als PEN-Präsident arbeitete – eines der ersten Ehrenmitglieder der gerade gegründeten Oskar- Maria-Graf-Gesellschaft. Breits in den Brünner Jahren hatten sich der Schriftsteller und Journalist Schaber und Graf kennengelernt.

In Schabers Buch werden ausgewählte Texte, Dokumente und Bilder aus der langen Historie des „Aufbau“ geboten. Nur mit einem Text ist Graf, der im Vorspann explizit als „Nichtjude“ vorgestellt wird, vertreten. „Die Juden stehen nicht allein!“ ist der Titel dieser gewichtigen Wortmeldung von 1940. Graf sprach – sich weit aus dem Fenster lehnend – im „ New Yorker German Jewich Club“: „Wir alle, ohne dass es uns so recht bewusst geworden ist, ja, die ganze scheinbar so hochzivilisierte Menschheit hat Herrn Hitler einen Sieg erringen lassen, der weit schwerwiegender ist, der noch viel gefährlicher ist als der gewaltsame Raubkrieg seiner Armeen. Die ganze Welt hat sich sehr schnell dem Rassendiktat Hitlers gebeugt: Hier Jude, hier Arier!“ (** Schaber, S. 204) Was der Leser in Schabers Dokumentation nicht erfährt ist, dass es sich bei der gebotenen Version von Grafs Rede um einen massiv eingekürzten Text handelt. Obwohl im Jahre 1938 Grafs Redebeitrag „Über Emigration“ von Teilen des Publikums als antisemitisch aufgenommen worden war, wählt er zwei Jahre später in der Langfassung seiner Rede „Die Juden stehen nicht allein“ einen weitaus härteren Einstieg. „ Ich bin kein Freund der ,Juden‘, ich bin es sowenig, wie ich ein Freund der sogenannten ,nordischen Menschen‘, der Slawen, der Chinesen, der Neger bin! Ich bin auch kein Pangermane, war es nie und kann es nie werden! Ich habe mich immer zu den Menschen gezählt, die das Volk in allen Ländern ausmachen, sonst zu niemandem!“. (**Dietz/ Pfanner, S. 102)

Gleich doppelt hat der Redner so seine Kernthese herausgestellt. Das Problem der Juden kann nicht isoliert betrachtet werden. Als Weltbürger und freier Schriftsteller sieht er den „Kampf um Freiheit und Menschenrechte“ als unteilbar an, „wie jede große entscheidende Idee, für die Menschheit kämpft!“ (**Dietz / Pfanner, S. 106).

Graf, der Volkserzähler, argumentiert mit vielen Beispielen, die auf seinen Lebenserfahrungen basieren. Gegen den Rassenwahn der Nazis anschreibend, erinnert sich der Autor daran, dass der „Jud“ in seiner Kindheit der Händler, der Kaufmann war – wie es (dies sei ergänzt) auch in Georg Büchners Fragment „Woyzeck“ der Fall ist.

Erst 1927, als sein Welterfolg „Wir sind Gefangene“ erschienen war, habe er – nunmehr 33 Jahre alt –  gehört, dass Juden und Arier „verschiedene Menschen“ seien. (** Dietz / Pfanner, S.102) Grafs Blick auf die Judenthematik ist scharf und differenziert. So fragt der linke Autor, weshalb in der Erinnerungskultur der Juden die Namen Gustav Landauer und Erich Mühsam, die bestialisch von den Nationalsozialisten ermordet wurden, kaum genannt werden.

Der Gastredner Graf betrachtete andere jüdische Zeitgenossen kritisch: „…wenn zum Beispiel der von Ihnen sicher hochverehrte Herr Franz Werfel (immerhin ein deutscher Dichter von Format) anno 1918 in Hymnen die Revolution verherrlichte und ,vom endlichen Aufbruch des Volkes‘ daherschwätzte, später, als das nicht mehr beliebt war, sich öffentlich und in seinen Werken zum abgeschmacktesten Katholizismus bekannte, mit Herrn Dollfuß durchaus einer Meinung war, daß man die Wiener Arbeiter 1934 – als sie sich erhoben – niederkartätschen dürfe, und nun, in Amerika, auf einmal wieder bewußter Jude ist und – natürlich – Antifaschist!

