Tödliche Fluchten über die Ostsee – Greifswalder Wissenschaftler erarbeiten Standardwerk

Waves, East sea, Breaking waves, Quelle: KIMsookhyun, Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig

Am 23. August 1974 stieg die damals 26jährige Biologin Carmen Rohrbach aus Halle mit ihrem Freund Jürgen bei Nienhagen ins Wasser der Ostsee und schwamm mit ihm ununterbrochen 28 Stunden in Richtung der dänischen Inseln. Die Flucht scheiterte, weil die beiden völlig erschöpften Schwimmer von der Besatzung eines Schiffes der „Volksmarine“ auf einer Boje aufgegriffen, festgenommen und der „Staatssicherheit“ übergeben wurden, dennoch gehörten sie zu den 900 Flüchtlingen über die Ostsee von insgesamt 5600, die nicht ertrunken sind.

Zwischen 1949, dem Jahr der DDR-Gründung am 7. Oktober, und 1961, dem Jahr des Mauerbaus in Berlin am 13. August 1961, sind 2,7 Millionen DDR-Bürger aus dem ungeliebten SED-Staat geflohen. Danach war das ungleich schwieriger und mit hoher Lebensgefahr verbunden, aber immer wieder fanden Fluchtwillige neue Möglichkeiten, zu entkommen und unter demokratischen Bedingungen ein freies Leben zu führen. Spektakuläre Fälle von „Republikflucht“ wurden sogar verfilmt wie der „illegale“ Grenzübertritt von 53 Bewohnern des Ortes Böseckendorf im Eichsfeld, Männer, Frauen und Kinder, am 2. Oktober 1961 in den westdeutschen Landkreis Duderstadt oder die Ballonflucht zweier Thüringer Familien am 16. September 1979 nach Naila in Oberfranken. In den Zeitungen gefeiert wurden auch die Tunnelfluchten nach Westberlin, die wochenlange Vorarbeiten erforderten, so die in der Nacht des 3./4. Oktober 1964 mit 57 Flüchtlingen.

Auch in der Literatur wurde das Thema „Republikflucht“ mehrmals aufgearbeitet, so in der Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ (1995), wo ein Koch der „Weißen Flotte“ sieben Jahre lang die Flucht mit einem Segelboot nach Dänemark vorbereitet, aber im Sommer 1989 zu seiner Frau zurückkehrt; und in Lutz Seilers Roman „Kruso“ (2014), der im Sommer 1989 auf der Insel Hiddensee, westlich von Rügen gelegen, unter Andersdenkenden und Aussteigern spielt, wenige Wochen vor Öffnung der Berliner Mauer.

Das „biografische Handbuch“ (Untertitel) über tödliche Ostseefluchten, das in jahrelanger Arbeit von einer neunköpfigen Forschergruppe der Universität Greifswald erstellt wurde, bietet eine erweiterte Sicht auf das Thema „Republikflucht“. Wer über die inner-deutsche Grenze ins „kapitalistische Ausland“ floh, konnte verhaftet, verurteilt, schließlich freigekauft oder aber erschossen werden. In allen Fällen aber wurde sein Schicksal von den DDR-Behörden genauestens registriert, sodass DDR-Forscher heute auf die erhaltenen Aktenbestände, vornehmlich des 1990 aufgelösten „Ministeriums für Staatssicherheit“ zurückgreifen können. Bei den 4700 Flüchtlingen, die in der Ostsee ertrunken sind, ist das anders. Die Aktenlage ist unglaublich schwieriger, wie man beim Studium der 147 Schicksale, die hier dokumentiert sind, erfahren kann. Die neun Mitarbeiter dieses Buches, das am 23. September 2025 in Schwerin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, betraten also weithin unbekanntes Gelände, als sie die Ostseefluchten zu erforschen begannen.

