Spaltpilze – Die folgen der Identitätspolitik

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Was ist Gesellschaft und was macht sie aus? „Mit Gesellschaft im prägnanten Sinn“, so definieren  Horkheimer und Adorno und das Frankfurter Institut für Sozialforschung, „meint man eine Art Gefüge zwischen den Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen; in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von sämtlichen Mitgliedern erfüllten Funktionen, und in dem jedem Einzelnen grundsätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Masse bestimmt wird.“ Gesellschaft hat ein ökonomisches Fundament, eine organisatorische Struktur (Institutionen), ein Werte- und ein Normensystem, an das sich die Bürger zu halten haben, wenn sie keine entsprechenden Sanktionen riskieren wollen. So entstehen Kohärenz und Zusammenhalt.

In den letzten fünf Jahrzehnten haben sich diese Wirklichkeiten in einem dramatischen Masse verändert. Unauflösbar in der allgemeinen Auflösung zeigt sich nur das Individuum. Es ist die gefeierte Grösse unserer Epoche, nachdem nichts mehr übriggeblieben ist, was noch als  vorgegeben, anerkannt und akzeptiert werden könnte. Frauen und Männern können, dürfen und müssen ihr Leben selber gestalten. Das Zielwort lautet: Individualisierung. Damit gemeint ist, dass das Leben von Frauen und Männern aus gott- oder gesellschaftsgegebenen Umständen „befreit“ ist. Zwänge, wie sie früher bestanden, haben sich aufgelöst, und uns in die Verantwortung für unser eigenes Leben geworfen. Religiöse Determinationen, soziale Bestimmungen, Standesschranken, Milieugrenzen, Traditionen und eingrenzende Wertvorstellungen sind zusammengebrochen. Damit können wir unsere Lebensentscheidungen selber treffen; wir müssen es aber auch. Entsprechend  erodieren Kohärenz und normativer Konsens.

Frühere Epochen waren dadurch charakterisiert, dass sie klare Wert- und Normvorstellungen besaßen und über deren Einhaltung wachten. Gut und böse, richtig und falsch, normal und anormal: das alles war eindeutig bestimmt, und Abweichungen von den Regeln wurden   sanktioniert. So waren mindestens bis zum Beginn des 2o. Jahrhunderts, wahrscheinlich sogar bis zum Ersten Weltkrieg Autorität, gesellschaftliche Standes- und Hierarchievorstellungen, Religion und Kirche, Besitz und Erbe, Reichtum und Armut, Ehre und Unehrenhaftigkeit – um nur einige Bereiche zu bezeichnen – traditionelle Werte, die respektiert waren. Das 2o. Jahrhundert ist dann als das Jahrhundert der „Wertzertrümmerung“ in die Geschichte eingegangen.

Wir leben in der Epoche des postmodernen Pluralismus, das heisst: Heute ist alles möglich. Immer mehr Grenzen fallen; kaum gibt es sie noch. Zwischen den Kontinenten, den Supermächten, den politischen Blöcken von einst, den Nationen und Rassen brechen die Gitter und eisernen Vorhänge ein, auch zwischen den Geschlechtern, zwischen Frauen und Männern. Das mag über lange Zeiten betrachtet ein Fortschritt sein. Zunächst aber zeigen sich die negativen Folgen: Verhaltensunsicherheit, Schlamassel, Ratlosigkeit, Orientierungsprobleme, ein Mehr an psychischen Erkrankungen, Hilflosigkeit. Die zwischenmenschliche Gewalt hat zugenommen.

Wenn keine vorgegebenen Normen und Regeln mehr existieren, um das Zusammenleben a priori zu ordnen, bedarf es des ständigen Aushandelns im Gespräch, um den Alltag der Betroffenen aufrechtzuerhalten. Nichts ist mehr selbstverständlich. Die Freiheit der Akteure ist zwar ins Immense gewachsen, verlangt aber, weil sie ja nicht als solche reguliert ist, die inhaltliche Ausgestaltung, die begrenzende Rahmung und die ständige Besprechung des Möglichen. Das Politische bleibt davon nicht unbeschadet. Ulrich Beck hat darauf aufmerksam gemacht, dass unser Zeitalter des individualisierten Lebens auch die klassische Idee der Demokratie nicht unbeschadet lässt. An die Stelle ihrer repräsentativen Ordnung trete „ein individualistischer Republikanismus“, in dessen Mittelpunkt nicht mehr wie früher das soziale Ganze steht, sondern eben die Interessen und Bedürfnisse der Einzelnen. Paul Collier notiert: „Eine Ideologie des Einzelnen greift um sich, die auf Selbstbestimmung beharrt, auf Konsum abzielt und sich dabei von der Idee gegenseitiger Verpflichtungen und des Gemeinwohls verabschiedet“. Cornelia Koppetsch wirft der zeitgenössischen Soziologie vor, dass „das Auftauchen des Subjekts auf der Vorderbühne der Gesellschaft“ viele Sozialwissenschaftler dazu verleitet habe, Modernisierung einigermassen ausschliesslich als „Prozess der Herauslösung des Einzelnen aus Kollektivbindungen und Traditionen zu denken“. Damit ist alles in den Hintergrund getreten, was Gesellschaft eigentlich konstituiert. Zu den unmittelbaren Folgen gehört, dass der je persönliche Lebensstil zum Inhalt der Politik erklärt wurde und an Stelle sozialer Probleme die individualistische oder gar therapeutische Suche nach dem eigenen Wohlergehen prioritär gesetzt wurde. Dem wurde die Bezeichnung Identitätspolitik gegeben.   