Jetzt? Jetzt  sitzen viele dieser haltlos Verwirrten in Amerika und entdecken sich auf einmal als ,Juden‘ mit dazugehörigem billigen Antihitlerismus!“ (** Dietz / Pfanner, S. 110)

Gleich in zwei Passagen behauptet Graf, dass es in der Sowjetunion, die er 1934 bekanntlich ausgiebig besucht hatte, keinen Antisemitismus gegeben habe. Die Tatsache, dass  bei den stalinistischen „Säuberungen“ zwischen 1936 und 1938 überdurchschnittlich viele Juden

ermordet wurden, war 1940 international nicht bekannt.

Gegen Ende seine Rede stimmt Graf ein Hohelied auf die Juden an. „Abgesehen von der breiten Masse der aufgeweckten, sozialistischen Arbeiter und einer kleinen akademischen Intelligenzschicht ­ waren Sie es, die sogenannten ,Juden‘, die nun als Vertriebene in Amerika leben, die unsere aufrichtigsten Freunde waren! Moderne Kunst und Wissenschaft – keine spürsinnigeren Beurteiler hatten sie als eben Sie!

Sie, die bei aller Bitterkeit Ihrer Geschichte stets ausgeprägte Humanisten und Weltbürger waren, hatten so erstaunliche Witterung für alles Echte, eine so starke innere Beziehung zum spezifisch  Deutschen, daß man nur mit Rührung und Ergriffenheit daran denken mag!“ (** Dietz / Pfanner, S. 114)

Andere Dichter des Exils wie die  – jüdischen Autoren Arnold Zweig und Louis Fürnberg etwa – mussten ausgerechnet in Palästina, im Heiligen Land, mit fanatisch-radikalisierten Zionisten bittere Erfahrungen machen.  Druckereien der deutschsprachigen, antifaschistischen Zeitschrift „Orient“ wurden mehrfach abgefackelt, der weltbekannte Erzähler Arnold Zweig bei einer Rede vom Pult gezerrt. Dies ist Grafs Thema freilich nicht, zumal diese Scheußlichkeiten erst Jahrzehnte später öffentlich wurden.

Will Schaber, dessen Edition von 1972, eine wesentliche Quelle für die Exilforschung darstellt, verdient noch einen Exkurs, da er Grafs Weg und die Rezeption seines Werks über Jahrzehnte weiterhin begleitete. Zu dem von Hans Dollinger herausgegebenen „Graf-Lesebuch“ steuerte Schaber ein Vorwort bei, in dem er 1993 vor allem Grafs New Yorker Exil thematisiert. Darin ist ausgiebig von den Vorzügen der amerikanischen Demokratie die Rede, von Grafs beträchtlichen Sorgen und Problemen berichtet Schaber, der seit 1967, Grafs Sterbejahr, als Redakteur des „Aufbau“ tätig war, nicht.

Drei kleinere Beiträge für den „Aufbau“ zeigen, wie intensiv Schaber die weiteren Bemühungen um Graf begleitete. Er informierte seine Leser über Münchner Aktivitäten im Vorfeld des 100. Geburtstages und würdigte dabei namentlich die Gründung der Graf-Gesellschaft. (** Aufbau, 9. Oktober 1992). Schaber schrieb zudem für die Rubrik „Zeitgeist“ einen kleinen Essay über Grafs enge Bindung an Lew Tolstoi. (** Aufbau, 2. September 1983)

Als Hans Dollinger, Herausgeber der großen Graf-Ausgabe des Süddeutschen Verlages, 1977 ein 48 – seitiges Graf-Brevier herausgab, geriet Will Schaber regelrecht ins Schwärmen: „Der ,Aufbau‘-Kreis ist mit kritischen Würdigungen des Graf-Werks von Manfred George, Kurt Kersten und Kurt Pinthus sowie mit der Graf-Porträtzeichnung von B.F. Dolbin vertreten. Besonders interessant ist ein Aufsatz ,Freund und Gefährte‘ von Hugo Hartung. Man habe, heisst es darin, die Bauern- und Kleinbürgergeschichten Grafs oft fälschlich mit denen Ludwig Thomas verglichen, in Wirklichkeit seien sie härter und unerbittlicher in ihrer Sittenschilderung und Sozialkritik.“ (** Aufbau, 15. Juli 1977)

