Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof?

wladimir putin präsident von russland der rote platz, Quelle: Joenomias, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Entgegnung auf eine Tiroler Stimme zu Selbstbestimmung und Minderheiten(schutz) der Ukraine

Ein Südtiroler  Abgeordneter, dessen Name hier nichts zur Sache tut, befand unlängst in einer Aussendung, der von Russland(s Präsident) gegen die Ukraine geführte Krieg wäre vermieden worden, wenn die zugrundeliegenden Konflikte um die Krim sowie die Ost-Ukraine durch Anwendung des in Art. 1 der Menschenrechtspakte verankerten Selbstbestimmungsrechts friedlich gelöst worden wären. Und zwar dadurch, dass „man einfach die dort lebende Bevölkerung in einer demokratischen Abstimmung gefragt hätte, was sie will und den ethnischen Minderheiten umfangreiche Schutzmaßnahmen angeboten hätte.“

Dazu ist nüchtern festzustellen:

Die Bevölkerung der Ukraine hat sich im Dezember 1991 in einem klaren Akt international anerkannter Selbstbestimmung für die staatliche Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Souveränität ihres Landes ausgesprochen. Diese Selbstbestimmung war den Vorfahren des besagten Abgeordneten  nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg verweigert worden  – und wird den Südtirolern auch heute nicht zugestanden! Zwischen Lemberg/Lwiw/Львів im Westen und Lugansk/ Луганск im Osten, zwischen Tschernigow/Чернигов im Norden und Sewastopol /Севастополь auf der Halbinsel Krim/ Крымский полуостров im Süden  votierten am 1. Dezember 1991 in der diesbezüglichen Volksabstimmung (bei einer Beteiligung von 84,18 Prozent) 92,26 Prozent aller 37.885.555 Stimmberechtigten für die Souveränität der Ukraine.

Auch die Abstimmungsberechtigten in der Ost-Ukraine, wo ethnische Russen die Bevölkerungsmehrheit bilden, stimmte mit überwiegender Mehrheit dafür: So in den Verwaltungsgebieten (Oblasti/области) Donezk / Донецк (83,90 Prozent; Wahlbeteiligung 64 Prozent) und Lugansk / Луганск (83,86 Prozent; Wahlbeteiligung 68 Prozent) sowie auf der (2014 von Russland einverleibten) Krim/Крым (54,19 Prozent; Wahlbeteiligung 60,0 Prozent). Die Halbinsel hatte in der Ukraine den Status einer autonomen Republik.

Das Selbstbestimmungsrecht war damals ebenso unbestritten ausgeübt worden, wie es Schutzmaßnahmen für die ethnischen Minderheiten gegeben hat. Neben den zehn größten Volksgruppen (Ukrainer 72,7 Prozent; Russen 17,3 Prozent; Rumänen/Moldauer 0,8 Prozent; Weißrussen 0,6 Prozent; Krimtataren 0,5 Prozent; Bulgaren 0,4 Prozent; Magyaren 0,3 Prozent; Polen 0,3 Prozent; Juden 0,2 Prozent; Armenier 0,2 Prozent) gibt es noch kleinere Minderheiten, die weniger als 100.000 Köpfe zählen, darunter Griechen, Zigeuner, Aserbaidschaner, Georgier und Deutsche.

Ganz offensichtlich haben weder Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, noch Volksgruppen-Schutzmaßnahmen  den nunmehr von Präsident Wladimir Putin  vom Zaun gebrochenen Krieg, den er und seinesgleichen beschönigend „Spezialeinsatz in der Ukraine“ nennen,  offensichtlich nicht vermieden. Putins geopolitische Motive rühren von  seinem russo-zentristischen Geschichtsbild her, welches der Ukraine die Eigenständigkeit als Nation und Staat a priori abspricht. Dies hat er in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar 2022  aus Anlass des Einmarschs unmissverständlich dargelegt. ( Обращение Президента Российской Федерации,  21 февраля 2022 года, Москва, Кремль / https://www.antispiegel.ru/2022/praesident-putinskomplette-rede-an-die-nation-imwortlaut/ )

Putin – ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof?

Wladimir Wladimirowitsch Putin / Владимир Владимирович Путин  tritt mit seinem völkerrechtlich geächteten Angriffskrieg das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen. Dafür müsste er sich eigentlich verantworten. So wie sein südslawischer „Bruder“ Slobodan Milošević / Слободан Милошевић wegen der Angriffskriege der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) weiland gegen Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und das Amselfeld/Kosovo polje (diesfalls sogar verbunden mit dem Delikt des Völkermords).

Forderungen nach Putins Verantwortung vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag sind längst lautgeworden. Jüngst hat sich der britische Premier Boris Johnson in diesem Sinne vernehmen lassen. „Was wir schon jetzt von Wladimir Putins Regime gesehen haben bezüglich der Nutzung von Kampfmitteln, die sie bereits auf unschuldige Zivilisten abgeworfen haben, das erfüllt aus meiner Sicht bereits vollkommen die Bedingungen eines Kriegsverbrechens“, sagte er  im Unterhaus, dem Parlament. Johnsons  Regierungssprecher fügte hinzu, formal sei es Sache internationaler Gerichte, die Frage möglicher Kriegsverbrechen zu klären. Tatsächlich hat der IStGH bereits angekündigt, dies vorzunehmen. Am 28. Februar, unmittelbar nach Beginn des Einmarschs,  kündigte Chefermittler Karim Khan bereits an, der IStGH werde „so schnell wie möglich“ eine Untersuchung zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine in Gang setzen. Es gebe „hinreichende  Gründe für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden“. Vor Ermittlungsbeginn  war noch die erforderliche richterliche Zustimmung notwendig.

