Hanns-Josef Ortheil. Charaktere in meiner Nähe

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Hanns-Josef Ortheil. Charaktere in meiner Nähe. Ditzingen (RECLAM) 2022, 128 S., 18.- €, ISBN 978-3-15-011421-6

Es ist eine illustre Ansammlung von Charakteren, die Hanns-Josef Ortheil in seinem Band über milde Formen von Psychopathologie zusammengetragen hat. Er präsentiert seine achtundzwanzig männlichen und 22 weiblichen Prototypen, die sich durch mehr oder minder auffällige Verhaltens- und Denkweisen auszeichnen, in einer in sich schlüssigen Reihenfolge. Zunächst wird der Phänotypus wird durch eine einleitende Charakterisierung gekennzeichnet,  wie zum Beispiel der Selbstlober, der keine Gelegenheit auslässt, “sich selbst ausreichend zu loben und seine Omnipräsenz zu beweisen.“ (S. 46) Danach folgt eine Auflistung von für ihn typischen Denk- und Handlungsweisen, die von Kommentaren und Bewertungen begleitet, seine Einzigartigkeit hinlänglich beweisen. Egal, ob es seine Verdienste um städtische Angelegenheiten, seine unvergleichbaren rhetorischen Fähigkeiten oder seine Erinnerungen an seine unübertroffenen Begabungen als Kind sind, der Selbstlober ist eine Persönlichkeit, die auch in den seltenen Momente ihres Selbstzweifels sich nicht aufgibt, weil sie sich selbst der Vergessenheit anheimgibt.

Die mit einem gewissen Übergewicht an männlichen Protagonisten ausgestattete Porträtsammlung ruft bereits beim ersten Blick auf die Liste der zu erwartenden Charaktere Verwunderung und Belustigung hervor. Der Ungehobelte, der Hedonist, der Codaist stehen dort neben dem Topoptimierten, dem Trinkkumpel, dem Teilchenbeschleuniger oder dem Fernseh-Dialogist. Wohlbekannte Typen tummeln sich dort neben solchen „Berufen“ wie der Brombeerpflücker oder der Küchenschweiger. Nicht minder lustig sind Bezeichnungen für Charaktere mit weiblichen grammatikalischen Vorzeichen: Die Aber-Sagerin, die Monologistin, die Auslöfflerin, die Ausserhausesserin, die Italiensüchtige oder die Kupplerin. Solche Bezeichnungen, oft mit der Markierung ‚Neologismus‘  versehen, erwecken Neugier und Erwartungen. Doch Geduld ist angesagt! Denn zunächst folgt die Einladung des Autors zur Lektüre.  und die ist alt-griechisch inspiriert („wie mich Theophrast beeinflusste“), erweist sich als behutsam didaktisch und enthält eine Danksagung für alle, die persönlich „Modell gestanden haben“ für die Umsetzung der Charaktere. Hoffentlich ohne nachträglichen Ärger für den Autor! Doch der hat ja mit dem Verweis auf das altgriechische literarische Vorbild eine überzeugende Ausrede parat. Sie ist in der Übersetzung von Theophrasts „Der Ungehobelte“ (S. 8f.) enthalten. .Im griechischen Urtext seziere der Autor „nicht die Psyche seiner Figuren“, sondern er zeige, „wie und woran man ihre jeweilige Zugehörigkeit zu einem Typus erkennt.“ (S. 9) Die dann folgende Beschreibung, wie Theophrast auf der Suche nach bestimmten Typen deren Gewohnheiten und alltäglichen Verhaltensweisen solange studiert habe, bis er bestimmte Figuren schuf, ist ein in der jüngsten deutschen Literatur selten gewordener Anschauungsunterricht für die Entstehung von künstlerisch transparenten Texten.

So in die Charaktere didaktisch und sogar quellenkritisch eingestimmt, wird die folgende Lektüre für Leser*innen sicherlich zu einem Gaudi, das da und dort vielleicht auch durch einen inneren Monolog unterbrochen werden könnte: Habe ich nicht auch die Angewohnheit, jedes blöde Detail aus meinem Alltag zu einem Monolog auszuwalzen; notiere ich mir nicht auch jeden Quatsch in meinem Tagebuch, spiele ich nicht auch den Hauspolizisten, indem ich alles aufschreibe, was ich bei Bedarf gegen meinen verhassten Nachbarn einsetzen kann, gefalle ich mir nicht auch in der Rolle des Dorfsheriffs, der alle mehr oder minder wichtigen Bewegungsabläufe oder auffälligen Äußerungen in meiner Nachbarschaft und sogar darüber hinaus protokolliert? Doch keine Sorge! Die Entlastung von solchen, vielleicht sogar psychisch belastenden Vorwürfen ist in Sichtweite! Wer sich den „Charaktere[n] – in meiner Nähe“ vorbehaltlos hingibt, der wird die kleine „Comédie humaine“ mit wachsendem Vergnügen genießen oder sich sogar als profilierte Persönlichkeit wieder erkennen. Keine Sorge! Die gespiegelte Realität widerspiegelt sich in immer neuen Varianten! Platz genug also für die in uns angesiedelten Psychopathologien und deren komödienhafte Entfaltung. Eine köstliche Lektüre, in der so viel auszulöffeln ist, ein Spaß, der sich nicht nur  mit dem Blick auf „die“ Anderen entfaltet, sondern auch und vor allem auf eigene Kosten gehen sollte!

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