Am 1. August, einem Freitag, holten wir noch unsere Post aus dem Schließfach und unsere Bankauszüge von der Sparkasse und fuhren gegen 11.00 Uhr Richtung Erfurter Kreuz, von dem wir dann Richtung Hermsdorfer Kreuz abbogen. An der Raststätte Teufelstal in Ostthüringen machten wir Rast. Ich kaufte mir ein Sonderheft des SPIEGEL vom Juni 2015 mit DDR-Aufsätzen und eine Tasse Kaffee. Die Raststätte war neu eingerichtet. Es gab eine Sitzecke, wo ein älteres, sächsisch sprechendes Ehepaar saß. Auf meine Frage, wo sie herkämen, antworteten sie in breitem Sächsisch: „Nu, aus San Franzisgo. Mir sind nur heme gefohrn, weil die Oma 90 werd!“ Später, schon in Sachsen-Anhalt an der Raststätte Köckern, kaufte ich mir die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG.
In Berlin-Kladow warteten Detlef (88) und Maria (90) Kühn auf uns, die wir jahrelang nicht mehr gesehen hatten. Von Potsdam musste man nach Norden fahren und dann irgendwo abbiegen. Kladow ist ein 1920 nach Groß-Berlin eingemeindetes Dorf, wo es heute noch Landwirtschaft gibt. Detlef Kühn war früher (bis 1989), Präsident des GESAMTDEUTSCHEN INSTITUTS in Bonn. Abends gingen wir am Kladower Hafen in ein italienisches Restaurant, wo wir drinnen die einzigen Gäste waren.
Am Samstag besuchten wir Siegmar Faust und seine Frau Iveta, eine Georgierin, in Berlin-Charlottenburg. Als wir zurückkamen, war Dr. Mathias Bath bei Kühns eingetroffen, der an einem Buch über den 13. August 1961 arbeitet. Am Sonntag, 3. August, frühstückten wir noch bei Kühns und fuhren dann noch einmal zu Siegmar Faust, wo wir zum Mittagessen eingeladen waren. Am Spätnachmittag erreichten wir über Märkisch Buchholz unseren Ferienort Alt Schadow. Da gibt es am Neuendorfer See am Waldrand eine Feriensiedlung mit rund 30 Ein-Familien-Häusern, von denen wir eins für zehn Tage gemietet hatten. Unserer Vermieterin Priska Oppermann, die aus Hannover stammte und in Königs Wusterhausen wohnte, gehörten dort zwei Häuser. Jedes Haus hatte Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Bad. Am Haus standen zwei Liegestühle mit Sonnenschirm und gegenüber der Haustür ein überdachtes Gartenhaus mit Tisch und Stühlen, wo wir frühstückten. Am 4. August ruhten wir uns aus! An diesem Tag erschien unsere Vermieterin, weil die Mieter des Nachbarhauses, ein Ehepaar aus Rothenburg ob der Tauber, sich beschwert hatten, weil die Heizung nicht funktionierte. Und das im Hochsommer! Als dieses Ehepaar zwei Tage nicht zu sehen war, dachte ich, jetzt wären sie nach Rothenburg gefahren, um ihren Heizlüfter zu holen.
Nachmittags fuhren wir zum Einkaufen nach Neu Lübbenau, wo es einen EDEKA-Markt gab und dort auch die örtliche Zeitung LAUSITZER RUNDSCHAU. Auch in den Ferien Zeitungen zu lesen, auch die Lokalpresse, ist mir wichtig. Einen Tag später sah ich, dass fünf Minuten von uns entfernt, neben dem Restaurant „Zum Seeblick“, ein Kiosk war, wo man morgens um 7.00 Uhr Brötchen kaufen konnte und die drei Zeitungen TAGESSPIEGEL (Westberlin), BERLINER ZEITUNG (Ostberlin) und die LAUSITZER RUNDSCHAU.
Am Dienstag, 5. August, wachte ich auf und erinnerte mich, von Anna Seghers geträumt zu haben. Ich hätte sie besucht in Berlin-Adlershof. Sie war sehr freundlich. Ich erzählte ihr, dass ich im März 1973 eine Woche in Mexico City gewesen wäre und das Haus fotografiert hätte, wo sie während des Exils 1941/47 gewohnt hätte. Sie zeigte mir dann eine Liste mit Namen von Leuten, die sie gekannt hatte.