Die Graf-Auswahlbibliographie von 1986 (** Pfanner, Düver) verzeichnet 40 Reden, Glückwünsche, Nekrologe, Essays und Rezensionen aus Oskar Maria Grafs Feder, die für den „Aufbau“ entstanden. Die zwischen 1939 und seinem Sterbejahr 1967 entstandenen Arbeiten wurden durch Nachlassschiften, zum Teil auch durch Aphorismen ergänzt, die die Redaktion bis 1972 im „Aufbau“ abdruckte.

In dem 2007 von Katrin Sorko sorgfältig edierten  Band der „Gesammelten Gedichte“ Grafs erfährt man, dass der Dichter ab 1953 begann, auch lyrische Texte im „Aufbau“ zu publizieren. (Das Gedicht „Novemberbilder“ wurde 1973 im „Aufbau“ „nachgereicht“.) Zu seinen Lebzeiten erschienen: „Mädchen im Bad“, „Märztage“, „Vorlesender Dichter“, „Der bittere Preis“, „Der Mai“, „Sommer“, „Der August“, „Der September“, „Der Oktober“, „Der Dezember“, „Schmerzliches Vorgefühl“, „Ode an New York“, „Unstillbare Sehnsucht“, „Heimat überall“. Die vierzehn Gedichte standen später in Grafs Gedichtbänden im „Ewigen Kalender“ (1954, New York) und  „Altmodische Gedichte eines Dutzendmenschen“ (anonym 1962).

Stellt man die vierzig Prosatexte Grafs neben die vierzehn Gedichte, so sind es in der Summe 54 Texte. Graf schreibt also nicht, wie Robert Stockhammer ausführt, „gelegentlich“ für den „Aufbau“ (**Jb 15 /16, S. 20), sondern diese Zeitschrift ist für ihn über Jahre die wichtigste Publikationsmöglichkeit.

Zur Zeit des Exils, vor allem in der Diaspora entstanden zahlreiche Liebesgedichte Grafs, zarte und deftige. Wenige davon standen im „Aufbau“. Ein Kind von Traurigkeit war der Autor des „Bayrischen Dekamerons“ (1928) – seinem bekanntesten, wohl auch erfolgreichsten, keineswegs jedoch besten Buches – nicht.  Die meisten seiner Liebesgedichte widmete er seiner Muse Lisa Hoffmann, seiner „Prinzessin“, die 1946 plötzlich am Stammtisch aufgetaucht war .In ihrer Autobiographie „Fräulein Hoffmanns Erzählungen“ (2009) erinnert sie an Graf, der bei weitem nicht ihr einziger Liebhaber war. Auf Seite 207 ihrer  Lebensgeschichte druckt sie Grafs deftiges Gedicht „Der Lüstling spricht“ ab. Die Liebesbriefe Grafs an Lisa Hoffmann, die Gerhard Bauer 1987 für seine Biographie einsehen durfte, liegen – noch gesperrt – im Münchner Graf-Archiv.

Nicht ohne Grund sprechen Helmut Pfanner und Wolfgang Düver 1986 von einer Auswahlbibliographie. So fällt etwa auf, dass Grafs begeisterte Rezension zu dem weltberühmten Roman „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers (Februar 1943) sowie die zustimmende Besprechung ihres Epochenromans „Die Toten bleiben jung“ (im „Aufbau“, März 1951) fehlen. (** Kaufmann, Jb 08/09). Auch seine Besprechung der Gedichtsammlung „Deutschland ruft“ von Johannes R. Becher wird nicht registriert. Der Titel „Nüchterne Orgien“ zeigt, wie kritisch Graf diese lyrischen Texte sah. (**Kaufmann, S.1994, S.125) Kurzum, es gibt wesentlich mehr Graf-Beiträge im „Aufbau“ als hier bislang erwähnt wurden.

