Péter Nádas Parallelgeschichten

Die Unverhülltheit menschlicher Gefühle oder Auf der Suche der wahren Welt hinter dem Schein

„Es ist mir das Gleiche, woher ich ausgehe; denn dort werde ich auch ankommen.“ Dieses, dem Roman vorangestellte Zitat des griechischen Philosophen Parmenides, drückt in einem Satz den Duktus des epochalen Opus Maximus von Péter Nádas aus. Der ungarische Autor hat sich in seinen „Parallelgeschichten“ wirkungsvoll der Denkweisen dieses Vorsokratikers bedient. Denn genau wie Parmenides geht es Nádas darum, die Alltagswahrnehmung der Welt als eine Scheinwahrheit aufzudecken, während die wirkliche Welt ein unveränderliches, ungeschaffenes, unzerstörbares Ganzes sei. 18 Jahre schrieb der ungarische Autor an diesem Dickicht aus Lebensgeschichten, die in ein globales Ganzes eingewoben sind. Der Leser trudelt aus dem Berlin der Wendezeit, nach Budapest ins Jahr 1961, fällt zurück in grausam-erschütternde Schilderungen der letzten Tage des 2. Weltkrieges oder findet sich gar in der k. u. k.-Zeit Österreich-Ungarns wieder. Als „gehörten zu jeder Einzelheit weitere hundert Einzelheiten, als erheische jeder Satz eine Erklärung und als enthülle er mit jeder Erklärung ein hochbrisantes Geheimnis, während er seine eigenen Geheimnisse für sich behielt.“ Alle Personen, die auf latente Art durch ihre Vergangenheit miteinander verbunden zu sein scheinen, leiden an unterschiedlich ausgeprägten Arten von Verfolgungswahn. Ihr zwanghaftes Sichverstecken, ihre berechtigte oder ungerechtfertigte Angst oder Rastlosigkeit haben nur ein Ziel: den Wunsch nach Spurenlosigkeit, spurlos unter den Menschen zu verschwinden. Dabei ist der Tod immer allgegenwärtig. Sei es der gleich zu Beginn des Romans von einem jungen Mann gefundene Tote, die Verbrennenden eines hektisch aufgegebenen Konzentrationslagers oder aber die Niedergeknüppelten des ungarischen Aufstands von 1956.
Ein weiteres wichtiges Augenmerk richtet Péter Nádas auf Körperlichkeiten, gepaart mit einem sensiblen olfaktorischen und visuellen Gespür. Manche Beschreibung rund um das männliche Geschlechtsorgan oder aber die minutiöse Beschreibung eines Beischlafes über 70 Seiten mögen den Leser irritieren. Allerdings gleiten sie niemals ins Pornographische ab, sondern gleichen eher einer Offenlegung tabuisierter Ästhetik: Lust und Schmerz als Einheit, sich kreuzende Qualen und Glücksgefühle, „kein Unterschied mehr zwischen Innen- und Außenwelt (…) im chaotischen Reich der unbekannten Handlungen und heimlichen Antriebe“. Nádas zeichnet eine ungeheure Neugier aus, auf das, was den Menschen verbindet, „und ob das, was sie verbindet auch haltbar ist und sie vor der zähneklappernden Einsamkeit bewahrt“. Zumeist bleiben die Schicksale seiner oftmals egozentrischen Figuren im wahrsten Sinne des Wortes Parallelgeschichten. Nicht Liebe und Erfüllung wird ihnen zugegen, sondern Leere und Sehnen. Einzig Klára und Kristóf (das offensichtliche Alter Egodes Autors, bei dessen Schilderungen von der ansonsten auktorialen Form abgewichen und in die Ich-Form gewechselt wird) können sich aus dem lähmenden zwischenmenschlichen Befremden herauslösen.
„Ich trage Leute in mir, die nicht ich sind, und blicke mit ihnen in Zeiten und auf Orte zurück, die es für mich gar nie geben konnte, oder ich blicke in Zeiten voraus, die ohne mich für niemanden kommen würden.“ Péter Nádas beschreitet viele ineinander verschlungene, verkettete Pfade. Wege, die sich manchmal kreuzen, manchmal nur berühren, mal vertraut, dann wieder völlig fremd sind, letztendlich aber trotzdem von einem Menschen zum anderen hinüberführen. Er offeriert eine „Topographie der unverständlichen Sehnsüchte, der auf dieser dreckigen Erde hinterlassenen Spur gehätschelter Phantasien und unerfüllter Wünsche.“ Am besten kann man die Struktur des Romans vielleicht mit einem Film vergleichen, der manchmal reißt, dann wieder an ganz anderer Stelle aufblitzt und weiterläuft. Ein Film über das vergangene Jahrhundert, über die Menschheit, über „verflochtene Iche“.
Der Text liest sich trotz dieses Figurenkonglomerates, der mitunter mitten in einem Satz wechselnden Zeit- und Handlungsebene, ausnehmend gut. Mit ein bisschen Konzentration verliert der Leser auch niemals die Orientierung. Dies ist zu einem nicht unerheblichen Anteil das Resultat der hervorragenden Übersetzung durch Christina Viragh, die dafür völlig zu Recht den Preis der Leipziger Buchmesse 2012 erhielt. Ihre kongeniale Übertragung erhält die feinen Spannungen und Schattierungen des Tonfalls, das „Summen und Rauschen der klatschenden Erfülltheit, Leere, Dichte, Fläche der Welt“, mit der der Autor das epochale Werk durchzogen hat. Vielleicht sollte sich der Leser ganz auf die Fühler seiner Fantasie verlassen, um die situativen Wechsel einer Szene „unbeschadet zu überstehen“. Wer allerdings „ungeschützt“ in diesen literarischen Koloss hineinsieht, gerät unweigerlich in ein Labyrinth, aus dem er, wenn er nicht aufpasst, nicht wieder herausfindet. Denn: „So viele aufeinanderfolgende, sich berührende Veränderungen vermag der Blick nicht aufzunehmen. Und das Bewusstsein schnappt leer nach Luft, wenn es über der schaurigen Tiefe nichts zum Erfassen hat.“
Péter Nádas' „Parallelgeschichten“ zeigen die „Schönheit und Schrecklichkeit der zwischenmenschlichen Osmosen, des Identitätstausches und der wechselseitigen Zersetzung“. Es ist ein Buch, das den Zusammenhang zwischen dem Individuellen und Geschichtlichen erspürt. Ein Buch, das das Fühlen und Denken gleichermaßen anregt. Denn vielleicht ist das ganze Leben nichts anderes als eine spezifische Sinnestäuschung, da „sich die Welt in noch sovielfältiger und reichhaltiger Gestalt präsentieren mag, sie ist letztlich doch einfach ein Gesamt, ein Haufen immer gleicher Materialien…“ Oder um noch einmal mit Parmenides zu sprechen: „Das Sein ist ungeworden, und unzerstörbar … es war nicht und wird nicht sein, denn im Jetzt ist es als Ganzes, Zusammenhängendes.“

Péter Nádas Parallelgeschichten
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Titel der Originalausgabe: „Párhuzamos történetek“
RowohltVerlag, Reinbek bei Hamburg (2012)
1728 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3498046950
ISBN-13: 978-3498046958
Preis: 39,95 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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