Prinzipiell ermittelt der IStGH  nicht gegen ein Land, sondern gegen einzelne Staatsangehörige. Im vorliegenden Fall würden sich die Ermittlungen auf mögliche Verbrechen aller Kriegsparteien richten. Doch ob es tatsächlich zu einer Anklage sowie einem Verfahren gegen Putin et alii kommen wird, ist recht fraglich. Weder Russland noch die Ukraine gehören zu den 123 Unterzeichnerstaaten des sogenannten Römischen Statuts vom 17. Juli 1998, auf dem die Zuständigkeit des IStGH beruht; trotzdem kann ermittelt werden.

Russland hatte das Statut seinerzeit zwar unterzeichnet, es aber nicht ratifiziert. 2016 zog es seine Unterschrift wieder zurück; offenbar wollte es bereits von der damaligen Chefanklägerin des IStGH angedeuteten Ermittlungen wegen der Annexion der Krim (2014) sowie der Involvierung in die Ausrufung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch dortige russische Separatisten (2014) ebenso aus dem Weg gehen wie es sich damit vorsorglich gegen mögliche Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem Einsatz seiner Luftwaffe in Syrien wappnete.

Indes könnten die Vereinten Nationen (UN) eigens einen Ad-hoc-Strafgerichtshof – analog dem UN-Kriegsverbrechertribunal („Haager Tribunal“) in der Causa Jugoslawien (Milošević et alii) – einsetzen. Russland wird dagegen als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats gewiss sein Veto einlegen. Ob es China, ebenfalls ständiges Mitglied des Gremiums, ihm gleichtut, muss offen bleiben und hängt wohl von der weiteren Entwicklung im Ukraine-Krieg ab. Bemerkenswerterweise hat sich China, das sich für die Unverletzlichkeit der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine aussprach, in der Abstimmung über die Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Verurteilung Russlands wegen des Ukraine-Kriegs der Stimme enthalten.

Grundsätzlich kann vor dem IStGH  jeder angeklagt werden, auch Staatschefs, da es vor diesem Gericht keine wie auch immer geartete Immunität gibt. Milošević, ehedem Präsident Serbiens, war das erste vormalige Staatsoberhaupt, gegen das ein internationales Gerichtsverfahren geführt wurde. Er war vor besagtem, eigens wegen der Jugoslawien-Kriege eingeführten „Haager Tribunal“ wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermords  angeklagt. Ebenso General Ratko Mladić / Ратко Младић, Kommandeur der bosnisch-serbischen Armee und Hauptverantwortlicher für das Massaker von Srebrenica 1996; er wurde 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt. Dasselbe gilt für  Radovan Karadžić / Радован Караџић, den einstigen Präsidenten der Republika Srpska in Bosnien-Herzegovina,  der 2019  wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.  Miloševićs wurde man indes nur habhaft, weil ihn der (später ermordete) serbische Regierungschef Zoran Djindjić / Зоран Ђинђић festnehmen und nach Den Haag ausliefern ließ. Doch vor seiner Verurteilung starb Milošević  2006  in Haft.

Gegen einen amtierenden Staatschef wurde indes erst einmal ein internationaler Haftbefehl vom ISTGH erlassen: 2009 gegen den Sudanesen Omar al-Baschir. Er wurde trotz entsprechender Zusage der sudanesischen Regierung (2020) bis heute nicht ausgeliefert. Umso weniger müssen Putin und/oder andere am Militärschlag gegen die Ukraine Hauptbeteiligten  fürchten, von Moskau als Kriegsverbrecher nach Den Haag ausgeliefert zu werden.

Finanzen

Über Reinhardt Olt 33 Artikel
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt war seit 1. November 1985 politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1. September 1994 bis zu seinem Ausscheiden am 31. August 2012 mit Sitz in Wien deren politischer Korrespondent für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. In der FAZ hat er die meiste Zeit seines beruflichen Wirkens zugebracht; daneben nahm er Lehraufträge an deutschen und österreichischen Hochschulen sowie in Budapest wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen. 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundespräsident verlieh ihm im gleichen Jahr den Titel Professor. 2004 wurde er als erster von diesem mit dem "Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt"; ebenfalls 2004 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.) sowie Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Geboren wurde Olt 1952 als Sohn eines Bauern im Odenwald. Sein Abitur bestand er 1971 in Michelstadt. Nach Ableistung des Wehrdienstes studierte er Germanistik, Volkskunde, osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Freiburg und Gießen bis zur Promotion 1980. Es folgte an der Universität Gießen eine Assistententätigkeit. Dann begann 1985 seine Zeit in der FAZ.