Sexualität und Ehre. Der Film „India’s daughter“ zeigt Denkmuster auf, die auch tief in unserem eigenen Kulturkreis verwurzelt sind

Weltweit hat das Erscheinen von Leslee Udwins Film „India’s daughter“ Furore gemacht. Die Dokumentation schildert die drei Jahre zurückliegende Vergewaltigung und bestialische Ermordung der indischen Physiotherapie-Studentin Jyoti Singh durch eine Gruppe von sechs jungen Männern in einem Kleinbus in Delhi. Die britische Regisseurin nennt die Produktion ihr „Geschenk an Indien“ und vertritt mit der filmischen Aufarbeitung des Falles die Stimmen von Millionen nicht nur indischer Frauen, die unterdrückt, als unwert angesehen, in ihren Rechten, Freiheiten und Möglichkeiten eingeschränkt werden – und Drohungen von Seiten ihrer männlichen Familienmitglieder ausgesetzt sind, die bei „Fehlverhalten“ nicht selten in Misshandlungen oder gar Mord gipfeln. Fehlverhalten, das ist nach Aussage eines der im Film interviewten Vergewaltiger, sich als Frau noch um 21 Uhr auf der Straße rumzutreiben, Discos oder Bars zu besuchen, die falschen Klamotten zu tragen: denn Frauen gehörten ins Haus. Der Anwalt der Vergewaltiger äußerte wie selbstverständlich, dass er weibliche Familienmitglieder, die vorehelichen Sex hätten, mit Benzin übergießen und anzünden würde.
In Indien wurde die Ausstrahlung der Dokumentation, die am Internationalen Frauentag herauskam, von Staatsseite umgehend verboten, thematisiert sie doch all jene Missstände, die in den konservativen indischen Gesellschaftsstrukturen begründet liegen. Das traurige Schicksal der jungen Jyoti Singh führt uns aber auch Rollenbilder und Moralvorstellungen vor Augen, die nicht auf einen bestimmten Kulturkreis beschränkt, sondern seit Jahrtausenden tief verwurzelt im patriarchalen Denken sind und sich in gewisser Hinsicht kaum verändert haben.


Die weibliche Sexualität galt schon in der griechisch-römischen Antike als etwas, das kontrolliert werden musste, denn sie war ideologisch eng verbunden mit der Ehre und dem Wohlergehen von Staat und Gesellschaft. In Rom hüteten sechs jungfräuliche Priesterinnen der Göttin Vesta das heilige Herdfeuer, das symbolisch für ein gesundes Gemeinwesen stand und, um dessen Fortbestand zu garantieren, permanent brennen musste. Die Keuschheit der Vestalinnen wurde gleichgesetzt mit der Unantastbarkeit Roms, so wie auch Roma, die Stadtgöttin, als Jungfrau in Rüstung dargestellt wurde, bereit, ihren Körper und damit ihre Ehre mit Waffen zu verteidigen. Für Familien galt es als hohe Auszeichnung, wenn eine Tochter Vesta-Priesterin werden durfte, und das Amt war mit nicht unbedeutenden Privilegien verbunden. Die Mädchen, die schon als Kinder auf 30 Jahre zu Vestalinnen ernannt wurden, hatten dabei kein Mitspracherecht. Das Priesteramt unterlag strengen Regeln und eine Vestalin, die ihre Jungfräulichkeit verlor, wurde umgehend hingerichtet, indem sie lebendig begraben wurde. Wie praktisch, dass Mann Unglücke oder militärische Niederlagen auf ein Fehlverhalten der Vesta-Priesterinnen zurückführen konnte – schließlich passierten derartige Katastrophen nach römischem Glauben nur, wenn die Unschuld einer Vestalin angetastet wurde oder das heilige Herdfeuer erlosch. So konnten sich zum Beispiel unfähige Feldherren von jeglicher Schuld freisprechen und stattdessen alles auf die Vestalinnen schieben, die sich ganz offensichtlich nicht tadellos verhalten und somit die Kriegsniederlage verursacht hätten.


