„Der entscheidende Bezugsrahmen des Kriegs […] sind russische Kulturmuster, die auf der Grundlage von mächtepolitischen Traditionen und außenpolitischen Erfahrungen entstanden sind.“ So fasst der Münchner Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel die Kernthese seines Buchs „Der Fluch des Imperiums“ zusammen, mit dem er zu erklären versucht, was vielen nach wie vor so unerklärlich erscheint: den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Das 2023 als gebundene Ausgabe und 2025 als Paperback erschienene Werk legt mehr als nur nah, dass Putins Ziel mindestens die umfassende Kontrolle der Ukraine ist. Ein Ziel, das er mit kriegerischen Mitteln verfolgt, weil er mit politischen am Selbstbehauptungswillen der Ukraine gescheitert ist.
Den im Titel prominent platzierten „Fluch des Imperiums“ sieht der Osteuropahistoriker „in der Verbindung von imperialer Politik, Außenpolitik und Identitätsentwürfen, in der sich die Tradition des Imperiums mit russischen Nationalismus verband“. Die Herausbildung der entsprechenden Politik- und Kulturmuster verfolgt der Münchner Ordinarius punktuell bis ins 17. und ausführlicher bis ins 18. Jahrhundert zurück. Eingebettet in die Geschichte der Expansion Russlands nach Westen Richtung Ostsee und nach Süden zum Schwarzes Meer, steht dabei die russische Politik gegenüber Polen und der Ukraine – ursprünglich ein Hetmanat der Kosaken – im Zentrum der Darstellung. Im gebotenen Umfang geht der Verfasser auf die darauf bezogenen politischen Vorgänge in den unterschiedlichen polnischen und ukrainischen Gebieten ein.
Aufmerksamkeit widmet Schulze Wessel nicht allein der politischen Ereignisgeschichte, sondern auch deren literarisch-kultureller und historiographischen Verarbeitung vor allem in Russland, denn „historisch akkumulierte Politik- und Kulturmuster“ sind für ihn ein wesentlicher Bestimmungsfaktor der aktuellen Moskauer Politik. Verkürzt könnte man sagen: Politische Erfahrungen ziehen Narrative, wenn nicht gar Mythen über diese Erfahrungen nach sich, die wiederum zukünftige Politik beeinflussen. Entsprechende Deutungsmuster haben sich, wie der Verfasser ausführt, vor allem im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und mit der Niederlage Russlands im Krimkrieg (1856) herausgebildet. Auf diese Muster beziehe sich auch Putin in Essays und Reden immer wieder. Wesentliche Zutat dieser Narrative war und ist die Präsentation Russlands als kulturell-zivilisatorischem und politischem Gegenentwurf zum Westen in wechselnden Erscheinungsformen.
Von den Stationen des von Schulze Wessel kenntnisreich und gut lesbar präsentierten historischen Durchgangs können nur einige angerissen werden. Für das erwähnte Kosaken-Hetmanat bestand die Herausforderung im 17. Jahrhundert darin, sich zwischen Polen-Litauen und Russland behaupten zu müssen. Was nicht dauerhaft gelang. 1667 wurde es in einen russischen Teil östlich des Dnipro und einen polnisch-litauischen westlich des Flusses aufgeteilt. Das Hetmanat versuchte im Zarenreich seine Autonomie zu wahren, während die russischen Machthaber danach trachteten, ihre Oberherrschaft in eine direkte zu verwandeln.
Im 18. Jahrhundert expandierte Russland. Eine Epoche, die mit Peter I. (dem Große) beginnt und mit Katharina II. (der Großen) endet. Das Zarenreich hatte Schweden als beherrschende Macht im Nordosten verdrängt, mit der Habsburgermonarchie und Preußen Polen aufgeteilt und sich damit zugleich die ukrainischen Gebiete westlich des Dnipro einverleibt. Auch das heutige Belarus gelangte so an Russland. Polen und die Ukraine waren von der politischen Landkarte verschwunden. Katharina habe sich als Herrscherin gesehen, die Russen, Ukrainer (Kleinrussen) und Belarussen (Weißrussen) „wiedervereinigt“ habe. Während sie den ukrainischen Adel gewann, indem sie die Bauern in die Leibeigenschaft drückte, hatte sich St. Petersburg mit Polen einen Unruheherd eingehandelt, wie unter anderem die Aufstände von 1830 und 1863 zeigen. Die Teilungen Polens banden die Teilungsmächte bis fast zum Ende des 19. Jahrhunderts aneinander und schränkten ihre außenpolitische Handlungsfreiheit ein.