In der genannten Bibliographie werden drei Arbeiten zu Hermann Hesse genannt, der sich mit farbig gestalteten Briefen zu bedanken wusste. Thomas Mann, der andere Nobelpreisträger, schätze Graf außerordentlich. Graf widmete Mann umgekehrt zwei Texte, obgleich es politisch zwischen beiden manche Differenz gab. (** Heißerer, Jb 2001, S. 31 ff.) Grafs Trauerrede

„ Thomas Mann als geistiges Erlebnis“, die er 1955 am Hunten Collage hielt, spricht für sich.

Dreimal legte Graf Texte über B. Traven vor. Der Leipziger Forscher Rolf Recknagel, einer der ersten Traven-Forscher, nahm Kontakt zu Graf in New York auf. War es doch O. M. Graf, der vermutete, dass Traven mit dem Münchner Revolutionär, Schauspieler und Publizisten Ret Marut identisch sein könnte. Über seine Traven-Studien  (1966 / 1971) kam Recknagel zu dem Autor Graf. Im Jahre 1974 erschien in Ostberlin die erste Biographie über Oskar Maria Graf: „Ein Bayer in Amerika“. Auf dem Cover von Recknagels Buch ist der Volkserzähler auf einer Karikatur in Lederhosen zu sehen – auf dem Kopf trägt er einen Doktorhut: Im Jahre 1960 hatte ihn die Wayne State University Detroit zum Ehrendoktor ernannt.

Grafs essayistische Arbeiten zu George Washingtons Geburtstag sowie zum Tode Theodore Dreisers (beide 1946) zeigen, wie bewusst und anerkennend er sich zu großen Persönlichkeiten seines Gastlandes äußerte. Etliche Arbeiten, etwa „Tolstoi als weltgeschichtliches Ereignis“ (Dezember 1960) und „Das Werk von Marin Andersen Nexö“ (Juni 1954) stehen dafür, dass der belesene Graf zugleich Weltliteratur in den Blick nahm. Längst bekannt ist, dass Graf ein Leben lang enge Kontakte zu bildenden Künstlern pflegte. Im Juni 1942 bespricht er eine Ausstellung zu John Heartfield, den Bruder seines Verleger-Freundes Herzfelde. Gleich drei Beiträge widmet Graf dem Maler Josef Scharl (* 1896), den er 1954 zu betrauern hatte. Sein Maler-Freund saß über Jahre mit am Stammtisch.

Ostdeutsche Germanisten dachten 1980 darüber nach, eine Anthologie mit den Gedichten zusammenzustellen, die deutsche Dichter im „Aufbau“ publiziert hatten. Die Namen Günther Anders, O.M. Graf, Wieland Herzfelde, Rudolf Leonard, Walter Mehring, Fritz v. Unruh und Bertold Viertel wurden genannt. (**Reclam, S.138f.) Genauso interessant wäre die Frage, ob sich  eine Anthologie der Graf-Texte im „Aufbau“ lohnte? Viele kaum bekannte Porträts und Rezensionen kämen ans Tageslicht, die wichtigen Reden des Dichters sind freilich längst greifbar: In den Bänden „An manchen Tagen“ (1962), „Beschreibung eines Volkschriftstellers“  (1972) sowie vor allem in dem von Pfanner edierten Essay-Band „Reden und Aufsätze aus dem Exil“ (1989). Hervorhebenswert ist eine Würdigung zu Grafs 60. Geburtstag, die Manfred George unter dem Titel „Ein schöpferisches Leben“ im „Aufbau“ vom 23. Juli 1954 publizierte.

Beim Blick auf Grafs „Aufbau“-Texte kann man studieren, wie sich seine  Publikationsstrategie veränderte. Für lange Zeit war der „Aufbau“ , wie oben angemerkt, seine wichtigste Publikationsmöglichkeit. Nach Kriegsende änderte sich dies schlagartig. Nun wurden seine „Aufbau“-Texte sowie andere Essays und Erzählungen nach Deutschland geschickt, zunächst vor allem in den westlichen Teil. Der Autor konnte und musste sich „zurückmelden“, auch als  politisch unbequemer Denker. Als Romancier versuchte er alles, nicht zuletzt auch, um endlich wieder ein materiell gesichertes Leben führen zu können. (** Kfm Jb 2017)

Wer über Graf und die Zeitschrift „Aufbau“ nachdenkt, sollte im gleichen Atemzug von seiner Frau Mirjam Sachs (1890-1959) sprechen. Mirjam Sachs und Graf lebten seit 1919, vier jahrzehntelang, zusammen. Erst nach der einseitigen Scheidung der ersten Ehe heirateten sie, nach 26 jähriger „Probezeit“ (Graf), 1944 in den USA.