Gegen Mittag suchten wir eine Tankstelle und gerieten nach Teupitz, eine slawische Siedlung am Teupitzer See, 1307 erstmalig in einer Urkunde erwähnt. Hier tankten wir und fuhren dann durch den Ort, um ein Café zu suchen. Neben dem Haus war ein Weg zum See, ein Schild verwies darauf, dass man gleich eine Dampferfahrt über sieben Seen antreten könnte, die zwei Stunden dauere. Das Schiff war gefüllt mit einer Busladung aus Niesky. Das liegt im deutschen Teil Schlesiens westlich der Oder, den uns die Polen 1945 gelassen haben. Für uns wurden zwei Stühle an einen Tisch geschoben, wo ein Ehepaar saßen und eine redselige Dame von 88 Jahren aus Görlitz, die noch schlesischen Dialekt sprach. Bei der Einfahrt nach Teupitz hatten wir ein Gebäude gesehen, auf dem stand in großen Buchstaben KAISERLICHES POSTAMT. Wir rieben uns verwundert die Augen: Sollte dieses Gebäude unbeschadet die Weimarer Republik, das „Dritte Reich“ und die 40 DDR-Jahre überstanden haben? Heute ist das ein Wohnhaus.
Wir fuhren nun für 21.00 Euro über die sieben Seen. Überall an den Ufern und auf den Inseln in den Seen standen Bungalows, Blockhäuser oder frühere Datschen, einstige Rückzugsräume vom Sozialismus. Es war eine herrliche Fahrt, zumal auf dem Oberdeck, das ich einmal aufsuchte, frischer Wind wehte. Das Ehepaar an unserem Tisch stammte aus Boxberg bei Görlitz.
Nach der Ankunft in Teupitz wollten wir in einem Restaurant zu Abend essen, aber am Dienstag haben auf früherem DDR-Gebiet alle Restaurants und Kneipen geschlossen. Nur in einem Restaurant konnten wir an einem Tisch Platz nehmen, der für geladene Gäste reserviert war. Um 18.00 Uhr mussten wir fertig sein, Gäste kamen aber keine.
Am Mittwoch, 6. August, fuhren wir nach Königs Wusterhausen, wo unsere Vermieter wohnen. Wir aßen dort zu Mittag, gingen dann bei PENNY einkaufen und tranken Kaffee in einem hübschen Landcafé „Bäckerei und Café zur alten Ölmühle“ in Märkisch Buchholz. Hier hatte der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann (1922-1984) seit 1959 eine Datsche im Wald, um ungestört arbeiten zu können, was ihm in Ostberlin., wo er wohnte, offensichtlich kaum gelang. Er ist 1922 als Sohn eines Apothekers in Rochlitz im böhmischen Riesengebirge geboren und wurde Jung-Nazi, nachdem die deutsche Wehrmacht 1938 im Sudetenland einmarschiert war. Er trat 1938 in die Reiter-SA ein und wurde 1941 eingezogen. Gegen Kriegsende geriet er in russische Gefangenschaft und wurde auf der Antifaschule in Noginsk umerzogen zum Antifaschisten. Weihnachten 1949, die DDR war am 7. Oktober 1949 gegründet worden, wurde er nach Ostberlin entlassen, wo Mutter und Schwester inzwischen lebten. Er wollte damals in die SED eintreten, wurde aber von offizieller Seite genötigt, Mitglied der NDPD zu werden. Das war eine am 16. Juni 1948 gegründete Partei, mit der die ehemaligen NSDAP-Mitglieder, Wehrmachtsoffiziere und Berufssoldaten aufgefangen werden sollten. In der SED waren aber, so der DDR-Forscher Klaus Schröder, bedeutend mehr ehemalige NSDAP-Mitglieder als in der NDPD. Erster Vorsitzender 1948/72 war der aus Schlesien stammende Rechtsanwalt Lothar Bolz (1903-1986). Franz Fühmann war bis 1958 NDPD-Funktionär, 1972 trat er aus der Partei aus. Näheres ist nachzulesen in den Büchern von Hans Richter „Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben“ (1992) und Gunnar Decker „Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns“ (2009). Dieser