Jenes 19. Jahrhundert war eines des nationalen Erwachsens, das auch Polen und Ukrainer erfasste. Während Polen seine Unabhängigkeit anstrebte, dachten die maßgeblichen Ukrainer eher an eine Autonomie innerhalb des Zarenreiches. Ganz anders die entscheidenden russischen Kreise: Sie strebten eine Assimilation der Ukraine an und festigten mit dem Dreiklang „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“ den ideologischen Überbau. Die Frage, ob Russland angesichts der Wirkmächtigkeit des nationalen Gedankens russische Nation oder Imperium sein wollte, war damit im Grund beantwortet. Während das Zarenreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts laut Schulze Wessel ein anationales, ja ein antinationales Imperium gewesen sei, habe es sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert „in ein nationalisierendes Imperium mit der Absicht, eine imperialistische Nation zu werden“ gewandelt.
Der Erste Weltkrieg und die russischen Revolutionen 1917 mischten die Karten neu. Polen erlangte seine Staatlichkeit zurück. 1917/18 gründete sich ein ukrainischer Staat, der im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921 jedoch schon wieder unterging. Konkurrierende Gebietsansprüche der Ukraine und Polens spielten der neuen Sowjetmacht dabei in die Hände. Die Ukrainer fanden sich am Ende in vier Staaten wieder: Sowjet-Russland, Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei. Während Polen die Erwartungen der Ukrainer an eine Autonomie nicht erfüllte, erhielten sie in der Sowjetunion zwar eine eigene Sowjetrepublik, doch eben in einer Scheinföderation. Die anfangs geförderte nationale Kulturautonomie endete, wo die Interessen der kommunistischen Staats- und Parteiführung berührt waren. Der Holodomor 1932/33 – der politisch verursachte Hungertod von knapp vier Millionen Menschen in der Ukraine – hatte dem Verfasser zufolge eine klar ethnische Komponente.
Gestützt auf den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 und die mit ihm verbundene Aufteilung Ostmitteleuropas, annektierte die Sowjetunion dort im Wesentlichen, was sie 1917/18 verloren hatte und „kehrte auf den imperialen Pfad russischer Geschichte zurück“, so Schulze Wessel. Kurz diskutiert er die vielzitierte These Timothy Snyders von den „Bloodlands“ als „eine gemeinsame Produktion von Sowjets und Nazis“. Angesichts der unterschiedlichen Motive für die knapp skizzierten Massenverbrechen hält er die Lesart Snyders für angreifbar. Eine erinnerungspolitisch bis heute nachwirkende Facette des mörderischen Geschehens sind die zwischen 1943 und 1945 von der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) verübten Massaker an Polen im Osten Galiziens und Wolhyniens und polnische Vergeltungsaktionen. Stalin gelang es am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, seine Beute aus dem Pakt mit Hitler zu behalten. Die ukrainische Sowjetrepublik war durch weitere Kriegsgewinne größer denn je und zudem ethnisch homogener. Ihre jüdische Bevölkerung war dem Holocaust zum Opfer gefallen, und Polen wurden im Rahmen der sogenannte Westverschiebung Polens massenhaft vertrieben.
In den folgenden Kapiteln geht Schulze Wessel sehr detailliert auf die Entwicklung zwischen 1945 und dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion zwischen 1989 und 1991 ein. Vor allem auf die für die Ukraine als Teil des „inneren Imperiums“ maßgebliche, im Zeitverlauf erheblich schwankende russische Nationalitätenpolitik, auf den „nationalkommunistischen“ Weg Polens als einem Teil des „äußeren Imperiums“ und die westliche, vor allem bundesdeutsche Ostpolitik. An letzterer kritisiert er die „Anhänglichkeit an die Sichtweise Moskaus“. Ihren Akteuren sei am Ende Stabilität wichtiger gewesen als der angestrebte „Wandel durch Annäherung“, der an ihrem Beginn stand.
Als eine Erkenntnis nimmt man mit, dass sowohl die direkte Herrschaft im „inneren“ als auch die indirekte, hegemoniale im „äußeren“ Imperium an Grenzen stieß. Michail Gorbačev, so die These des Verfassers, ließ Polen am Ende ziehen, weil ein Aufstand dort seine innersowjetische Reformagende zerstört hätte, also die politischen Kosten für eine Intervention zu hoch geworden wären. Hinsicht der Ukraine hatten das Streben nach einer supranationalen, sowjetischen Identität und die Russifizierungspolitik den nationalen Eigensinn eben nicht ausgelöscht. Mit Gorbačevs Reformpolitik kamen die verdrängten nationalen Themen in der Ukraine wieder auf die Tagesordnung.