Der amerikanische Philosoph Mark Lilla hat herausgearbeitet, dass diese Wendung nach innen zu einer subjektivierten Politik verleitet. Es gehe immer mehr um Selbstentfaltung, Selbstbehauptung und Selbstfindung. Somit sei  der politische Horizont junger Leute, die in dieser Atmosphäre aufwachsen, auf Themen beschränkt, die die zufällige Definition ihrer Identität betreffen. Dies habe nur konsequent zu einer narzisstische Fokussierung geführt. Nach der Wahl Trumps war ein Brief aus der Eliteuniversität Yale im Internet zu lesen: Darin wurden die Studierenden eines Ökonomiekurses informiert, dass eine seit längerem vorgesehen Prüfung kurzfristig für freiwillig erklärt werde. Der Grund: Studierende seien verstört über die Wahl Trumps zum nächsten Präsidenten. An einer anderen Elitehochschule, dem Cornell-College, sollen sich Studierende zu «cry-ins» versammelt haben, um gemeinsam das Trauma des Trump-Siegs zu lindern.

Die Folge ist, dass kollektive Fragen, soziale Wandel und das Interesse an der gesamtgesellschaftlichen Weiterentwicklung verblasst sind. Dieser egozentrierte Menschentypus passt nachgerade excellent in die globalisierte Konsumgesellschaft. Er setzt auch das zynische Credo des Neoliberalismus um: Wenn jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht. Damit ist die Spaltung der Gesellschaft durch die Überbetonung von Interessen Einzelner oder kleiner und kleinster Grüppchen vorgegeben. David Goodhart hat notiert, dass Tony Blairs Nachfolger Gordon Brown die Homo-Ehe als die grösste Errungenschaft seiner politischen Ära gepriesen habe. Das aber seien die die Interessen einer metropolitanen Mittelschicht gewesen. „Die Hausfrau aus Cornwall und der schottische Bauer waren befremdet darüber.“

Dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung an diesen Identitätsfragen nicht interessiert ist, interessiert wiederum die lauten Minderheiten nicht. Dabei wäre es wohl sinnvoll, mal wieder darüber nachzudenken, was Mehrheitsgesellschaft eigentlich heisst. Die vor kurzem so hoch geputschte MeToo-Debatte hat – entsprechend der der Zahlen des Meinungsforschungsinstituts Forsa gerade mal ein ganzes Prozent der Bevölkerung in Deutschland interessiert, also satte 99 Prozent überhaupt nicht. Die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung hat nicht nur kein Interesse an identitätspolitischen Fragen, sondern ist inzwischen zunehmend abgestossen, empört und frustriert. Das gilt zum Beispiel für neue Rechtschreibungsregeln, für die Säuberung der Sprache oder die neue political correctness und den damit verbundenen Kontrollwahn. Hinzu kommen gehäuft Albernheiten, die von den tatsächlichen Problemen nur ablenken. So forderte die Feministin Lou Zucker im Neuen Deutschland „eine Obergrenze für den finanziellen Besitz von Männern“. Dassei nötig, um sexuelle Gewalt zu reduzieren, wie die „lange Liste an Superreichen, Promis und Politikern zeigt, die seit 2017 des Missbrauchs beschuldigt werden“. Man mag als symptomatisch begreifen, dass das in einer Zeitung steht, die noch vor nicht allzu langer Zeit das Zentralorgan der SED gewesen ist und die – wenn auch auf orthodoxe Weise – sich stets vordringlich um soziale Probleme gekümmert hat. 

Tatsächlich hat diese Art der Identitätspolitik zur massiven Ablenkung von den entscheidenden gesellschaftlichen Fragen geführt wie etwa die Globalisierung, die wachsende ökonomische Ungleichheit oder Tendenzen einer konservativen Wende und der Entdemokratisierung. Dem lässt sich nicht individualistisch  entgegen treten, sondern nur mit kollektiver Anstrengung und Solidarität. In diesem Zusammenhang beklagt Michael J. Sandel die fehlende Empathie derer, die in identitätspolitischen Luxusfragen gefangen sind. Die andere Seite dieser Medaille ist, dass die  Mehrheit sich mit ihren wirklichen Problemen nicht ernst genommen fühlt. Wut über verlorene soziale Wertschätzung macht sich breit. In der Talkshow von Maybrit Illner sagt eine Verkäuferin, die drei Kinder in bescheidenen Verhältnissen grossgezogen  hat und nun mit ganzen 630 Euro Rente leben muss: „Schlimmer als die Armut ist die soziale Verachtung“.

Unsere Gesellschaft hat seit langem ein Gerechtigkeitsproblem, aber die eifrigen Anhänger der Identitätspolitik sind gar nicht mehr in der Lage, es überhaupt noch wahrzunehmen. Albert Schweitzer sah Inhumanität nicht nur im Krieg oder bei kolonialer Ausbeutung, sondern auch darin, dass „die Affinität zum Nebenmenschen“ verloren gegangen ist. Diese Affinität gehört ganz wesentlich zu den Kohärenzkoordinaten einer Gesellschaft so wie Interdependenz, Zusammenarbeit oder Solidarität.

Bearbeiteter Ausschnitt aus dem Buch: Walter Hollstein. Das Gären im Volksbauch. Verlag NZZLibro, Februar 2020