Schriftsteller, der 1984 mit 62 Jahren an Krebs starb, ist mit seinen literarischen und journalistischen Veröffentlichungen ein hochinteressantes Beispiel für einen Intellektuellen, der in sowjetrussischer Kriegsgefangenschaft vom jungen Faschisten zum Kommunisten umerzogen wurde, aber im Laufe seines DDR-Lebens begriff, dass er vom Regen in die Traufe geraten war. Er sah die DDR zunehmend kritisch und wurde deshalb auch zum Observationsopfer der Staatssicherheit. Er hat dann auch einen Kreis junger DDR-Dichter um sich versammelt wie Wolfgang Hilbig und andere. Als ich ihn 1978 nach einer Lesung in Regensburg traf und ihm erzählte, dass ich von DDR-Germanisten wegen meiner Beurteilung der DDR-Literatur angegriffen würde, sagte er: „Ach, so einer sind Sie!“ Von meinen Jahren als politischer Häftling in Waldheim erzählte ich nichts. Wenn er das erfahren hätte, wären wir anders miteinander umgegangen!
Wir sind auf unseren Fahrten im Spreewald mehrmals durch Märkisch Buchholz gekommen, nirgendwo habe ich einen Hinweis gesehen, dass Franz Fühmann hier seit 1959 einen zweiten Wohnsitz hatte. Er ist dort begraben und soll einen schönen Grabstein haben. Es soll auch einen Gedenkstein geben. Ich fand nicht einmal die Stadtverwaltung.
Neben der Spree gibt es in der Gegend auch noch mehrere Seen. Das heißt, es gab auch eine Unzahl von Mücken, die uns tags und nachts belästigten. Sie verfolgten uns also auch nachts, während wir schliefen. Da sie keinen Lärm beim Anflug machten, bemerkten wir sie erst, wenn sie uns schon gestochen hatten. Im Wohnzimmer des Hauses, in dem wir wohnten, hing ein Spruch an der Wand: „Wenn ich den See seh, brauch ich kein Meer mehr!“
Den Donnerstag, 7. August, verbrachten wir, schlafend und lesend, in der gemieteten Datsche. Ich hatte das Buch „Zwischenbilanz“ (1992) des DDR-Schriftstellers Günter de Bruyn mit, die Geschichte seiner „Jugend in Berlin“. Er arbeitete nach der Kriegsgefangenschaft als Neulehrer und ließ sich später zum Bibliothekar ausbilden, seit 1961 war er ausschließlich Schriftsteller. Wie er schreibt, kannte er auch die Ostberliner Philosophieprofessorin Liselotte Richter (1906-1968), die sich für die Rezeption Sören Kierkegaards eingesetzt hatte und deshalb bei den Vertretern des Marxismus-Leninismus einen schweren Stand hatte. Gelesen habe ich von ihm die Erzählung „Märkische Forschungen“ (1978) und den Roman „Neue Herrlichkeit“ (1984). In der Erzählung wird von einem märkischen Jakobiner berichtet, also einem Anhänger der Französischen Revolution von 1789. Das war in Preußen eine Seltenheit, solche Leute brauchte aber die marxistische Historikerzunft 1949/89, um sie zu Vorläufern des DDR-Sozialismus erklären zu können. Irgendwann im 19. Jahrhundert versiegen aber die Lebensspuren des progressiven Vorläufers, bis man entdeckte, dass er unter anderem Namen in der Preußischen Zensurbehörde gearbeitet hat, seine frühere Gesinnung also verleugnet oder abgelegt hat! Wider Erwarten ist dieses Buch in der DDR veröffentlicht worden. Sein Roman „Neue Herrlichkeit“ erschien 1984 in Frankfurt am Main und, mit Kürzungen der Zensurbehörde, erst 1985 im Land seiner Entstehung. Wie Franz Fühmann wohnte auch Günter de Bruyn im Wald, um zu arbeiten. Er hatte eine Hütte im Schwenower Forst bei Storkow. Und auch er wurde von der Staatssicherheit observiert. Sein Buch „Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht“ (1996) werde ich mir besorgen.
