„Mächtiger noch als das Römische Reich!“

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Nato-Generalsekretär Mark Rutte ist jener Mann, dem am 4. Juni 2025 auf einer Pressekonferenz vor dem Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel die Bemerkung entfuhr: “Nato is the most powerful defence alliance in world history. It’s even more powerful than the Roman Empire.” [Die Nato ist das mächtigste Verteidigungsbündnis der Weltgeschichte. Sie ist sogar noch mächtiger als das Römische Reich.]

Selbiger Mark Rutte wollte kürzlich seinem Heerführer – Donald Trump – schmeicheln, indem er ihn, am 25. Juni, „Daddy“ nannte. Ein Daddy, der für Ordnung in der Welt habe sorgen müssen, indem er den Iran bombardierte. Mit dem von hündischer Ergebenheit zeugenden Wort „Daddy“ wurde Trump von Rutte zum Vater der Regierungschefs aller Nato-Staaten – wenn nicht zum väterlich bombardierenden Streitschlichter aller Staaten der Welt – erhoben.

Mächtiger noch als selbst das Römische Reich sei die Nato. Nun hatte jedoch auch das Römische Reich seinen Vater: Seit etwa 19 v. Chr. nannte man Augustus (Julius Cäsars Stiefsohn) „Vater“. Augustus wurde gewürdigt als Vater aller Römer und als – Friedensstifter. Mit ihm begann eine etwa 200 Jahre währende Periode relativen Friedens.

Augustus hatte eingesehen, dass die Macht eines Imperiums auch überdehnt werden konnte und dass Überdehnung zu einer Implosion der erreichten Macht führen würde. Ohne es so zu formulieren, verstand er, dass Macht nur Macht bleibt, wo sie andauert. Er begriff, dass Macht nicht nur eine Funktion der räumlichen Erstreckung und der verfügbaren Vernichtungskraft ist, sondern auch eine Frage der zeitlichen Dauer. Dass sich die Macht geopolitischer Akteure nicht allein aus dem beherrschten Raum speist, sondern auch aus der Erstreckung in der Zeit.

Fragen wir uns Folgendes: Ist die Nato allein schon deshalb mächtiger als das Römische Reich, weil sie über unvergleichlich stärkere Vernichtungswaffen verfügt? Oder ist es nicht vielmehr ein Beleg überlegener Macht des Römischen Reiches, dass es (je nach Blickwinkel) etwa 1000 oder 2000 Jahre lang Bestand hatte, während die Nato erst 1949 gegründet wurde und vergleichsweise ein unbeschriebenes Blatt ist?

Ruttes Verständnis von Macht scheint überaus eindimensional zu sein. Wie lange eine Großmacht Bestand hat, scheint ihn nicht weiter zu interessieren. Er ergeht sich in leerer Triumphatorengestik: Wir, die Nato, können uns so lange und so weit ausdehnen, wie wir wollen! Wohingegen man im alten Rom, zu Zeiten der Augusteischen Klassik, zwar sehr wohl auch stolz war auf die Größe des Reiches, aber dieser Stolz begleitet wurde von einer Freude über gesicherten Frieden, der eine unabsehbare Zukunft verhieß. Freude über einen zukunftsträchtigen gesicherten Frieden fehlt heute und wird auch gar nicht mehr gesucht. Sie ist einer grotesken Rüstungssucht gewichen, die nach Kriegstüchtigkeit brüllt. Man möchte sich endlich einmal mit dem Gegner messen. Wohl nicht zuletzt, um „Daddy“ eine kleine Freude zu bereiten, um zu zeigen, dass man erwachsen geworden ist.

Offenbar vermag Rutte Macht nur zu begreifen als letztlich gewaltbasierte Drohgebärde oder als die Fähigkeit, andere daran zu hindern, ihre Interessen wahrzunehmen (Habermas). Kein Gedanke wird verschwendet an die Notwendigkeit eines Interessen-Ausgleichs insbesondere mit Russland, das die Ukraine nicht zuletzt deshalb überfiel, weil es seine Sicherheits-Interessen durch eine permanente Ausdehnung der Nato in Frage gestellt sieht.

