Interview mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Reem Alabali-Radovan: Einwanderungspolitik geht auch „smarter“

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung:Reem Alabali-Radovan. Credit: Sascha Krautz

Reem Alabali-Radovan ist seit Dezember 2021 Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Die 32-Jährige ist nicht nur die jüngste Staatsministerin, sondern auch die erste Frau mit persönlicher Fluchterfahrung. 1996 flüchtete die damals Sechsjährige, gemeinsam mit ihren Eltern, aus dem Irak nach Mecklenburg-Vorpommern. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Reem Alabali-Radovan (SPD) über Integration, Solidarität und die Frage, ob es in Deutschland Geflüchtete erster und zweiter Klasse gibt.

Frau Staatsministerin, seit mittlerweile fünf Jahren gibt es die „Gesichter der Demokratie“ – vielen Dank, dass Sie dabei sind. Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Demokratische Werte sind für mich nicht verhandelbar – und keine Selbstverständlichkeit. In meinem Elternhaus hat Politik schon immer eine große Rolle gespielt, auch das Einstehen für Demokratie. Deswegen bin ich in die Politik gegangen. Mich hat der rassistische Anschlag in Hanau tief erschüttert, das war dann der Wendepunkt, an dem ich gedacht habe: Wir müssen mehr tun für unsere wehrhafte Demokratie, ich selbst will mehr tun, mich einmischen, mitgestalten, laut sein. Ich habe mich zur Wahl gestellt, bin direkt in den Bundestag gewählt und dann zur Staatsministerin im Bundeskanzleramt berufen worden. Frei wählen und gewählt werden, Teilhabe und Vielfalt, gleiche Rechte für alle – diese Werte sind wesentlicher Bestandteil einer Demokratie.

Nach Einschätzung zahlreicher Expert*innen wird die Migration in die EU – auch aufgrund globaler Krisen – zunehmen. Was, wenn Fluchtbewegungen zum „Normalzustand“ werden und die Solidarität in der Gesellschaft schwindet?

Migration und Flucht gab es immer schon. Darum müssen wir einerseits die Fluchtursachen weltweit bekämpfen. Andererseits müssen wir Migration und alles, was mit ihr zusammenhängt, aktiv angehen und gestalten. Mit legalen Wegen der Einwanderung, mit Arbeits- und Fachkräftegewinnung, mit Integration von Anfang an. In unserem Land haben wir alle Möglichkeiten, dass Menschen gut ankommen, sich einbringen und Teil unserer Gesellschaft werden können. Die Solidarität der Gesellschaft ist dabei wichtige Grundlage für das Gelingen. Und es wird gelingen, wenn wir es gut gestalten, wenn wir endlich ein modernes Einwanderungsland werden. Mit Teilhabe, Partizipation und Gesetzen, die auf der Höhe der Zeit sind. Mit Respekt und Humanität. Menschen brauchen Chancen und faire Perspektiven.

Laut IOM hat sich 2021 die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen oder vermissten Geflüchteten im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt – in diesem Jahr sind es bereits 810. Was tun gegen das Sterben vor Europas Haustür?

Die Flucht über das Mittelmeer ist eines der großen, komplexen Themen der europäischen Politik. Seit Jahren wird in der EU eine gemeinsame europäische Lösung gesucht, die einzelne Staaten blockieren. Deutschland ist mit Italien, Frankreich und Malta vorangegangen, um das Sterben auf dem Mittelmeer und das unmenschliche Geschäft der Schleuser zu beenden. Innenministerin Nancy Faeser hat betont, dass Deutschland seinen Beitrag leisten wird, auch in einer Koalition der Willigen. Aber letztlich muss die gesamte EU mitziehen, ebenso die Mittelmeer-Anrainerstaaten in Afrika – für mehr legale Wege für Flüchtlinge, für Resettlement und Relocation und natürlich für Perspektiven und Frieden in den Herkunftsstaaten, damit Menschen gar nicht erst zur Flucht gezwungen sind.

Sie wurden 1990 als Kind irakischer Eltern in Moskau geboren. Sechs Jahre später sind Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Inwiefern hat Sie Ihre eigene Zuwanderungsbiographie geprägt?

