Mit ihrem müden Europawahlkampf haben die demokratischen Parteien eine riesige Chance verpasst

Europafahne, Foto: Stefan Groß

Frage nach Europa und Du kriegst als Antwort ein großes Gähnen. Selten war ein Wahlkampf langweiliger als der diesjährige um Europa. Wir schreiben das Jahr 2019, die Europäische Union wankt von Krise zu Krise. Die Parteien indes verschlafen die große Chance, in dieser Situation wieder Lust auf Europa zu entfachen. Zehntausende Plakate, Millionen Flyer sowie teure Werbespots – alles für die Katz?

Dabei geht es im Europawahlkampf um Etwas. Nämlich um über eine halbe Milliarde Menschen in (noch) 28 Ländern. Es geht darum, wie deren Zukunft aussehen soll. Vereinigte Staaten von Europa? Ein Europa der Nationen – oder der Regionen?

Sicher, dieser einzigartige Staatenverbund vom Nordkap bis Neapel und von Portugal bis Polen ist eigentlich ein Erfolgsmodell. Doch wie bei jedem Haus, das man lange bewohnt, kommt irgendwann unweigerlich der Zeitpunkt für eine Renovierung. Und zwar nicht nur mit Tünche, sondern mit Kräftigung der Grundmauern. Europa braucht neue Fundamente: ein starkes Parlament, Zügigkeit bei Entscheidungen, ausgewogene Balance zwischen Zentralismus und Regionalität. Das alles befindet sich im Wanken.

Im Handbuch jeden Krisenkommunikationsmanagers steht, dass es in herausfordernden Zeiten wichtig ist, die Themenführerschaft zu erlangen. Im Falle Europas heißt das: wer den Diskurs über die europäische Malaise anführt, der hat Einfluss darauf, wie es in der EU weitergeht und wohin die Reise unseren Kontinent führen wird.

Joachim Gauck hat als Bundespräsident gesagt: „Mehr Europa fordert mehr Mut von allen.“ Doch anstatt beherzt in die von schrillen Populisten angeheizte Debatte einzugreifen, scheinen die demokratischen Parteien weitgehend in Mutlosigkeit verfallen zu sein. Das ist kein besonders gutes Rezept gegen die Lautsprecher dieser Welt, die Halbwahrheiten zur Realität erklären und aggressiv Falschmeldungen streuen, um Menschen zu verunsichern.

Der selbständige Politikberater Johannes Hillje (Buch: „Plattform Europa“) hat darauf hingewiesen, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen hinter der EU-Mitgliedschaft stehe. Aber: gleichzeitig wünscht sich eine Mehrheit klare Reformen. „Diese Veränderungsbotschaften fehlen auf den Plakaten,“ kritisiert Hillje zu Recht. Stattdessen dominieren Plattitüden. #europaistdieantwort twittern die einen. „Sicherheit ist nicht selbstverständlich“, posten belehrend die anderen. Banalitäten anstatt Begeisterung.

Nur zu kommunizieren, dass die EU eine tolle Sache ist – das genügt nicht, um fanatischen EU-Hassern und antieuropäischen Hetzern beizukommen. Denn die zielen ihre spitzen Slogans direkt ins Herz der Menschen: „Geht’s noch Brüssel?“ Das appelliert an festsitzende Vorurteile und weckt schwer wieder einfangbare negative Emotionen.

Trotz überwiegender millionenfacher EU-Sympathie gibt es immer mehr Menschen, die mit „Brüssel“ wenig anfangen können. Es ist ein Grummeln im Bauch. Dieses Unwohlsein empathisch aufzugreifen und mit Begeisterung und Frische für neue Europakonzepte zu werben, wäre besser gewesen als die Verabreichung von Schlaftabletten.

Die nächsten fünf Jahre werden darüber entscheiden, welchen Platz wir Europäer künftig zwischen den schwierigen Weltakteuren USA, China und Russland einnehmen werden. Die Europäische Union muss enorme länderübergreifende Herausforderungen schultern. Klimawandel, Migrationsbewegungen, Folgen der Globalisierung und mehr. Das wird schwierige erklärungsbedürftige Entscheidungen erfordern.

Gelingen kann das Projekt Europa nur, wenn die Menschen mitziehen. „Europa wächst nicht aus Verträgen. Es wächst aus den Herzen seiner Bürger. Oder gar nicht.“ Das sagte der einstige Bundesaußenminister Klaus Kinkel. Um die Herzen der Europäer zu erreichen bedarf es eines Neustarts in der Europäischen Union.

Die demokratischen Parteien in Deutschland haben die Chance verpasst, breite Teile der Bevölkerung in das Ringen um die Zukunft Europas einzubeziehen, wie es der französische Staatspräsident Emmanuel Macron zum Beispiel mit der Einrichtung von Bürgerkonsultationen vorgeschlagen hat. Leider. Schade.

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„Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine.“ Hans-Dietrich Genscher, Liberaler +++ „Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne Frieden nichts.“ Willy Brandt, Sozialdemokrat +++ „Wer an Europa zweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“ Jean-Claude Juncker, Konservativer