Mirjam Sachs war Tochter einer jüdischen Berliner Familie. Die vielseitig begabte Frau nahm ein Studium in München auf. Mit Rilke befreundet, schrieb auch sie zunächst Gedichte, von denen drei gedruckt wurden. ( **Schoeller, S. 85) An der Seite Grafs gab sie ihr Studium auf und arbeitete fortan als Auslandskorrespondentin. Bereits in den zwanziger Jahren sorgte sie zu  zeitweise für den Lebensunterhalt. Jahrzehnte später, in den New Yorker Jahrzehnten, war sie Hauptverdienerin.

Der seit 1939 den „Aufbau“ leitende Manfred George war der Halbbruder von Mirjam Sachs. Über Jahre war sie als Redaktionssekretärin in der Zeitschrift tätig. Sie betreute zudem akribisch das „Aufbau“-Archiv und führte ein Register der Geretteten. Ein Foto aus den fünfziger Jahren zeigt Mirjam Graf und Manfred George inmitten des Redaktionskollegiums der Zeitschrift. Auf dem Bild sind 22 (!) Mitarbeiter zu sehen. (** Katalog 2017, S. 120 / 121)

Die letzten Ehejahre der Grafs waren konfliktreich. Mirjam Graf zweifelte mitunter an Grafs schriftstellerischen Vermögen. (** Vgl. Gerhard Bauer, O. M. Graf-Gefangenschaft und Lebenslust, Kapitel VII)  Bereits schwer krank, reiste Grafs Frau 1958 –  als ihr Mann seinen ersten Deutschland-Besuch unternahm – nach Israel. Im Jahr darauf erlag Mirjam Graf ihrem Krebsleiden.

Ihr Bruder fand die richtigen Worte, um im „Aufbau“ ihre Lebensleistung zu würdigen:

„Mary Graf war nicht nur die Lebenspartnerin ihres Mannes, sie war auch seine Helferin. Vom unaufhörlichen Korrekturlesen bis in die Nacht bis zur unermüdlichen, ebenso liebevollen, wie scharfen Kritik stand sie ihm zur Seite: als echte Kameradin und zugleich als ein Mensch mit untrüglichem Gefühl für die Echtheit des Wortes  und für die künstlerische Gestaltung von Ausdruck und Inhalt des Werkes.

So wie sie selbstlos als Frau war, so war sie selbstlos als unsere Mitarbeiterin und Gefährtin im ‚Aufbau‘, rund achtzehn volle Jahre war sie uns verbunden, hat sie mit uns den Aufstieg unseres Blattes mitgemacht und an seinen Kämpfen und Mühen teilgenommen. Ihre Arbeit reichte von nützlichen und prosaischen Dingen wie sekretäriellem Werk aller Art bis zur Übersetzung von Artikeln und Romanen. Bisweilen schrieb sie Editorials und, ehe die schleichende Krankheit sie müde machte und zermürbte, Buch- und Filmkritiken, kleine und abgerundete Kunstwerke ihres klaren und präzisen Stils. Sie war gleichzeitig Gutachterin für viele eingehende Manuskripte. Die Unbestechlichkeit ihres Urteils schied unfehlbar Gut und Schlecht, wobei nicht verschwiegen  werden soll, daß sie manchmal auch – und mit Recht – milde Worte fand, wenn sie in relativ Unzulänglichem echte, aber noch ungereifte Begabung fand. 

Mary Graf, die manchmal rauh und stachlig schien, wurde von allen im ‚Aufbau‘ geliebt. Weil jeder wusste, daß sie es nur deshalb war, weil sie ihr schamhaftes Herz nur ungern offenbarte. Und sie war mit dem ‚Aufbau‘ noch bis in die letzten Tage hinein innig verbunden. Bis in die letzten Tage hat sie auf ihrem Schmerzensbett das Einzige getan, was sie noch tun konnte: den Inhalt der ‚Aufbau‘-Nummern für die Kartothek registriert.“ (**Schoeller, S. 421f.)