Nicht allein dort. Aus dem Zerfall der Sowjetunion gingen 15 neue Staaten hervor, die unterschiedliche Wege einschlugen. Schulze Wessel vergleicht jene der Ukraine und Russlands. Beide Staaten schwankten zwischen Demokratie und Autoritarismus. In der Ukraine hielt die Zivilgesellschaft das System durch wiederholte Proteste – 2000, 2004 (Orangene Revolution) und 2013/14 (Euro-Maidan) – auf einem demokratischen Entwicklungspfad. Sie richteten sich gegen Korruption, Wahlmanipulationen und Versuche, den Weg in die Europäische Union (EU) zu vereiteln. Der Verfasser hebt die „Fundierung des neuen Staates durch revolutionären Volkswillen“ hervor – und darf sich durch die allerjüngsten Proteste für die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden bestätigt sehen.
Auch das Russland Vladimir Putins hat eine Protestgeschichte, nur das der darauf mit Repressionen antwortete, Schritt für Schritt ein autoritäres Regime errichtete und dies ideologisch mit dem Kampf gegen westliche Werte unterfütterte. Zu Recht sieht Schulze Wessel darin Analogien zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zar Alexander III., so die zugespitzte Formulierung, sei „Putins role model“. Hinsichtlich der „postsowjetischen Russen“ könne man von „einem Trauma oder einen post-imperialen Syndrom“ sprechen, das insbesondere bei Älteren zur innenpolitischen Mobilisierung taugt. „Initiativen zur Reintegration des sowjetischen Raums und speziell der drei ostslavischen Nationen“ gab es bereits unter Boris El´cin (Jelzin), und sie treffen auf einen beachtlichen publizistisch-literarischen Resonanzraum.
In der Perspektive des Kremls und wenigstens größerer Teile der russischen Gesellschaft bilden die nicht-russischen Republiken der Russländischen Föderation laut Schulze Wessel Russlands neues „inneres“ und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) das neue „äußere“ Imperium, „nahes Ausland“ mit begrenzter Souveränität. Im Schlusskapitel verweist der Verfasser noch einmal auf den bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Zusammenhang von „Außenpolitik, imperialer Herrschaft und Identität“, auf „außenpolitische Pfadabhängigkeiten […], aber auch Sinnstiftungen durch historische, philosophische und literarische Diskurse“.
All dies wird in dem Buch, um es noch einmal zu betonen, glänzend dargeboten. Die Schattenseite erschließt sich gleichsam von selbst: Hoffnungen auf einen irgendwie gearteten, tatsächlich dauerhaften Frieden, durch den die Ukraine eine substantielle Unabhängigkeit wahren könnte, scheinen auf Sand gebaut. Kurzfristig dürfte ausschlaggebend sein, wie Putin die innen- und außenpolitischen Kosten seines Kriegs kalkuliert. Mittel- und langfristig ist nach aller geschichtlichen Erfahrung damit zu rechnen, dass etwaige Waffenstillstands- oder Friedensvereinbarungen nur so lange gelten, bis der Kreml neue Gelegenheiten sieht, sein altes Ziel weiter zu verfolgen.
Auch die Vorstellung, die USA, die EU oder die NATO hätten durch eine andere Politik in den 1990er und 2000er Jahren Russland sicherheitspolitisch zufriedenstellen und zugleich (!) das ungeschmälerte Selbstbestimmungsrecht der Ukraine sichern können, erscheint vor dem Hintergrund des großen historischen Panoramas als zu kurz gegriffen. In den letzten knapp drei Jahrzehnten mögen Anlässe für die jüngsten Kriege Russlands entstanden sein, die Ursachen liegen tiefer. Das Tabu ist aus Kreml-Perspektive die Anbindung der Ukraine an den Westen, das Ziel bleibt die Kontrolle über die Ukraine in allen Fragen, die Moskaus Interessen berühren.
Nichts wäre dem Rezensenten lieber, als in diesem Punkt zu irren. Geschichte hält zuweilen auch positive Überraschungen bereit. Möglicherweise wird Russland durch Einsicht in die Grenzen seiner machtpolitischen Möglichkeiten und deren Annahme auch vom „Fluch des Imperiums“ befreit. Ohne diese Grenzen aufzuzeigen, wird das jedoch kaum gehen. Und wetten sollte man auf ein solches Szenario nicht.
Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums: Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte, München: C.H. Beck Paperback 2025, 352 Seiten, € 18 (Eine gebundene Auflage ist bereits 2023 erschienen)