Vor dem Hintergrund zurückliegender Bürgerkriege verwaltete die römische Pax Augusta den Frieden als ein hohes Gut – während Westeuropa den Frieden vor dem Hintergrund zweier Weltkriege neuerdings nicht mehr als Kostbarkeit hüten will, sondern ihn wissentlich aufs Spiel setzt. Getrieben vom Phantasma eines russischen Angriffs auf die Nato in wenigen Jahren, beflügelt von der fixen Idee der Unausweichlichkeit und relativen Folgenlosigkeit eines Krieges gegen Russland.

Zu einem ganz anderen und sehr viel dramatischeren Urteil gelangen die US-Geheimdienste in ihrem ANNUAL THREAT ASSESSMENT OF THE U.S. INTELLIGENCE COMMUNITY vom März 2025, das mit folgenden Worten zu einer Beilegung des Konflikts aufruft, weil die Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung schlicht zu groß sei: „Continuing the Russia-Ukraine war perpetuates strategic risks to the United States of unintended escalation to large-scale war, the potential use of nuclear weapons …“ [Eine Fortsetzung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine birgt für die Vereinigten Staaten das strategische Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation zu einem groß angelegten Krieg sowie das Risiko des möglichen Einsatzes von Atomwaffen.]

In seinem verbalen Triumph über das Römische Reich erweist sich Rutte als außerstande wahrzunehmen, dass die unter seinem Sekretariat weiterverfolgte besinnungslose Machtpolitik immer nur einen Schritt weit davon entfernt ist, in die totale Ohnmacht zu führen: in den gemeinsamen Untergang von Nato und Russland. Und der irdischen Zivilisation als solcher. Von umsichtiger Macht hingegen würden Maßnahmen zeugen, die geeignet sind, den eigenen Fortbestand in der Zeit zu sichern, wie sie zuletzt in einem Manifest des Erhard-Eppler-Kreises innerhalb der SPD gefordert werden. So gesehen verfolgt die NATO eine ausgesprochene und perspektivenlose Politik absoluten Machtverlusts: Um ephemerer Überlegenheitsgefühle wird der eigene Fortbestand riskiert.

Dass Hypermacht und totaler Untergang stets nur einen Schritt weit auseinanderliegen, erhellt insbesondere aus der für 2026 geplanten Stationierung von auf Russland gerichteten US-Mittelstreckenraketen in Deutschland (nota bene: nur im suizidalen Deutschland, nicht in anderen Ländern sollen die Raketen stationiert werden). Weil diese Raketen ihre Ziele teils in wenigen Minuten erreichen können und weil sie in Russland die Furcht vor einem Enthauptungsschlag schüren, sind sie geeignet einen Präventivschlag auszulösen. Gegen Deutschland. Ebenso wie der im Juli 2024 für diese besinnungslose Aufrüstung verantwortliche – und dabei ganz außerparlamentarisch agierende – Altkanzler Scholz wird Rutte die Stationierung schlicht als weiteren Machtzugewinn hoch über das Römische Reich hinaus willkommen heißen und positiv verbuchen.

Während die US-Geheimdienste vor der tödlichen Bedrohung für die USA (!) warnen, die mit einer Eskalation des Ukrainekriegs einhergeht, schlafwandelt Deutschland, vom Russland-Phantasma besessen und von allen guten Geistern verlassen, kriegshysterisch in den eigenen Untergang. Vor diesem Hintergrund äußerte der langjährige CIA-Mitarbeiter Ray McGovern im Interview mit der Berliner Zeitung (vom 28./29. Juli): „Ich habe wirklich Angst um Deutschland.“

Über Karim Akerma 82 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).