In der Todesanzeige für seine Frau sprach Graf von dem „langen und harten Leben mit mir“. Durch ihren Tod habe er „sein Bestes“ verloren. Das Ableben seiner Frau stürzte den Autor in eine tiefe Depression. In der Einleitung zum ersten Band seiner (letztlich unvollendeten) Autobiographie „Gelächter von außen“ (1965) nimmt Graf Formulierungen der Todesanzeige auf: Seine zweite Frau Mirjam, schreibt er selbstkritisch, habe ihn „vierzig Jahre ertragen (…) und mich in jeder Hinsicht zum Inhalt ihres harten Lebens“ gemacht. Mit ihrem unverdient schmerzhaften Tod in New York verstarb mir das Beste für immer.“ (** Graf, Gelächter von außen.  S. 7)

Wie sehr Graf  seine Partnerin immer wieder wertschätzte, zeigt auch eine Widmung „Für Mirjam“. Sie findet sich 1947 in „Unruhe um einen Friedfertigen“, einem seiner bleibenden Romane, der in Amerika entstand. Hier hatte Graf das am Ende tragische Schicksal des jüdischen Schusters Kraus geschildert…

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Vom Lyriker Graf, der er von Anfang an auch war, ist wenig bekannt. Im Jahre 1956 entstand das elegische Gedicht „Alter Emigrant“. Die erste Strophe lautet:

„Daheim“ – „Zuhause“ – Wie lange ist es her,

daß dies noch Wunsch war und ein Wort,

von Sehnsucht und von Hoffnung warm durchweht?

Ich dämmre hin und habe kein Erinnern mehr.

Mein Hirn ist taub, mein Herz ist ausgedorrt

von einer Traurigkeit, die nie vergeht. –

(** Altmodische Gedichte, S.150)

 

Fünf Jahre schrieb Graf an seinem letzten Roman „Die Flucht ins Mittelmäßige“, dem einzigen, der in New York angesiedelt ist. Es sei, meint der Graf-Biograph Gerhard Bauer, sein „trostlosesten“ Buch. (** Bauer, S. 368 )

Erschienen ist es in dem kleinen Frankfurter Nest-Verlag. Ganze 900 Exemplare wurden verkauft, der Rest wurde eingestampfte. Mit dem Erscheinen ließ sich Graf diesmal Zeit. Seine Leser erreichte das Buch, erst 1959, nach dem Tod seiner Frau Mirjam. Der autobiographische, selbstkritische Roman erzeugte unter seinen Freunden, Kollegen und Stammtischlern für Entsetzen. Erzählt wird drastisch vom Exil nach dem Exil, von der Diaspora. Charakteristisch für die Figuren des Romans ist, dass die „Zwänge, im Exil zu bleiben, weitestgehend entfallen.“ (** Dittmann, Jb 2001, S.107) Zur Überraschung seiner Leser spart Graf hier politische Zusammenhänge im Leben der Exilanten fast aus. Stattdessen ist ausgiebig von mangelnder Solidarität, Vereinzelung, Geschäften, Geld und Affären die Rede. Sinnfragen zur Kunst und Literatur werden gestellt. Martin Ling, das alter ego Grafs, der vormals einen „Verein mittelmäßiger Schriftsteller“ zu gründen gedachte, will letztendlich austeigen: Seine Manuskripte verbrennt er, Affären langweilen ihn. Den „Kumian-Kreis“ (bzw. den Stammtisch) will der erfolgreiche Stegreiferzähler, der Entwurzelte verlassen und New-York und der Diaspora entfliehen. Den Süddeutschen treibt es nach Hamburg, wohl wissend, dass er auch dort nicht heimisch werden wird. Dittmann fand bei Graf das Wort „zwischenheimatlich“, das diesen Zustand treffend beschreibt. (** Jb., S. 109)