So wie die Jungfräulichkeit der Vesta-Priesterinnen als Voraussetzung für das Fortbestehen Roms im Großen angesehen wurde, stand im Kleinen die Treue und sexuelle Reinheit einer jeden Ehefrau für das Ansehen und Wohlergehen der Familie. Während Ehemänner sich mit Sklavinnen oder bezahlten Prostituierten nach Lust und Laune vergnügen konnten, galt außerehelicher Geschlechtsverkehr bei Frauen als Schande für die ganze Familie. Bis ins 1. Jh. v. Chr. war es noch gesetzlich festgelegt, dass das männliche Familienoberhaupt selbst darüber entscheiden durfte, wie mit Ehebrecherinnen zu verfahren sei. Konnten zu dieser Zeit römische Männer die ihrer Meinung nach gebührende Strafe, auch eine Hinrichtung, innerhalb der Familie selbst ausführen, greifen heute in Indien manche Väter, Brüder und Ehemänner zu Benzinflasche und Feuerzeug, um Frauen der Familie, die vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr hatten, auf grausamste Weise bestrafen. Stets sind die Männer diejenigen, die das Verhalten der Anderen, der Frauen bewerten, und die deren Ausbruch aus der von ihnen vorgegebenen Rolle bestrafen. Sie legen fest, was sich für eine Frau gehört und was nicht, und wie mit einer Frau zu verfahren sei, die sich den Regeln widersetzt. Selbstjustiz ist dabei – weder in der Antike noch heute in manchen Gesellschaften – keine Seltenheit.


Schon in der Antike waren Frauen ideologisch an Haus und Herd gebunden; sie wurden als das körperlich und intellektuell schwache Geschlecht betrachtet, waren deshalb in ihren Rechten eingeschränkt und unterstanden stets der Vormundschaft von Männern – erst der ihres Vaters, nach der Hochzeit der ihres Ehemannes –, die bestimmte Entscheidungen in ihrem Namen trafen. Frauen hatten das Haus zu hüten und die Arbeiten drinnen zu verrichten, so der römische Autor Columella, während die Männer sich den anstrengenden und anspruchsvollen Aufgaben wie Feldarbeit, Kriegsdienst und Politik widmeten. Vor allem die Textilarbeit, das Spinnen von Garn und das Weben von Stoffen, war eine typisch weibliche Tätigkeit und wurde zur Chiffre für die moralische Integrität der Frau: Zu Hause Wolle spinnen hieß, sich nicht draußen rumzutreiben und andere Männer zu treffen. Auf römischen Grabsteinen wurde deshalb die Wollarbeit oft neben anderen Tugenden der Verstorbenen aufgelistet: „Hier liegt Amymone, Frau des Marcus, die beste und schönste, fleißig bei der Wollarbeit, pflichtbewusst, sittsam, ordentlich, anständig und häuslich“, ist auf einer Grabinschrift aus Rom zu lesen. Wolle als Material war Teil verschiedener Hochzeitszeremonien, welche die Frau symbolisch an den Mann „binden“ sollten. Spindeln wurden, zusammen mit Spiegeln, Kämmen und Parfümfläschchen, häufig bildlich als typisch weibliche Attribute dargestellt. Und im Atrium, der Eingangshalle römischer Häuser, wurden nicht nur Statuen der Hausgötter und Bildnisse der eigenen Vorfahren verehrt, die Ehrerbietung und den Stolz auf die eigene Herkunft ausdrückten, sondern auch manchmal ein Webstuhl als Symbol der Tugendhaftigkeit der Hausfrau ausgestellt. Auch in der römischen Kaiserzeit, als Textilien in Betrieben produziert wurden und man längst nicht mehr auf die heimische Eigenproduktion angewiesen war, blieb die Wollarbeit mit dem Image der treuen Gattin verbunden.


