Ist Einsamkeit wirklich die „Todesursache Nummer eins“? – Eine Kritik an Manfred Spitzers Einsamkeits-Buch

Verschneite Bank, Foto: Stefan Groß

Der Ulmer Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Spitzer hat ein neues Buch vorgelegt. Es widmet sich einem sehr wichtigen Thema – der Einsamkeit. Zahlreiche Menschen sind selbst oder als Mitmensch von diesem Phänomen betroffen. Und Einsamkeit ist wohl – wenn sie über längere Zeit besteht – ein folgenschweres Gefühl. All dies hat Manfred Spitzer intuitiv richtig erkannt und er hat sehr wohl „guten Riecher“, welche Themen gerade „in“ sind. Aufhorchen lässt allerdings der wie immer provokante Titel: „Einsamkeit, die unerkannte Krankheit. Schmerzhaft, ansteckend, tödlich.“ Auf dem Klappentext ist zu lesen: „Wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere an Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depression und Demenz. Einsamkeit ist zudem ansteckend und breitet sich wie eine Epidemie aus. Einsamkeit ist die Todesursache Nummer eins in den westlichen Ländern.“ – Kann dies alles wahr sein? Jedenfalls sind die gewagten Hypothesen von Manfred Spitzer bislang sehr kontrovers diskutiert worden.

Der „Sarrazin der Psychiatrie“?

Manfred Spitzer hat eine große Gemeinsamkeit mit einem anderen Autor, der immer wieder mit seinen „Sachbüchern“ Furore macht: Thilo Sarrazin. Beide haben gemeinsam, dass sie zu sehr aktuellen und umstrittenen Themen Sachbücher vorlegen, die dem Leser eine ungeheure Datenfülle und ein großes Zahlenwerk anbieten. Dadurch wird auf den ersten Blick eine wissenschaftliche Fundierung suggeriert. Das neue Buch von Manfred Spitzer enthüllt etwa 550 Literaturquellen, die sich überwiegend auf englischsprachige fundierte medizinische Publikationen beziehen. Allein diese Fleißarbeit macht schon einen großen Eindruck. Im Gesamtumfang von 320 Seiten des Buches sind immerhin 40 Seiten durch das Literaturverzeichnis ausgefüllt. Die Auswahl der wissenschaftlichen Literatur ist sehr umfangreich und beeindruckend – die Schlussfolgerungen sind es leider nicht!

Verwechslung von Korrelation und Kausalität

In vielen zitierten Studien geht es um erhöhte Morbiditäts- und Mortalitätsraten durch Einsamkeit, überwiegend bei Herzerkrankungen. Einsame Menschen haben nach zahlreichen Studien und Metaanalysen ein erhöhtes Risiko für einen vorzeitigen Herztod. Dies ist bei Herzinfarkt-Patienten eindrucksvoll nachgewiesen. Einsame und nicht einsame Herzkranke wurden verglichen. Die Gruppe der einsamen Herzpatienten zeigten eine höhere Mortalitätsrate und bekamen früher den zweiten Infarkt. Dies ist eine statistische Korrelation. Die Einsamkeit ist jedoch nicht die Ursache für den Herztod, sondern die bereits vorher bestehende koronare Herzerkrankung! Spitzer behauptet also einen kausalen Zusammenhang, wo lediglich eine statistische Korrelation vorliegt, die auch viele andere Ursachen haben kann.

„Todesursache Nummer Eins“ kann nicht wahr sein

Wenn also Manfred Spitzer seinen Lesern glauben machen will, dass Einsamkeit die „Todesursache Nummer eins“ sei, so ist dies schlicht unwahr. Einsamkeit wird niemals in einer ernst zu nehmenden Todesursachen-Statistik auftauchen! Die Todesursache ist im Beispiel des Herztodes die koronare Herzerkrankung oder der Herzinfarkt. Diese sind über Arteriosklerose in einem sehr komplexen atiopathogenetischen Bedingungsgefüge entstanden, in dem z.B. entzündliche Faktoren, Stoffwechsel, Bluthochdruck, Blutgerinnung und exogene Faktoren (z.B. Rauchen) eine große Rolle spielen. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass demnächst in einem Lehrbuch der Herzerkrankung zu lesen sein wird, dass Einsamkeit die Ursache von koronarer

Herzerkrankung oder Herzinfarkt sei. Noch viel problematischer ist die Aussage zu den Krebserkrankungen. Hier ist die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass psychosoziale Faktoren die Entstehung und den Verlauf von Krebserkrankungen kausal bedingen, äußerst gering.

Einsamkeit ist keine Krankheit

Es ist doch erstaunlich, dass ein durchaus renommierter Verlag (Droemer Knaur) diesen Buchtitel zulässt. Jeder Lektor, der ein medizinisches Sachbuch betreut, müsste doch wissen oder doch zumindest ahnen, dass Einsamkeit gar keine Krankheit sein kann. In keiner wissenschaftlichen Klassifikation für Krankheiten taucht Einsamkeit auf! Dies wird vermutlich auch in Zukunft nicht der Fall sein! Denn Einsamkeit ist keine Krankheit, sondern ein Gefühl. Zwar ein bedeutsames und folgenreiches Gefühl. Denn mit Einsamkeit sind wiederum andere psychosomatische Faktoren verknüpft, die sehr wohl Einfluss auf Gesundheit und Krankheit haben können. Aber Einsamkeit an sich ist eben keine Krankheit. Dies bereits im Buchtitel zu postulieren, ist wirklich gewagt.

Wenn also sowohl Manfred Spitzer als auch sein Verlag diese höchstproblematischen Begriffe und Schlussfolgerungen zulassen, gehört dies vielleicht zum Kalkül für hohe Umsatzzahlen. Durch Empörung und intensive kontroverse Diskussionen sind eine hohe Medien-Resonanz garantiert und die Buchauflage steigt. Dieses Erfolgsprinzip haben Manfred Spitzer und sein Verlag bereits sehr erfolgreich in den beiden Vorgängerwerken „Digitale Demenz“ (2012) und „Cyberkrank“ (2015) demonstriert. Es geht jedoch nicht nur ums Geld! Was ist mit der Schädigung von Lesern und Zuhörern, die diese gewagten Schlussfolgerungen für bare Münze nehmen und dadurch massive Ängste entwickeln? Das Einsamkeits-Buch von Manfred Spitzer war Anlass für den Journalisten Jan Stremmel, der in der Süddeutschen Zeitung vom 8. Mai 2018 eine fundamentale Kritik am Gebaren von Manfred Spitzer publizierte. Diese trägt den Titel „Über einen, der aus Ängsten Geld macht“. Der Journalist besuchte Lesungen von Manfred Spitzer über sein neues Einsamkeits-Buch und führte Interviews mit Manfred Spitzer selbst. Bei den Lesungen beobachtete er überwiegend „freundliche Damen und Herren um die Sechzig“. Wie fühlen sich wohl sechzigjährige Herzkranke oder Krebskranke, die von Manfred Spitzer zu hören bekommen, dass Einsamkeit ihnen bald das Leben kosten könnte?

Spitzer, Manfred, Einsamkeit – die unerkannte Krankheit. Schmerzhaft, ansteckend, tödlich. Droemer Knaur Verlag München 2018

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. H. Csef, Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zentrum für Innere Medizin, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Oberdürrbacher Straße 6, 97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

 

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.