Es heißt, alle Wege führen nach Rom…

…aber manche auch nach Paris.
Die Stadt der Liebe zu Fuß zu erkunden, ist immer noch die beste und schönste Art der Fortbewegung. Nun gibt es Reiseführer en mass auf dem Markt und auch die französische Hauptstadt ist großzügig vertreten. Warum also noch mehr Neues? Das vorliegende Buch richtet sich an eine Zielgruppe, die das Besondere sucht, die abseits der touristischen Hotspots noch ein paar Geheimnisse der berühmten und zweitausendjährigen Stadtgeschichte entdecken möchte. Die gibt es offensichtlich immer noch. Man muss nur, wie schon Balzac erkannte, tief in sie eindringen und schon entfaltet sich die Stadt wie eine aufblühende Rose. Um sich in solch einer Touristenhochburg wie Paris noch ganz wie ein Entdecker oder Flaneur zu fühlen, leistet „Urban-Explorer“ Duncan J. D. Smith wertvolle Hilfe. Er erspürt in seinem Reiseführer die geheimen Ecken, merkwürdigen Viertel und unbekannten Wege, die selbst Einheimischen nicht immer vertraut sind.
Vielleicht liegt es an der britischen Herkunft des Autors, die ihm ein besonders Gespür für skurrile und ungewöhnliche Dinge bereits in die Wiege gelegt hat. Eher jedoch entspringt diese Gabe wohl einem besonders geschärften Blicks für das Andere, ohne Frage nicht minder Schöne. Seit fast zehn Jahren spürt der studierte Historiker, Archäologe und Fotograf in seiner mittlerweile auf neun Bände angewachsenen „Nur In“-Reihe das Andersartige oder Sonderbare in europäischen Städten auf. Nicht das „Abarbeiten“ touristischer Highlights und Hochburgen wird zelebriert, sondern das Erspüren des Individuellen. Ein paar Minuten Planung und ein Blick auf eine gute Straßenkarte, so vermerkt Smith im Vorwort, sind ausreichende Voraussetzung, um ausgetretene Besucherwege verlassen und ein ganz anderes Paris entdecken zu können. Dem kann uneingeschränkt zugestimmt werden.
In 98 Kapiteln bewegt man sich (lesend) im Uhrzeigersinn durch die 20 Arrondissements. Beginnend innerhalb der Périphérique bietet Smith abgeschlossene Wanderungen genauso an wie Empfehlungen, die als Einführungen in größere Themen, als Ausgangspunkt für eigenen Entdeckungstouren des Lesers dienen können. Wie man letztendlich seine ganz persönliche Entdeckertour angeht, bleibt jedem, ganz nach persönlichem Gustos, überlassen. Das Buch sieht sich eher als Schmöker, in welchem man sich immer wieder Appetit holen kann. Sei es im wahrsten Sinne des Wortes in einer der besten Bistros der Stadt, aber auch beim Feiern mit Tamilen in einem Hindu-Tempel, in Ehrfurcht verharrend vor Louis Pasteurs Mausoleum oder auf den Spuren von Kalksteinbrüchen unter dem linken Flussufer. An Schaufenstern kommt man gleichfalls vorbei. Allerdings macht Smith keineswegs bei Chanel, Cartier oder Louis Vuitton halt, sondern er zeigt auch hier das Ungewöhnliche. So die beachtliche Sammlung von ausgestopften Ratten von Julien Aurouze in der Rue des Halles 8, seines Zeichens Schädlingsbekämpfer. Ein maßstabsgerechtes Modell der Freiheitsstatue ist im 3. Arrondissement – quasi ihrer Heimatstadt – ist genauso zu entdecken wie ein ein Besuch im magischen oder im Fälscher-Museum. Wenn es trotz der bestellten Sonne hingegen doch einmal regnen sollte, kann der Flaneur unter den unzähligen überdachten Passagen (Passages Couverts) lustwandeln und sich seiner architektonischen Schönheit erfreuen.
Alle Tipps aufzuzählen ist natürlich nicht möglich. Bei der gebotenen Vielzahl dürfte jedoch für jeden Geschmack etwas dabei sein: egal ob bei der Entdeckung von besonderen Hauszeichen und Straßenschildern, die keine Buchstaben oder Zahlen aufweisen, sondern in Bildern erzählen, der Ruinen der römischen Lutetia, der Aktivitäten einer geheimen Untergrund-Gruppe, die 2005 im Panthéon, ohne dass es jemand mitbekam, das vernachlässigte Kulturerbe Frankreichs instand setzte oder aber ein, zugegebenermaßen wohl nicht für jedermann geeigneter Besuch einiger medizinischer Spezialmuseen, die zuweilen recht anschauliche Exponate zur Illustration von Krankheiten und Fehlbildungen aufweisen. Auch besondere Übernachtungsmöglichkeiten vergisst der Reiseführer nicht zu erwähnen. Ein Nebenprodukt der Revolution, die Einführung des Metermaßes als offizielles französisches Längenmaß im Jahr 1793, wird im großen welthistorischen Kontext leicht übersehen. Auch dahin führt eine Tour. Und bei allem Genuss wurde natürlich auch das ureigenste menschliche Bedürfnis nicht vergessen. Tour 86 führt zum letzten öffentlichen Vespasienne-Urinal. Der Name wird auf den römischen Kaiser Vespasian und seine damals erhobene Urinsteuer zurückgeführt.
Fazit: Ein ungewöhnlicher, gut illustrierter Stadtführer – spannend, anregend und überraschend. Ein empfehlenswerter Leitfaden für Stadtabenteurer und alle, die es werden wollen, der das verborgene Alte und Geschichtsträchtige genauso wie die Herrlichkeiten der modernen Weltstadt aufzeigt. Ganz ohne Wahrzeichen kommt auch dieser Reiseführer nicht aus: Tour 42 erkundet die statischen Besonderheiten des Bönickhausen-Turms. Bönickhausen??? Krauses Stirnrunzeln… Gustave Eiffel hat 1879 seinen deutschen Nachnamen geändert ;-).

Duncan J. D. Smith
NUR IN Paris
Ein Reiseführer zu einzigartigen Orten, geheimen Plätzen und ungewöhnlichen Sehenswürdigkeiten
Aus dem Englischenvon Walter Goidinger
Christian Brandstätter Verlag (März 2013)
240 Seiten, Broschiert
ISBN-10: 385033709X
ISBN-13: 978-3850337090
Preis: 22,00 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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