Als Paradebeispiel der guten Ehefrau galt bei den Römern Lucretia, eine Figur aus der mythisch-historischen Frühzeit Roms, deren Geschichte uns in den Werken von Ovid, Livius und Tacitus überliefert ist: Ihr Mann Collatinus war eines Abends mit anderen Männern unterwegs und, vielleicht in der Hitze Alkohols, schlossen sie eine Wette darüber ab, wer wohl die beste Frau habe. Als die Männer zu später Stunde im Heim des Collatinus eintrafen, wo sich alle Ehefrauen gemeinsam aufhielten, fanden sie Lucretia bei der Wollarbeit vor, während die anderen Frauen ausgelassen feierten und tranken. Alkoholkonsum gehörte sich für Frauen nicht, war er doch ein Zeichen von Disziplinlosigkeit, Kontrollverlust und stand damit auch für sexuelle Verfügbarkeit; Lucretias tadelloses Verhalten dagegen machte Collatinus zum strahlenden Wettsieger. Unglücklicherweise wirkte die tugendhafte Lucretia überaus anziehend auf Sextus Tarquinius, den Wettkumpanen des Collatinus und Sohn des amtierenden Königs. Sie reagierte jedoch nicht auf seine Avancen, und angestachelt von ihrer keuschen Zurückhaltung vergewaltigte er sie. Lucretia ließ das Ganze über sich ergehen, weil Sextus Tarquinius ihr andernfalls androhte, sie anschließend umzubringen und ihren nackten Körper neben den eines toten Sklaven zu legen, damit es so aussehe, als habe sie Ehebruch begangen. Da der Ehebruch auch nach ihrem Tod einen solchen Ehrverlust für Lucretia und eine Schande für ihre gesamte Familie bedeutet hätte, ließ sie lieber die Vergewaltigung mit sich geschehen, um wenigstens in der Lage zu sein, ihrem Ehemann und Vater anschließend den wahren Sachverhalt schildern zu können. Beide Männer sprachen Lucretia von aller Schuld frei, dennoch nahm sie sich am Ende das Leben, um das Image ihrer Familie wieder reinzuwaschen. Sextus Tarquinius wurde aufgrund seiner Tat von einem Mob römischer Bürger umgebracht, deren Zorn sich auch noch gegen seinen Vater richtete, der ein ohnehin ungeliebter Tyrann war; dessen Tod bedeutete das Ende der Alleinherrschaft und läutete die neue Staatsform der Republik (ab 509 v. Chr.).


Lucretia wurde in der römischen Literatur deshalb als Figur des Widerstandes gegen den Unterdrücker und als Inbegriff weiblicher Tugendhaftigkeit angeführt; gleichzeitig wurde ihr Selbstmord als Ausdruck einer geradezu männlichen Entschlusskraft bezeichnet. Die Geschichte ist symptomatisch für die z.T. immer noch aktuellen Zuschreibungen geschlechterspezifischen Idealverhaltens: Eine Frau wird über ihre Sexualität definiert, der voreheliche Verlust ihrer Jungfräulichkeit oder die – ob willentliche oder unfreiwillige – Verletzung ehelicher Treue macht sie wertlos, ja sogar zu einem Schandfleck für die Familie. Nur durch den Tod der Ehebrecherin kann diese Ehrverletzung beglichen werden. Eine Frau war schmückendes Beiwerk des Mannes, sie konnte sein Ansehen durch ihre Tugendhaftigkeit mehren oder aber seinem Ruf durch Fehlverhalten schaden. Ob eine Frau moralisch tadellos war, ließ sich nach Vorstellung der Römer an ihrem Äußeren und ihrem Verhalten ablesen – angemessene Kleidung, zurückhaltendes Auftreten und Fleiß bei der Wollarbeit drückten Treue und Keuschheit aus. Wenn die Vergewaltiger Jyoti Singhs das ihrer Meinung nach für Frauen unangemessene Verhalten ihres Opfers als Rechtfertigung für ihre Tat anführen, bedienen sie sich exakt derselben Vorstellungswelt. Und sie sprechen den Frauen jegliche Selbstbestimmung ab – selbst wenn sie aus einem liberalen Haushalt stammen. Jyotis Eltern hatten, was in Indien nicht üblich ist, die Geburt des Mädchens wie die eines Jungen gefeiert und ihre Tochter in ihrer Ausbildung mit allen Mitteln unterstützt, um ihr ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Aber Jyotis Lebensweise, und die Liberalität ihrer Eltern, wurden von Fremden gerichtet.


