Rainer Maria Rilke – Sein Gespräch mit Gott

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Es gibt Dichter, die schreiben Verse. Und es gibt Rainer Maria Rilke – der betet mit Sprache. Nicht im liturgischen Sinn, nicht im Duktus der Katechese, sondern als einer, der das Absolute tastend umkreist. Rilke ist der stille Gottsucher unter den Dichtern der Moderne, ein Priester ohne Altar, ein Mystiker der Worte, dem der Himmel nicht fern war, sondern übervoll – so übervoll, dass er davon sprachlos wurde.

In einer Zeit, in der Gott in Europa allmählich verblasste, nicht tot, aber leiser wurde, erhob Rilke die Stimme – oder besser: das Flüstern. Er sprach nicht über Gott, sondern an ihn – als Frage, als Sehnsucht, als Gegenüber, das sich entzieht und gerade dadurch alles bedeutet. Seine Poesie ist voller Spuren des Heiligen, doch sie meidet jede Dogmatik. Rilke war kein Christ im konfessionellen Sinne, und doch durchzieht sein Werk ein geistliches Vibrieren, eine metaphysische Spannung, die größer ist als jedes System.

In den „Duineser Elegien“ ringt er mit dem Engel – jenem übermächtigen, überstrahlten Wesen, das nicht tröstet, sondern blendet. Dieser Engel ist nicht der himmlische Bote der Sonntagsfrömmigkeit. Er ist das Sinnbild des vollkommen Anderen, das den Menschen erschüttert. „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,“ schreibt Rilke – und meint damit die Erfahrung der Transzendenz, die in ihrer Reinheit fast unerträglich wird.

Auch der Tod – dieses durchlittene Zentrum seines Werkes – wird bei Rilke nicht als Ende gedacht, sondern als Übergang, als innere Wandlung. Der Tod ist nicht das Verstummen, sondern das „Hinübersein“, das Erreichen jenes „Gott-inwendig“, von dem schon Angelus Silesius sprach. Es ist kein Zufall, dass Rilke immer wieder Gestalten wie Franz von Assisi, Teresa von Ávila oder den spanischen Mystiker Juan de la Cruz reflektiert. In ihnen erkannte er Seelenverwandte: Menschen, die das Unsichtbare nicht besaßen, sondern von ihm besessen waren.

Seine Gebete an Orpheus – jene nachösterliche Sammlung von Hymnen – zeigen Rilke auf dem Höhepunkt dieser gottsuchenden Bewegung. Orpheus ist für ihn nicht nur der Sänger, sondern der göttlich inspirierte Mittler. Wie Christus steigt er hinab in die Schattenwelt, um zu retten, was zu retten ist – aber nicht mit dem Kreuz, sondern mit dem Lied. Und auch das ist Theologie: eine ohne Worte, eine, die singt, wo die Sprache endet.

Rilkes Religion ist die Religion der Stille. Kein „Credo“ hallt durch seine Verse, keine Lehre. Doch wer genau hinhört, erkennt darin ein „Sein-Lassen“, das dem östlichen Christentum näher ist als jeder Katechismus. Es ist ein kontemplatives Warten, ein tiefes Hineinhorchen in die Struktur der Welt, die bei ihm immer auch eine Theophanie ist. „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, schreibt er – und vielleicht ist Gott bei ihm genau das: der äußerste, unerreichbare Kreis, um den die Seele ihr Leben lang kreist.

Was bleibt von Rilke in unserer Zeit der Zerstreuung? Vielleicht dies: Die Erinnerung, dass Sprache heilig sein kann. Dass Dichtung nicht nur Dekoration ist, sondern Gebet. Und dass es inmitten des Lärms eine Stimme gibt, die flüstert: Du bist gemeint. Du, der du suchst – auch wenn du nicht weißt, wen.

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".