Wir liefen am frühen Nachmittag durch den Wald, wo es an einer Gulaschkanone Essen geben sollte. Aber als wir ankamen, war alles schon geschlossen. Also liefen wir den weiten Weg zurück und aßen zu Abend im Restaurant „Zum Seeblick“. Daneben war der Kiosk, wo ich morgens immer Brötchen und Zeitungen kaufte. Ich aß Leber, die vorzüglich schmeckte.
Am 8. August fuhren wir nach Luckau, das etwas weiter weg lag im Bundesland Brandenburg. Ich wollte dieses Landstädtchen sehen, weil es im Roman „Die Brüder“ (1985) des westdeutschen Schriftstellers Dieter Lattmann (1926-2018) vorkommt. Der in München lebende Autor stammte eigentlich aus Potsdam. Sein Onkel Martin Lattmann (1896-1976) war Nationalsozialist und Panzergeneral in der „Wehrmacht“. Er geriet in Stalingrad in russische Gefangenschaft und wurde „umerzogen“. Danach diente er als General in der „Nationalen Volksarmee“. Der Bruder war ebenfalls General in der „Wehrmacht“ und nach 1956 auch in der Bundeswehr. Dieter Lattmann möchte in diesem Roman die deutsche Teilung, die hier quer durch eine Familie läuft, beschreiben. Ich veröffentlichte damals eine Rezension dieses Romans in der WELT und bekam Post von Dieter Lattmann aus München: Er hätte erst jetzt von meiner Rezension erfahren, in München bekäme man die WELT nur schwer. Wir trafen uns und redeten miteinander, ohne Ergebnis.
In Luckau tranken wir Kaffee im Café Bubner am Marktplatz. Dort lag eine Einladung zu einer Lesung von Stefan Körbel aus seinem Buch „Wendekreis oder die Vollendung der deutschen Einheit im Südpazifik“ (2019). Vom Café Bubner gingen wir dann zum Postamt, um Briefmarken zu kaufen. Auf dem Weg zurück zum Marktplatz besuchte Gabriele ein Schuhgeschäft und wunderte sich, dass die Schuhe überhaupt nicht nach Größe geordnet standen, sondern nur so. Erst, als wir wieder in Coburg waren, erfuhr ich, dass acht Kilometer von Luckau entfernt, im Ortsteil Görlsdorf am Schabendorfer See, der Tierfilmer Heinz Sielmann (1917-2006) in einem ehemaligen Braunkohletagebau einen Naturpark eingerichtet hat, wo Vögel nisten und brüten können, besonders Kraniche. Das hätte ich mir gerne angesehen!
Am 9. August (Samstag) unternahmen wir endlich die Fahrt mit einem Spreewaldkahn, die zwei Stunden dauerte. Auf den Booten standen Bänke, dazwischen ein Tisch, an dem vier Personen sitzen konnten. Uns gegenüber saß ein Ehepaar aus Dresden. Er war von Beruf Elektriker gewesen und erzählte von seiner Zeit bei der „Nationalen Volksarmee“, wo er auf Befehl in der Datsche eines Offiziers die elektrischen Leitungen zu verlegen hatte.
Die Ufer an der Spree zu betreten, ist streng verboten. Es gibt auch eine Wasserpolizei, die das überwacht. Dort an den Ufern ist noch richtiger Urwald mit seltenen Tieren, die nicht gestört werden sollen. Auch Biber und Nutrias (Sumpfbiber/Biberratten), eine eingeschleppte Art aus Südamerika, gibt es an der Spree. Nach einer Stunde legte unser Kapitän die Stange beiseite und warf den Motor an. Die Erklärung war, das Wasser wäre hier zu tief zum Staken. Es war eine schöne Fahrt, auch wenn uns die Mücken nicht verschonten.
Am Sonntag, 10. August, hatten wir endlich Glück mit der Gulaschkanone im Wald, sind aber mit dem Auto gefahren. Sonst waren wir an diesem Tag in unserer Datsche.