Wie schwierig und langwierig die Forschungsarbeit für dieses Buch war, kann man in der Einleitung (20 Seiten) von Merete Peetz nachlesen. Die lange Seegrenze im DDR-Bezirk Rostock wurde Tag und Nacht von der „Grenzbrigade Küste“ und der „Volksmarine“, die auch in internationalen Gewässern operierte, überwacht und nach Flüchtlingen abgesucht. Landkarten über die Küstengebiete (wie auch die über die innerdeutsche Grenze) waren für Fluchten unbrauchbar, da sie falsche Angaben enthielten, um die Fluchtwilligen in die Irre zu führen.

Die kürzeste Strecke nach Dänemark war die von Boltenhagen zur dänischen Insel Falster, sie betrug „nur“ 40 Kilometer. Auf Flüchtlinge, die die Küstengewässer schon verlassen hatten, kamen jetzt, auf hoher See, unvorhersehbare Gefahren zu: Stürme mit meterhohen Wellen! Unzureichende Kleidung war ein weiterer Grund für das Scheitern der Flucht oder Boote, die der Hochsee nicht gewachsen waren.

Gründe, den „Arbeiter- und Bauernstaat“ zu verlassen, gab es viele, politische und unpolitische. Merete Peetz hat in ihrer Einleitung alle Fluchtabsichten auf einen Nenner gebracht: Dahinter stand immer die „Hoffnung auf eine selbstbestimmte Lebensgestaltung.“

Oft wussten die Verwandten des Flüchtlings, Eltern und Geschwister oder Ehefrauen, nichts von den Fluchtplänen ihrer Verwandten. Wenn dann die am Ostseestrand angeschwemmten Leichen identifiziert waren, erschienen Mitarbeiter der „Staatssicherheit“ bei den Angehörigen und unterzogen sie strengen Verhören, um ihnen Mitwisserschaft nachzuweisen.

Die eigentliche Arbeitsleistung der neun Wissenschaftler in Greifswald ist auf den Seiten 37 bis 355 zu finden, wo die mühsam erstellten Lebensläufe der ertrunkenen Flüchtlinge abgedruckt sind. Da gibt es biografische Angaben, die nur eine halbe Seite lang sind, weil mehr nicht zu ermitteln war; andere erstrecken sich über mehrere Seiten.

Wer sich als Flüchtling, liest man dort auf Seite 40, dem Wasser nicht anvertrauen wollte, der fuhr mit dem Fährschiff „Saßnitz“ von Rügen zum schwedischen Trelleborg wie der Leipziger Günter Heydel (27). Drei Wochen nach dem Mauerbau, in der Nacht vom 1./2. September 1961, sprang er vom Bootsdeck auf den Landungssteg und verstarb.

Manche Berichte verstören den Leser derart, dass er nicht weiterlesen kann, wenn er beispielsweise von Kindern erfährt, die ertrunken sind (das jüngste war zwei Jahre alt) oder von ganzen Familien, die in den Fluten umkamen.

Selbst dann, wenn die Flucht gelungen war und der Flüchtling sich ein neues Leben in Freiheit aufgebaut hatte, konnte man noch, als Racheakt sozusagen, von DDR-Agenten umgebracht werden. Bezeichnend hierfür ist das Schicksal Bernd Böttgers (1940-1972) aus Sebnitz in Sachsen. Er war ein hochbegabter Erfinder und baute einen „Aqua-Scooter“, der ihn am 8. September 1968 unter Wasser in Richtung dänische Küste zog, wo er von einem dänischen Schiff gerettet wurde. Er wurde durch seine Flucht zum Medienstar, der im Hörfunk und im Fernsehen auftrat, sodass schließlich auch Erich Mielke, der Minister für „Staatssicherheit“, auf ihn aufmerksam wurde. Bernd Röttgen starb am 27. August 1972 beim Tauchen vor der spanischen Küste.

 

Henning Hochstein/Jenny Linek/Merete Peetz „Tödliche Ostseefluchten aus der DDR 1961-1989. Ein biografisches Handbuch“, herausgeben von der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 2025, 412 Seiten, 25.00 Euro

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Über Jörg Bernhard Bilke 280 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.