Bei seinem ersten Deutschland-Besuch äußerte sich Graf 1958 zu seinem vorab zu seinem New- York-Roman: „ Es gibt keine Weiterentwicklung für diese Leute (die Langzeit-Emigranten – U.K.).  Sie begeben sich in ein Vakuum. Sie leben in der Diaspora, auch wenn sie sich für die wildesten Amerikaner halten und sich so geben. Natürlich ist mein Schicksal davon nicht zu trennen. Man muß sich mit der Mittelmäßigkeit abfinden. Das gilt auch für mich. Ich habe mir nie eingebildet, ein Genie zu sein. Folglich habe ich auch meinen Frieden mit der Mittelmäßigkeit gemacht.“ (** Flucht ins Mittelmäßige – Anhang, 1985, S. 582)

Literatur:

Graf, Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933. München 2009. Nachwort von Ulrich Dittmann.

Altmodische Gedichte eines Dutzendmenschen. (anonym) Frankfurt a.M. 1962.

Graf, „Manchmal kommt es, dass wir Mörder sein müssen…“ –  Gesammelte Gedichte. Hg. von Katrin Sorko. Berlin 2007.

Graf, An manchen Tagen. Reden, Gedanken, Zeitbetrachtungen. Frankfurt a.M.1962.

Graf, In seinen Briefen. München 1984.

Graf, Reden und Aufsätze aus dem Exil. München 1989.

Graf, Lesebuch. Hg. von Hans Dollinger. München 1993.

Bertolt Brecht, Die Bücherverbrennung. Berlin und Weimar 1978. Bd. IV, S.103.

Biographien

Rolf Recknagel, Ein Bayer in Amerika. Berlin (DDR) 1974.

Gerhard Bauer, Graf – Gefangenschaft und Leidenschaft – eine Werkbiographie. München 1987.

Ulrich Dittmann / Waldemar Fromm, Graf – Rebellischer Weltbürger, kein bayerischer  Nationaldichter. Regensburg 2017.

Bibliographie / Sekundärliteratur

Helmut F. Pfanner, Graf –Eine kritische Bibliographie. Bern und München 1976.

Helmut F. Pfanner / Wolfgang Düver, Graf – Auswahlbibliographie. In: Text und Kritik, Sonderband Graf, München 1986.

  1. M. Graf in seinen Briefen. Hg. von Gerhard Bauer und Helmut F. Pfanner. München 1984.

Graf, Beschreibung eines Volksschriftstellers. Hg. von Wolfgang Dietz und Helmut F. Pfanner. München 1974.

Jahrbuch der Oskar Maria Graf Gesellschaft. Hg. von Ulrich Dittmann und Hans Dollinger. München, Leipzig 1993 – fortfolgend.

Dieter Schiller, O.M. Graf und die German American Writers Association (GAWA) 1938-1940. In: Graf-Jahrbuch 2010 / 2011.

Wilfried F. Schoeller, Graf – Odyssee eines Einzelgängers – Texte, Bilder, Dokumente. Frankfurt a.M. 1994.

Graf, Rebell, Weltbürger, Erzähler. Katalog zur Münchner Graf-Ausstellung 2017.

Exil in den USA. Hg. von Eike Middel u.a.. Leipzig 1979, Nachdruck Röderberg-Verlag Frankfurt a. M. 1980.

Das Haus in der Französischen Straße – Vierzig Jahre Aufbau-Verlag, Ein Almanach. Berlin 1985.

Aufbau – Reconstruktion. Hg. von Will Schaber. New York 1972.

Wieland Herzfelde, Zur Sache – geschrieben und gesprochen zwischen 18 und 80. Berlin 1976.

Erhard Schütz u.a., Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 3: BRD und DDR. Westdeutscher Verlag, Opladen 1980.

Sammlung Harry Ascher. Diese Mappe befindet sich in der Münchner Graf-Gesellschaft.

Ulrich Kaufmann, O. M. Graf – Rebell, Erzähler, Weltbürger. München 1994.

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Lisa Hoffmann, Fräulein Hoffmanns Erzählungen. 2009. (Mit Erinnerungen an O. M. Graf.) Aus dem Amerikanischen von Ursula Dittmann und Ulrike Moser, München 2009.

Über Ulrich Kaufmann 34 Artikel
PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.