Am Montag besuchten wir Eisenhüttenstadt an der Oder. Der Ort wurde 1950 als Wohnstadt für die Arbeiter des Eisenhüttenkombinats Ost gegründet und trug bis 1961 den Namen „Stalinstadt“. Eigentlich sollte der Ort „Karl-Marx-Stadt“ heißen, aber weil am 5. März 1953 Stalin gestorben war, wurde die Stadt am 7. Mai 1953 nach ihm benannt. Am 13. November 1961 wurde sie in Eisenhüttenstadt umbenannt. Im Eisenhüttenkombinat Ost spielt Hans Marchwitzas Roman „Roheisen“ (1955). Meine Frau suchte immer nach dem Zentrum, aber die Stadt ist auf dem Reißbrett entworfen worden, einen alten Stadtkern gibt es nicht. Die Straßen dort sind nach Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Fritz Heckert benannt, die Grundschulen nach Erich Weinert und Astrid Lindgren. Wir tranken dort Kaffee und sahen auf dem Weg zu unserem geparkten Auto, dass es in Eisenhüttenstadt ein Friedrich-Wolf-Theater gibt. Benannt ist es nach dem kommunistischen Schriftsteller Friedrich Wolf (1888-1953). Im Hauptberuf war er Arzt und außerdem der Vater des späteren Stasi-Generalmajors Markus Wolf (1923-2006), der von 1952 bis 1986 die „Hauptverwaltung Aufklärung“ leitete, die DDR-Auslandsspionage. Sein Bruder war der Filmregisseur Konrad Wolf (1925-1982).
Von Eisenhüttenstadt fuhren wir noch nach Bad Saarow am Scharmützelsee. Das ist eine Kurstadt, wo in den Zwanziger Jahren der expressionistische Dichter und Kommunist Johannes R. Becher (1891-1958) lebte, der 1954 zum ersten DDR-Kulturminister aufstieg, auch zu DDR-Zeiten hatte er dort eine Wohnung. Wenn man die Vergangenheit dieser Stadt kennt, wo nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Ausbruch des „Dritten Reichs“ berühmte Leute gewohnt haben, dann kann man noch einen späten Abglanz der damaligen Zeit spüren. Der berühmte Boxer Max Schmeling (1905-2005) hat dort gewohnt und dort auch 1933 seine Frau Anny Ondra (1902-1987) geheiratet. Der russische Schriftsteller Maxim Gorki (1868-1936) weilte zur Erholung dort 1922/23. Ihm zu Ehren wurde dort 1972 eine Maxim-Gorki-Gedenkstätte errichtet. Der Schauspieler Harry Liedtke (1892-1945) lebte dort mit seiner Frau Christa Tordy (1904-1945). Als die „Rote Armee“ am 28. April 1945 in Bad Saarow einmarschierte, wurde Christa Tordy vergewaltigt und umgebracht. Ihr Mann, der ihr helfen wollte, wurde mit einer Bierflasche erschlagen. Auch die berühmte Theater- und Filmschauspielerin Käthe Dorsch (1890-1957) hat zweitweise hier gewohnt. Da sie gute Beziehungen zu Reichsmarschall Hermann Göring (1893-1946) hatte, gelang es ihr 1935, den Kabarettisten Werner Finck (1902-1978) aus dem Konzentrationslager Esterwege freizubekommen. Nach dem Krieg, 1946, ohrfeigte sie in der Öffentlichkeit den Theaterkritiker Wolfgang Harich (1923-1995), der in der TÄGLICHEN RUNDSCHAU negativ über sie geschrieben hatte. Er wurde 1956 von der „Staatssicherheit“ verhaftet und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Am Mittwoch, 13. August, fuhren wir wieder Richtung Heimat, ohne Frühstück. Ich wusste nicht, wie unser Navigator uns leiten würde. Ich fürchtete, er würde uns die Landstraße nach Leipzig führen und dann auf der Autobahn übers Hermsdorfer Kreuz nach Erfurt. Aber er führte uns auf der Autobahn von Lübbenau nach Dresden. Von dort fuhren wir Richtung Chemnitz, also nach Westen. Gegen Mittag wurde, noch vor Chemnitz, die Abfahrt