Eine Frau, die aufgrund ihres Kleidungsstils und ihres Verhaltens als unanständig gilt, den Schein der Jungfräulichkeit und somit in den Augen Anderer ihren Wert als Mensch verloren hat, ist in vielen modernen Gesellschaften schutzlos männlicher Willkür ausgesetzt. Sie läuft nicht nur Gefahr, von den eigenen Familienmitgliedern bestraft zu werden, sondern gilt fremden Männern als sexuell frei verfügbar. Die Schuld wird dementsprechend immer bei der Frau gesucht: „Hätte sich sie sich anständig verhalten, wäre das nicht passiert.“ Fälle wie die Gruppenvergewaltigung in Delhi sind deshalb nicht nur als grausame Akte der Bestrafung für ungebührendes Verhalten zu verstehen, sondern haben zusätzlich die Ursache in der furchtbaren Überzeugung, dass jeder Mann mit „unehrenhaften“ Frauen nach eigenem Gutdünken verfahren könne. Dass viele Vergewaltigungsfälle unaufgedeckt bleiben und die indische Justiz manche Mehrfachvergewaltiger nur für eine einzige Tat zur Rechenschaft zieht, stärkt nur den Irrglauben solcher Männer, das Richtige zu tun. Immerhin im Fall Jyoti Singhs, und auf massiven Druck der Öffentlichkeit, werden die Täter für ihr Verbrechen gestraft.


Die in diesem Artikel geschilderten antiken Rollenbilder galten für Frauen der Oberschicht – der Alltag arbeitender Frauen und Sklavinnen, die ja Besitz anderer waren, sah natürlich ganz anders aus und konnte sich nicht mit den Idealen der wollespinnenden Ehefrau decken. Und wir kennen aus der römischen Literatur auch prominente Beispiele emanzipierter Frauen, die nicht spinnend zu Hause saßen, von erfolgreichen Geschäftsfrauen, angesehenen Vestalinnen und einflussreichen Kaiserinnen. In der römischen Kaiserzeit hatten freie Frauen weitaus mehr Privilegien als noch zur Zeit Lucretias. Dennoch sind die Ideale und Rollenbilder auf dem Papier und in den Köpfen der Männer immer gleich geblieben. Sie sind uns aus der lateinischen Literatur überliefert, die überwiegend von Männern für Männer geschrieben wurde. Und eben solche konstruierten Rollenbilder, die sich nicht mehr mit der Realität sich modernisierender Gesellschaften vereinbaren lassen, sind die Grundlage für Ehrenmorde in patriarchalen Gesellschaften auf der ganzen Welt.


Leslee Udwins Dokumentation macht nicht nur auf die Unterdrückung der Frauen in Indien, die gewaltsame Umsetzung überkommener Moralvorstellungen, die Tabuisierung von Sexualität im Land des Kamasutra aufmerksam – sie hat mich auch daran erinnert, wie alt die Gleichsetzung weiblicher Keuschheit mit der Familienehre, die moralische Bewertung und gesellschaftliche Kontrolle der Sexualität der Frau bei gleichzeitiger völliger Freiheit des Mannes sind. Der Vergleich mit der Antike zeigt, wie eng bestimmte Denkmuster auch mit unserem eigenen Kulturkreis verbunden sind. Und auch im Westeuropa des 21. Jahrhunderts wird immer noch mit zweierlei Maß gemessen: Eine Frau, die häufig wechselnde Partner hat, gilt schnell als „Schlampe“ – ein Mann, der sich wöchentlich anderweitig vergnügt, ist ein „toller Hecht“. Allerdings haben wir hier das Glück, dass solche Vorwürfe „nur“ als verbale Attacken erfolgen.


Der Fall „Nirbhaya“ (die Mutige, wie Jyoti in den Medien genannt wird) und das Ausstrahlungsverbot von Leslee Udwins Film durch die Regierung haben in Indien zu Recht landesweite Proteste ausgelöst. Wie Lucretia, zwar als Vertreterin eines konservativen Frauenbildes, durch ihren Tod zur Symbolfigur des Widerstandes gegen den Tyrannen wurde, so ist Jyoti Singh zum Leitbild der indischen Frauenrechtsbewegung avanciert. Man kann nur wünschen, dass die Demonstrationen selbst – und die zu erhoffende Aufhebung des Sendeverbots der Dokumentation – nicht nur ein Umdenken auf breiter gesellschaftlicher Ebene, sondern auch entsprechende Maßnahmen von Seiten des Staats einleiten. Einstweilen können wir mit dem Umdenken schonmal bei uns anfangen.

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