Wir kamen damals in die Erstaufnahmeeinrichtung von Mecklenburg-Vorpommern. Ich konnte sehr schnell in die Schule gehen, dort Deutsch lernen, Freunde finden – das war genau richtig. Meine Familie hat alles durchlaufen: Erstaufnahme, Asylantrag, das Bangen auf eine Entscheidung, die erste eigene Wohnung, das Zurechtfinden in der deutschen Gesellschaft, auch die Enttäuschung, dass die Ingenieurs-Abschlüsse meiner Eltern einfach nichts wert sein sollen; oder dass ich trotz guter Noten erstmal keine Schulempfehlung fürs Gymnasium bekam. Diese Erfahrungen und vor allem meine spätere berufliche Erfahrung in der Erstaufnahme und als Integrationsbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern helfen mir jetzt in meinem Amt in der Bundesregierung. Ich weiß, was die Menschen, die hier ankommen, durchmachen; was sie brauchen, damit sie gut ankommen können.

Geflüchtete Menschen aus der Ukraine erhalten unmittelbar nach ihrer Ankunft Zugang zum Arbeitsmarkt – Menschen aus Syrien oder Afghanistan hingegen nicht. Gibt es in Deutschland Geflüchtete erster und zweiter Klasse?

Nein, aber ich kann nachvollziehen, dass vor allem die Geflüchteten, die schon länger hier sind, das Gefühl bekommen, es wäre so. Jemand, der viele Behördengänge machen muss, ein Asylverfahren durchläuft, wartet, hofft, der kann enttäuscht sein, wenn er jetzt sieht: Es geht auch anders, schneller, offenherziger, smarter. Die Geflüchteten aus der Ukraine müssen dank eines historischen Schulterschlusses innerhalb der EU keine langwierigen Einzelverfahren durchlaufen. Die Aufnahme von und die Integrationsmaßnahmen für Menschen aus der Ukraine sollten deshalb eine Blaupause sein: Wir können eine bessere Einwanderungs- und Integrationspolitik machen. Davon profitieren alle und das stärkt den Zusammenhalt.

Wir dürfen die Geflüchteten aus anderen Regionen der Welt nicht vergessen. Und das tun wir auch nicht: Denn es ist weder human noch sinnvoll, wenn Menschen, die jahrelang hier geduldet sind, kaum Rechte haben und zum Herumsitzen gezwungen sind. Viele wollen arbeiten, für die Familie sorgen, sich ein Leben mit Perspektive aufbauen. Dafür sorgen wir jetzt mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht, das gerade vom Bundeskabinett beschlossen wurde.

Die Gleichstellung der Geschlechter ist „existenziell für eine freie und demokratische Gesellschaft“, sagten Sie anlässlich des Internationalen Frauentags. Wo stehen wir jetzt in Deutschland? Was muss sich ändern?

Wir haben einiges erreicht, auch wenn wir noch weit davon entfernt sind, in allen Bereichen von Gleichstellung zu sprechen. Vor dem Gesetz ist die Situation klar, aber noch nicht in den Chefetagen, bei den Löhnen, in der Care-Arbeit. Wir müssen gemeinsam mehr erreichen: In allen Bereichen, auch im Öffentlichen Dienst muss Diversity selbstverständlich sein. Damit meine ich nicht nur, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Auch Menschen verschiedener Herkunft, geschlechtlicher Orientierung oder Altersgruppen müssen ihre Potenziale voll einbringen können. Die Vielfalt unserer Gesellschaft ist Realität, sie muss auch in Betrieben, Bundesministerien oder Bezirksämtern auch Normalität werden. Vielfalt ist übrigens nicht nur ein weicher Faktor, sondern auch ein knallhart wirtschaftlich, messbarer Erfolgsfaktor für Unternehmen und Behörden: bei Innovationen, Produktivität, Zufriedenheit der Beschäftigten und der Fachkräfte-Gewinnung.

Frau Staatsministerin, in Ihrer Freizeit boxen und skaten Sie gerne. Inwiefern gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Politik und dem Boxsport und sind Sie schon einmal mit dem Skateboard ins Kanzleramt gefahren?

Beim Boxen geht es um Technik und Schnelligkeit, ums Angreifen und Verteidigen. Das wird natürlich immer gerne als Analogie zur Politik gesehen. Für mich selbst ist es ein guter Ausgleich zu meiner kopf-lastigen Tätigkeit in der Politik. Mit dem Skateboard bin ich noch nie ins Kanzleramt gefahren, obwohl da guter Asphalt liegt.

Vielen Dank für das Interview Frau Reem Alabali-Radovan!

Quelle: Initiative Gesichter der Demokratie