Waldheim (16 Kilometer) angezeigt. Waldheim? Hatte ich dort nicht einmal vor Urzeiten gewohnt? Ja, genau: vom 2. September 1962 bis 21. August 1964, also fast zwei Jahre, verbrachte ich in dem von Kurfürst August dem Starken 1716 gegründeten Zuchthaus. Vorher saß ich ein Jahr in Leipzig, Torgau, Altenburg und noch einmal Leipzig. Ich lebte damals mit 1200 Gefangenen in Waldheim, aber den Ort kannten wir nicht. Jetzt, 61 Jahre nach meiner plötzlichen Entlassung durch Häftlingsfreikauf, parkten wir am Untermarkt und schlenderten durch die Stadt. Im Café Möbius frühstückten wir gegen Mittag. Und dann erlebten wir das, was auf einstigem DDR-Gebiet tradiert wird, jetzt schon in der dritten Generation nach dem Mauerfall 1989: die Unlust zu arbeiten. Drei junge Damen standen hinter der Theke. Ich fragte, ob ich noch frühstücken könnte. Ja, eine Tasse Kaffee könnte ich haben, und belegte Brötchen. Als wir am Tisch saßen, griff ich zur Speisekarte und sah, dass ich unter sechs verschiedenen Sorten Frühstück hätte wählen können. Ja, aber dann hätte ja eine der drei Damen in die Küche gehen und arbeiten müssen! An der Theke Bedienen ist ja viel bequemer. Zu DDR-Zeiten war das so: Die Restaurants und Cafés unterstanden der HO. Wenn die Bediensteten keine Lust mehr hatten zu arbeiten, dann stellten sie, ein oder zwei Stunden vor Dienstschluss, die Stühle auf die Tische, sodass die Vorübergehenden sahen, hier gibt es nichts mehr! Argument: Ich bin bei der HO angestellt, ich krieg mein Geld auch, wenn keine Gäste da sind!
Neben mir im Café saß eine ältere Dame, die ich fragte, ob sie in Waldheim wohne. Ja, sagte sie, aber jetzt wohne sie in der Kreisstadt Döbeln und komme nur wegen ihrer Ärzte nach Waldheim. Ja, sagte ich, ich hätte auch einmal in Waldheim gewohnt, vor 60 Jahren, im Zuchthaus. Da sah sie mich merkwürdig an. Im 19. Jahrhundert saßen dort zwei Revolutionäre des Königreichs Sachsen, die ich verehre: Theodor Oelckers (1816-1869) zehn Jahre und August Röckel (1814-1876) elf Jahre. Beide haben Bücher über ihre lange Haftzeit geschrieben: „Aus dem Gefängnisleben“ (1860) und „Sachsens Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim“ (1865). Und 2016 durfte ich in der heutigen Justizvollzugsanstalt zum 300. Gründungstag über meine Waldheimer Jahre sprechen.
Am Untermarkt in Waldheim liegt die Gastwirtschaft mit Hotel „Zum Goldenen Löwen“. Am Haus ist eine Gedenktafel angebracht, dass Goethe hier übernachtet hat, einmal 1790 auf dem Weg nach Schlesien und dann 1816 auf dem Rückweg von den böhmischen Bädern. Bei der zweiten Übernachtung existierte das Zuchthaus Waldheim schon 100 Jahre. Hat Goethe das gewusst?
Da meine Frau noch Besorgungen zu machen hatte, ging ich in die Stadtinformation wegen der „Waldheimer Hefte“. Dort wurde gerade geschlossen, ich kam aber ins Gespräch mit der zuständigen Dame, weshalb sie wieder aufschloss. Ihr erzählte ich, was zu meiner Zeit 1962/64 in Waldheim passiert war. Da wurde ich für 2026 zu einem Vortrag eingeladen.
Nachmittags trafen wir wieder in Coburg ein. Am 22. August musste ich zu meinem Onkologen wegen der halbjährlichen Krebsnachsorgeuntersuchung: ohne Befund (!!!). Am 13. Oktober waren meine Frau und ich zur jährlichen Untersuchung bei Prof. Dr. Johannes Kraft, Facharzt für Geriatrie am Coburger Klinikum. Wir sind beide wider Erwarten gesund!
